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in: Kerstin Kempker & Peter Lehmann (Hg.): Statt Psychiatrie, Berlin: Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag 1993, S. 411-413
Beiträge von Lothar Jändke, Don Weitz, Alfredo Moffatt, Peter R. Breggin, Bonnie Burstow, Wolfgang Fehse, Sylvia Marcos, Gisela Wirths, Peter Stastny, Theodor Itten, Sabine Nitz-Spatz, Thilo von Trotha, Uta Wehde

Kerstin Kempker

Persönliche Beweggründe für antipsychiatrisches Handeln

Es sind die Toten. Und so etwas wie Zufall, trotz verschiedenster Anläufe nicht dazuzugehören.

Es ist die Fortsetzung meiner Mainzer Anstaltszeit (1), fünf Monate als 'Schizophrene' auf der Geschlossenen mit Insulin- und E-Schocks und haufenweise Neuroleptika, Tranquilizern, Barbituraten und Antidepressiva. Mein hartnäckiger Wunsch, diese 'Behandlung' zu beenden, führte mich 1976 ins Schweizer 'Sanatorium Bellevue', die Edel-Klapse am Bodensee, die noch vom alten Ruhm Ludwig Binswangers zehrte und zwei Jahre nach meinem (kassenfinanzierten) Aufenthalt unter dessen Sohn, einem zerstrittenen Vorstand und durch das Ausbleiben der reichen Irren aus Übersee pleite ging.

Ich 'fand Aufnahme' auf der Geschlossenen und war in illustrer Gesellschaft. Zwei Jahre lang saß ich mit der entlaufenen Nonne aus Luxemburg, dem afrikanischen Häuptlingssohn, der angehenden Schauspielerin, dem Sterndeuter und dem Münchner Fabrikantensohn, der Germanistikstudentin aus Frankfurt und der Malerin aus den USA, der alten Dame (die ihre Möbel mitgebracht hatte) und dem Rudolf-Steiner-Verehrer (der seine Möbel zertrümmerte) in verblichenen Sofaecken im alten Gemäuer in einem noch älteren finsteren Park und tat nichts. Der süßlich-morbide Schauder, die Zauberberg-Atmosphäre, die fatale Schweizer Höflichkeit und vornehme Zurückhaltung ließen meine wiedererwachenden und von Neuroleptika kaum zu dämpfenden Lebensgeister nicht als Wut zu (Auf wen sollte ich wütend sein? Alle waren so nett und höflich), sondern nur als Selbsthass (Wer war ich denn? Was sollte ich hier?).

Ich war teuer und sinnlos. Ich war 18, schizophren und in der Schweiz, eingesperrt und abgefüttert. Nur den Schlachttermin konnte ich mir selber setzen. Und ich musste jede Chance nutzen. Versehentlich nicht zugesperrte Fenster luden zum Sprung ein, Zündhölzer zum Brennen. War das Neuroleptika-Tablett für die Station angerichtet und unbewacht, schluckte ich es leer. Hatte ich meine Begleitung abgeschüttelt, lag ich auf vibrierenden Zuggleisen oder leerte reihenweise Flachmänner.

Der Zug bremste, die Brüche heilten, aus dem Bodensee wurde ich gefischt. Aber andere sind tot. Musste Brigitte, die Goldschmiedin, in ihrer Hexenküche im Bellevue sterben? Und Jochen, der Pianist, dessen Finger unter Neuroleptika steif wurden, sich im Nebenzimmer erhängen? Warum ist Luigi, als das Bellevue schloss, vom benachbarten Hotelbalkon gesprungen? Und Edina, die das Atelier betreut hatte?

Mich erreichten die letzten Todesnachrichten aus der Schweiz in Häcklingen, der sozialpsychiatrischen Vorzeige- und Versuchs-Anstalt bei Lüneburg. Ich 'lag auf der Verhaltenstherapie', und um mich häuften sich die Toten. Meinen 'Bezugstherapeuten' – alle in Häcklingen hießen Therapeuten, unabhängig von ihrer Ausbildung – hatte ich zweimal gesehen, dann verließ er hals über kopf seinen Arbeitsplatz, weil er zu tun hatte mit Brunhilde, einer eben entlassenen Insassin, die tot im Wald gefunden wurde. So wurde gemunkelt, denn über Tote sprach man nicht. Kurz darauf erhängte sich ein Mann im Wald vor dem Haupthaus. Bei meinen Geländegängen betrachtete ich die Äste der Bäume, als sei zu erkennen, welcher es war. Und dann gab es in jeder der drei 'therapeutischen Wohngemeinschaften', die damals in Mode kamen und von den Häcklingern in Windeseile aus dem Boden gestampft wurden, eine Tote. Mit Monika, einer der Frauen, hatte ich das Zimmer geteilt. Sie hatte oft geklagt, sie werde von den Ärzten nicht ernst genommen. Sie übergoss sich mit Benzin und setzte sich in ihrer betreuten Wohngemeinschaft in Flammen. Die MitbewohnerInnen, ihrer Selbsttötungsäußerungen müde, saßen vor dem Fernseher. Wo der Kanister steht, hatten sie ihr noch gesagt. Und Pörksen, der damalige Anstaltsleiter und spätere Chef der DGSP, besucht die hochgradig Verbrannte kurz vor ihrem Tod; anschließend geht die Mär, sie habe ihm gesagt, es sei gut so, sie habe es so gewollt. Für mich ist das Zynismus, ähnlich der Bemerkung Ludwig Binswangers zum 'Fall Ellen West', wo er die Selbsttötung der von ihm zuvor als unheilbar Entlassenen kommentiert, sie sei »reif zum Tode« gewesen (2). Wer hat sie denn vom Baum geschüttelt?... Später, während meines Studiums, stieß ich auch auf ein Buch über die tolle Modellklinik Häcklingen: »Ausgrenzen ist leichter. Alltag in der Gemeindepsychiatrie«. Kritisch, widersprüchlich, streitbar und offen gibt es sich. Es ist geschrieben von der Autorengruppe Häcklingen/Uelzen und handelt u.a. von der Zeit, als ich dort war. Über die Toten fand ich nichts (3).

