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des Antipsychiatrieverlags
in: Thomas Bock, Dorothea Buck u.a. (Hg.): "Abschied von Babylon
Verständigung über Grenzen in der Psychiatrie", Bonn:
Psychiatrie-Verlag 1995, S. 183-187
Thilo von Trotha
Über die Unmöglichkeit, eine »Psychose«
zu erfahren, oder, was mir nicht hilft, wenn ich verrückt
werde
Die Idee zu diesem Symposion »Was hilft mir, wenn ich verrückt
werde?« geht auf ein Kapitel aus dem von Kerstin KEMPKER
und Peter LEHMANN herausgegebenen Buch »Statt
Psychiatrie« zurück, in dem 17 Leute aus 9 verschiedenen
europäischen und nordamerikanischen Staaten ihre persönlichen
Psychiatrie-Erfahrungen schildern und aus bewusst subjektiver
Perspektive beschreiben, was ihnen beim Umgang mit ihrer Verrücktheit
geholfen hat.
Verrücktheit und Psychiatrie-Betroffenheit sind dabei keineswegs
identisch; es gibt zahlreiche Menschen in psychiatrischen Instituten,
die nicht aufgrund verrückter Erlebnisweisen dort sind, und
umgekehrt gibt es viele, die intensive Erlebnisse von Verrücktheit
haben und nie in der Psychiatrie landen.
Psychiatrische Einrichtungen sind in aller Regel sogar Orte,
an denen Verrücktheit gerade nicht (mehr) anzutreffen ist
und die aufgrund ihrer rigiden institutionellen Zwangsstruktur
weniger Spielraum für ungewöhnliches Verhalten aufweisen
als andere soziale Räume. Ein Freund von mir, der sich darum
bemühte, mich aus der Anstalt herauszuholen, sagte mir immer: »Wenn du hier wieder 'rauskommen willst, musst du dich normaler
als normal verhalten: sozusagen pathologisch normal!« Ich
glaube, dass diese Beobachtung die bestehenden Verhältnisse
sehr genau trifft.
Bitte bleiben Sie beim Lesen so nah wie möglich an ihren
eigenen Erfahrungen und denken Sie nicht so sehr daran, wie mit
dem nackten Mann auf der Straße, dem Schäuble-Attentäter
oder einer verwirrten alten Frau verfahren werden sollte. Es geht
darum, was Ihnen selbst hilft (oder helfen würde), wenn Sie
verrückt werden, da es um Erfahrungen geht, die bei aller
Fremdheit eine große, oft verkannte Nähe zu unser aller
Alltag haben eine Nähe, die sich unter vielem anderen
auch darin ausdrückt, wie oft wir in schwierigen Situationen
so etwas wie »Ich dreh' durch« oder »Ich werd'
noch verrückt« denken oder ausrufen.
Über die Illusion eines freien Dialogs zwischen Betroffenen
und Psychiatern
Bei vergleichbaren Veranstaltungen habe ich in den letzten Jahren
immer wieder von meinen persönlichen Psychiatrie-Erfahrungen
erzählt und sie als Grundlage für meine konkrete antipsychiatrische
Argumentation verwendet. Trotz der überwiegend interessierten,
wohlwollenden Reaktionen der Zuhörer auch und gerade
von psychiatrisch Tätigen , beschlich mich hinterher
ein schales Gefühl: Es war, als hätte ich mich irgendwie
prostituiert, etwas Intimes ausgeplaudert und funktionalisiert,
das nicht in einem öffentlichen, sondern höchstens in
einem sehr persönlichen Rahmen angemessen aufgehoben wäre.
Zwar konnte ich damit das Interesse des Publikums wecken, doch
wurde die Aufmerksamkeit für das von mir vorgestellte Projekt
von einem wie auch immer verschobenen, voyeuristischen Interesse
an dem Umstand, dass sich da ein (»geheilter«) Irrer
zur Schau stellt, überlagert und verdrängt. Außerdem
stand dieses Vorgehen in krassem Widerspruch zu meiner Überzeugung,
dass es sich bei allen Formen von Verrücktheit um radikal
individuelle Erscheinungen handelt. Daher wird die Authentizität
und die Wirklichkeit solcher Erfahrungen genau in dem Maße
verfehlt, wie es gelingt, den Schein ihrer allgemeinen und öffentlichen
Vermittelbarkeit zu erzeugen. Schließlich wurde mir bewusst,
dass sich ein sinnvoller Dialog erst auf einer Ebene entfalten
kann, auf der es nicht nur keine negative, sondern auch keine
positive Diskriminierung von Betroffenheit mehr gibt und auf der
Leute, die in der Psychiatrie waren, nicht allein wegen des Bekenntnisses
zu diesem biographischen Zufall auf Interesse stoßen und
zu Fachveranstaltungen eingeladen werden, sondern wegen ihrer
individuellen Kenntnisse und einer auch für andere produktiven
Verarbeitung ihrer Konfrontation mit der Psychiatrie. Das bedeutet,
dass es nur zwei Möglichkeiten für Psychiatrie-Betroffene
gibt, ihre Erfahrungen einem fairen Dialog mit Nicht-Betroffenen
zugrunde zu legen: entweder in einer Fachdiskussion unter gleichberechtigten
psychiatrischen und antipsychiatrischen »Experten« oder
aber in rein privaten und vertrauensvollen Gesprächen, in
denen man sich über Persönliches austauscht. Entweder
werden sachliche Kontroversen zwischen Repräsentanten verschiedener
sozialer und politischer Organisationen geführt oder freundschaftliche
Gespräche unter Bekannten. Aber zwischen den Funktionären
und den (ehemaligen) Insassen einer Institution ist ein freier
und innovativer Dialog prinzipiell unmöglich.
