Homepage
des Antipsychiatrieverlags
in:
Kerstin
Kempker & Peter Lehmann (Hg.): Statt Psychiatrie, Berlin:
Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag 1993, S. 410-411
Beiträge von
Lothar
Jändke,
Don
Weitz,
Alfredo
Moffatt,
Peter
R. Breggin,
Bonnie
Burstow,
Wolfgang Fehse,
Sylvia
Marcos,
Gisela
Wirths,
Peter
Stastny,
Theodor
Itten,
Kerstin
Kempker,
Thilo
von Trotha,
Uta
Wehde
Sabine
Nitz-Spatz
Persönliche
Beweggründe für antipsychiatrisches Handeln
Antipsychiatrie heißt für mich,
Menschenrechte einzufordern und Ausgrenzung von Minderheiten zu
verhindern. Insofern ist Antipsychiatrie für mich eine Grundhaltung.
Sinnbild für antipsychiatrisches Handeln ist aus meiner Sicht
das Weglaufhaus Berlin.
Während des Studiums finanzierte ich meinen Lebensunterhalt
durch Nachtwachen in Chronikerheimen. Dort musste ich erleben,
wie ältere Menschen, wenn sie sich nicht dem rigiden Stationsablauf
anpassten, »bei Bedarf« mit Haloperidol vollgepumpt
und fixiert wurden. Sie gelangten in kürzester Zeit in einen
Zustand, in dem ihr Wille gebrochen war. Viele starben mit Haldol
zugedröhnt. Mit einem menschenwürdigen Leben und Sterben
hatte dies nichts mehr zu tun. Die Erfahrungen in der Altenpflege
haben meinen Blick gegen Zwangsmaßnahmen geschärft.
Studiert habe ich Ethnologie, also eine Wissenschaft, die sich
mit fremden Lebensformen, Kulturen und sozialen Verhaltensweisen
befasst. Im peruanischen Amazonasgebiet wurde ich Augenzeugin
des Überlebenskampfs einer indianischen Bevölkerungsgruppe
gegen die sogenannte westliche Zivilisation. Von diesen Menschen
habe ich gelernt, wie sich Minderheiten zur Wehr setzen können.
Seit Jahren engagiere ich mich in Berlin bei den Grünen
für ausgegrenzte Gruppen. Im Vordergrund steht für mich
der Schutz andersdenkender Menschen, anderer Lebensgeschichten
und Lebensweisen, die es zu akzeptieren gilt und die nicht mit
Gewalt und Ausgrenzung behandelt werden dürfen. Mit Erschrecken
stelle ich fest, dass Hetze, Verfolgung und Angriffe auf diese
gesellschaftlichen Gruppen heute eskalieren. Die Verschärfung
des sozialen Klimas in unserer Stadt, zunehmende Aggressivität
und die damit verbundene Suche nach einem Sündenbock erfordern
dagegen ein offensives Eintreten für die Menschenrechte von
sozial Schwachen.
Als Dezernentin für das Gesundheitsamt bin ich im Bezirk
Tiergarten von Berlin auch für den Sozialpsychiatrischen
Dienst zuständig. Da dessen Tätigkeit in Gesetzen und
Richtlinien normiert ist, kann ich ihn von meiner Verantwortlichkeit
aus nicht vollkommen auf den Kopf stellen. Doch versuche ich,
Psychiatrie in einem ständigen Gespräch mit den MitarbeiterInnen
zu hinterfragen. Auch wenn ich sehr deutlich spüre, wie ich
dabei einen Spagat zwischen Antipsychiatrie und der in den Gesetzen
verankerten Psychiatrie mache, sehe ich darin eine Möglichkeit
der Auseinandersetzung.
Der Sozialpsychiatrische Dienst ist aus der Sicht Betroffener
eine besonders ambivalente Einrichtung, da freiwillige Beratung
und zwangsweise Unterbringung in dieser Behörde miteinander
verknüpft sein können. Erkenntnisse über persönliche
Probleme aus einer freiwillig erfolgten Beratung können im
Falle einer Zwangsunterbringung gegen die Betroffenen verwandt
werden. Diese Situation habe ich am Beispiel der Aktenführung
problematisiert. Gegen anfänglichen heftigen Widerstand habe
ich eine auf Freiwilligkeit beruhende Aktenführung über
Beratungsgespräche durchgesetzt. Die Aufzeichnungen über
Zwangsmaßnahmen werden davon vollständig getrennt.
Die Diskussion darüber wurde zeitweise von Paternalismus
bestimmt, der der Selbstbestimmung von Betroffenen keinen Raum
lassen wollte. Doch inzwischen gehören auf Freiwilligkeit
beruhende und getrennte Aktenführung zum Alltag.
Antipsychiatrie beinhaltet für mich Selbstorganisation und
Selbsthilfe. Das Weglaufhaus Berlin steht für Widerstand
gegen psychiatrischen Paternalismus. Der geballte Widerstand der
Psychiatrie gegen dieses Projekt lässt sich nur damit erklären,
dass ihre Infragestellung nicht ertragen werden kann.
Angesichts der Zunahme von neofaschistischen Strömungen
in unserer Gesellschaft entwickelt sich die Ausgrenzung von Minderheiten
immer mehr zu einem gesellschaftlichen Konsens. Wo Menschen wieder
in Sammellagern untergebracht werden dürfen, gilt es, mit
aller Kraft entgegenzuwirken. Daher ist für mich heute eines
der wichtigsten Kriterien, Politik zu beurteilen, wie mit Minderheiten
umgegangen wird.
Über die Autorin
36 Jahre, Ethnologin, zehnjährige
Tätigkeit in der Altenpflege, Grüne Gesundheitspolitikerin
im Abgeordnetenhaus und jetzt Dezernentin für das Öffentliche
Gesundheitswesen im Bezirk Tiergarten von Berlin. In der Vergangenheit
habe ich mich eingesetzt gegen die Psychiatriepolitik des
Senats von Berlin und für antipsychiatrische Intitiativen
wie das Weglaufhaus und die Irren-Offensive. Der Ausgrenzung
von Minderheiten trete ich besonders auch im Bereich der AIDS-
und Drogenpolitik entgegen (Stand: 1993). |
Sabine Nitz-Spatz
*1956 1997
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© 1993 by Sabine Nitz-Spatz