In der kalten, desinteressierten, selbstsüchtigen und oberflächlichen, publizitätsgierigen Atmosphäre (4) Häcklingens ist mein Hass erwacht. Wo selbst der Tod keinen mehr scherte, man die Toten verschwieg, wo die Türen und Fenster zudem offen waren und gar keine besondere Gelegenheit darstellten, wollte ich nicht sterben. Ich musste die Toten sammeln, die Kreuzlinger und die Häcklinger. Ich weigerte mich, arbeitstherapeutisch den Wald zu rechen, und schrieb stattdessen die Toten mit, auf anstaltseigener Maschine.

Ich verfolge die Karrieresprünge der Herren Peters (5), Pörksen und Konsorten und denke dabei an die Toten, die ich kannte. Ein Totenwächteramt als antipsychiatrische Triebfeder? Auch wenn es in der Praxis um die Lebenden und Überlebenden geht, um konkrete Alternativen und Unterstützung, ist das für mich der bleibende und treibende Stachel. Die Toten sollen nicht in Vergessenheit geraten, so wie ich auch nicht vergessen werden wollte. Die Tatsachen sollen benannt werden.

Die Schuld ist nicht einfach zuzuweisen. War die geschlossene morbide Gesellschaft im Bellevue tödlicher als die kalte Verschieberei von menschlichem Leiden in Häcklingen? Und ist ein stets jovial lächelnder Fürst der konservativen biologistischen Psychiaterschaft wie Peters, der 17jährige ohne eine Frage für schizophren erklärt und elektroschockt, während er öffentlich mit philosophisch-linguistisch angehauchten Werken über Irren-Witze, den Wahnsinn Hölderlins und schizophrene Sprachregelverstöße brilliert (6), nicht noch gefährlicher?

Anmerkungen

(1) Siehe Kapitel »Was hilft mir, wenn ich verrückt werde?« Pfeil

(2) siehe: Binswanger, Ludwig: »Schizophrenie«, Pfullingen: Neske Verlag 1957 Pfeil

(3) Lediglich die beleidigte Feststellung von Niels Pörksen anlässlich der schwierigen Finanzverhandlungen mit Ministerium und Landkreis: »Es gibt keine Verhandlungen und keine offenen Stellungnahmen mehr. Stattdessen werden die Mitarbeiter der Klinik wie Schuljungen abgefragt, ob sie denn auch ihre Arztbriefe schreiben, ob sie die Patienten an die einweisenden Ärzte zurücküberweisen, ob sie und wie sie Kooperation pflegen, wieviele Selbstmorde wieder vorgekommen seien und warum die Zusammenarbeit mit dem Gesundheitsamt so schlecht sei.« (Niels Pörksen: »Subjektive Analyse der Entwicklungsschritte 1974-1980« [S. 19-43], in: Autorengruppe Häcklingen/Uelzen: »Ausgrenzen ist leichter. Alltag in der Gemeindepsychiatrie«, Rehburg-Loccum: Psychiatrie-Verlag 1981, S. 33) Pfeil

(4) Der damalige Oberarzt Peter Kruckenberg sagt es so: »Unser nur wenig eingestandenes Eigeninteresse will ich etwas überspitzt als narzisstisches Profilierungsbedürfnis in Sachen Sozialpsychiatrie bezeichnen – ich glaube, dem Niels nicht zu sehr Unrecht zu tun, wenn ich ihn da mit einbeziehe.« (Peter Kruckenberg: »Von denen, die auszogen, in der Heide gemeindenahe Psychiatrie zu betreiben« [S. 344-367], in: Autorengruppe Häcklingen / Uelzen: »Ausgrenzen ist leichter. Alltag in der Gemeindepsychiatrie«, Rehburg-Loccum: Psychiatrie-Verlag 1981, S. 362) Pfeil

(5) Prof. Dr. Uwe Henrik Peters, Leiter der Mainzer Uni-Anstalt während meines Aufenthalts 1975/76, 1991-1992 Chef der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenheilkunde, 1993-1994 Vize Pfeil

(6) siehe Kerstin Kempker: »Mehr ein Produkt der Zunge als des Denkens« – Vom Teufelskreis psychiatrischer Etikettierung, in: Sozialarbeit (Wien), Nr. 96 (September 1992), S. 16-18 Pfeil


Über die Autorin

Geboren 1958 in Wuppertal, lebt mit ihren beiden Töchtern in Berlin. Sie hat nach Verlassen einer Mainzer Klosterschule 3 Jahre in Psychiatrien verbracht – unter wechselnden Diagnosen und haarsträubenden ›Therapien‹. Später Lehre, Abendgymnasium und Studium der Sozialarbeit/Sozialpädagogik in Berlin. Mitbegründerin und Mitglied des Forums Anti-Psychiatrischer Initiativen e.V. (FAPI) und des Vereins zum Schutz vor psychiatrischer Gewalt e.V. Buchveröffentlichung: »Teure Verständnislosigkeit – Die Sprache der Verrücktheit und die Entgegnung der Psychiatrie«, Berlin: Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag 1991 (Stand: 1993). Mehr zu Kerstin Kempker


© 1993 by Kerstin Kempker, Berlin