Peter Lehmann
Zum subjektiven Erleben von Psychopharmaka
Schreiben Psychiatriebetroffene über ihr subjektives Erleben
von Psychopharmaka, dann behalten sich Psychiater die objektive,
wissenschaftliche Sicht vor. In der Wissenschaft gilt eine Aussage,
wenn diese durch Verfahren bestätigt ist, die der subjektiven,
vorurteilsbehafteten Erfahrung entkleidet sind. Subjektive Aussagen
von Betroffenen stören in der (gesprächslosen) biologischen Psychiatrie,
oder man nimmt sie zum Garnieren.
Natürlich stimmt es so schwarz-weiß nicht. Psychiater studierten
vermutlich Medizin, um in der Lage zu sein, Leidenden zu helfen.
Berichte von ihren Psychopharmaka-Selbstversuchen, in denen wir
ihr subjektives Leiden und ihren pharmakobedingten Eindruck zu
sterben nachlesen können (z.B. bei Cornelia Quarti), sprechen
ebenso eine ehrliche Sprache wie Berichte persönlich erlebter
Apathisierung, die eine konfliktaufdeckende Therapie unmöglich
erscheinen ließen (nachzulesen bei Klaus Ernst). "Zombiehafter"
Zustand, "Haldol-Leichen", "künstlicher Winterschlaf",
"Styropor-Hintern" (als Ergebnis fortgesetzter Neuroleptika-Einspritzungen)
Psychiater finden aber auch klare Worte im Rahmen der Grenzen
ihrer Einfühlung.
"Pointiert formuliert, befinden sich Ärzte in der Behandlung
eines akuten Patienten stets in der Situation eines unkontrollierten
Einzelexperiments",
sagte Wolfgang Seeler von der Psychiatrie
HH-Ochsenzoll. Wolfgang Werner, saarländischer Landesnervenarzt
aus Merzig, war nicht minder offen bei seiner subjektiven Wertung
der Neuroleptikabehandlung:
"Das Problem ist ja, dadurch ist ja die Schizophrenie
definiert, daß wir die Ursachen nicht kennen. Und sie ist eine
Krankheit, eine Störung, von der wir annehmen, daß sie eine Krankheit
sein könnte, wobei wir die Ursachen nicht kennen. Das ist eigentlich
die sauberste wissenschaftliche Diagnose. [Allerdings] haben wir
keine ursächliche Behandlungsmöglichkeit, aber was wir machen,
ist symptomatisch."
Rückt mit diesen subjektiven Bekenntnissen von Psychiatern
etwas, was sie nicht verstehen, chemisch zu unterdrücken und sich
dann überraschen zu lassen, was dabei herauskommt nun alles
in den Bereich des Beliebigen?
Gibt es nicht objektive, von individuellen Wahrnehmungen losgelöste
Erkenntnisse? Rezeptorenveränderungen und körperliche Abhängigkeit,
auch und gerade bei Neuroleptika? Chronischer Diabetes bei Zyprexa?
Tumorbildung in den Brustdrüsen, zehnmal häufiger bei psychiatrischen,
also psychopharmakabehandelten, Patientinnen als in der weiblichen
Allgemeinbevölkerung? Durchschnittlich drei Jahrzehnte verminderte
Lebenserwartung bei chronischer Einnahme von Neuroleptika? Seit
deren Einführung eine dramatisch gestiegene Suizidalität unter
den Behandelten, nachgewiesen durch Häufigkeitsstudien?
Steht man dem Psychiater ausnahmsweise nicht als Behandlungsobjekt,
sondern als Subjekt gegenüber, öffnet sich ein Fass offener Fragen:
Was fühlst du, Psychiater, wenn du Berichte von traumatisierenden
Wirkungen deiner Behandlung oder der deiner Kollegen hörst? Quälen
dich Bilder selbstbewusster Psychiatriebetroffener? Kannst du
nachspüren, was in deiner Patientin vorgeht, die mit deiner Hilfe
Neuroleptika oder Antidepressiva absetzen will und der du jetzt
die Hilfeleistung verweigerst? Empfindest du Scham, wenn für dein
Berufsfeld viel Geld da ist, für Selbsthilfe und Alternativen
zur Psychiatrie aber gar nichts? Hast du den Mut, dich versuchsweise
einer Elektroschockserie unterziehen zu lassen? Spürst du etwas,
wenn du das an sich unteilbare Menschenrecht auf
Schutz der körperlichen Unversehrtheit relativierst und die aktuelle
UN-Konvention der Rechte von Menschen mit Behinderung ignorierst?
Erkennst du ein Problem, wenn du nach dem aufwändigen Studium
der naturwissenschaftlichen Medizin Menschen mit psychischen Schwierigkeiten
vorwiegend sozialer Natur helfen können sollst? Und eine letzte
Frage: Gibt es schon bildgebende Verfahren, mit denen man die
Nervenbahnen in Expertenhirnen sichtbar machen kann, die die Gaben
der Pharmaindustrie geschliffen haben?
Mir ist klar, dass es wahrscheinlich erst dann Antworten gibt,
wenn mehr Leute solche Fragen stellen. Aber das dauert. Lassen
wir die Psychiater also besser beiseite. Es gibt wichtigere Fragen,
wenn man psychiatrische Psychopharmaka schluckt, gespritzt bekommt
oder lieber keine will. Was hilft, was schadet, welche
Alternativen gibt es? Antworten finden wir bei den Betroffenen.
Persönliche, also unterschiedliche, genaue, ehrliche, eigene Antworten.
Statistisch nicht relevant, persönlich sehr relevant.
Copyright by Peter Lehmann 2008