Kein Richter käme auf die Idee, mit dem Angeklagten ein
privates Gespräch zu führen; kein Priester würde
in der Beichte den Gläubigen nach dessen persönlichen
Problemen fragen; kein Gefängniswärter bietet sich dem
Strafgefangenen als natürlicher Ansprechpartner für
dessen innerste Nöte und Freuden an. Nur in der Psychiatrie
gibt man sich der Illusion hin, die Gesetze institutioneller Kommunikation
unterlaufen und gleichzeitig die gesellschaftliche Funktion der
Psychiatrie als Verwahr-, Ausgrenzungs- und (Wieder-)Eingliederungsinstanz
für Verrückte erfüllen zu können. Diese Illusion
erlaubt es Psychiatern, sich vorrangig als »Mitmenschen«
zu definieren und dadurch ihre sozialen Kontrollaufgaben und Disziplinierungsleistungen
in den Hintergrund zu drängen. Gefährlich ist das auf
einer solchen Illusion beruhende psychiatrische Handeln aber deshalb,
weil es die Betroffenen zusätzlich entmündigt. Denn
die Psychiatrie kann sich durch diese permanente Grenzüberschreitung
auch noch den inneren Bereich des Persönlichen, der dem institutionellen
Zugriff ansonsten entzogen bliebe, einverleiben. Aus diesem Grund
hat jede psychiatrische Einrichtung völlig unabhängig
von den subjektiven Intentionen der in ihr Beschäftigten
die Tendenz, einen totalitären Raum sozialer Kontrolle zu
inszenieren.
Wenn der Betroffene von sich erzählt und die psychiatrisch
Tätigen ihm bereitwillig zuhören, wird das alte psychiatrische
Muster der Präsentation und Beurteilung eines »Falles«
keineswegs gesprengt: Der eine hat was erlebt, und der andere
weiß schon, was jener »eigentlich« erlebt hat.
Der eine berichtet von sich, und der andere interpretiert diesen
Bericht auf der Folie »wissenschaftlicher« Erkenntnisse,
seiner sozialen »Verantwortung« für akut Betroffene
und seines Auftrags, die Gesellschaft vor ihnen zu schützen.
Auch wenn der Betroffene sich ernster genommen fühlt als
im Sprechzimmer oder auf der Station, und auch wenn der Psychiater
sich selbst für fortschrittlicher, offener, verständnisvoller
als seine konventionell vorgehenden Kollegen hält, bleiben
all diese unbestreitbar gutgemeinten Bemühungen letztlich
nur subtil verschleierte Neuauflagen der altbekannten psychiatrischen
Objektivierung des verrückten Gegenübers zum medizinischen
Ding.
Zu den Kunstworten Psychose und Psychose-Erfahrung
Symptomatisch für eine Verschiebung und Ausweitung des psychiatrischen
Diskurses, die sich auch auf diesem Kongress über das Zulassen
von »authentischem« Sprechen von Betroffenen vollziehen,
ist das Wort »Psychose-Erfahrung«, eine neue
Sprachregelung, die in der Grauzone zwischen aufgeschlossener
Sozialpsychiatrie und kooperationsbereiter Betroffenenbewegung
für systematische Verwirrung sorgt. »Psychose«
ist ein fachsprachliches Kunstwort, mit dem eine Fülle höchst
heterogener Phänomene auf ganz bestimmte Weise aufbereitet
werden kann, ein Instrument, mit dem aus einem schwer zu überblickenden
Ausschnitt sozialer Wirklichkeit ein institutionell handhabbarer
Gegenstand herausgeschnitten werden kann, eine Art psychiatrisches
Skalpell, Motor einer Begriffsmaschine zur Produktion medizinischer
Fiktionen. Eine Erfahrung ist dagegen etwas vollkommen anderes:
Man erfährt keine »Psychose«, sondern man hat eine
Vision oder panische Angst, wird vom CIA verfolgt, ist glücklich,
weil man die Weltformel entdeckt hat, und todunglücklich,
weil die andern plötzlich alle so hart und verändert
sind, dass sie einen nicht mehr verstehen wollen. Zwischen »Psychose«
und »Erfahrung« gibt es keinen denkbaren Berührungspunkt.
Denn »Psychose« ist ja gerade die objektivierende Außenbeschreibung
eines scheinbar nicht mehr nachvollziehbaren Verhaltens, das sich
subjektiv aus einer selbstverständlichen inneren Evidenz
entwickelt. So gesehen stellen die »Psychose-Erfahrenen«
die große Mehrheit der Kongressteilnehmer: Psychiater und
psychiatrisch Tätige. Denn nur sie machen in ihrem Alltag
Erfahrungen mit jenem Skalpell, lernen, es zu benutzen, vertrauen
auf seine Wirksamkeit und beobachten die Auswirkungen seiner Anwendung.
Ich jedenfalls bin sicher kein »Psychose-Erfahrener«.
Einsperren Lähmen Verrücken
So könnten die drei Stufen, auf denen sich psychiatrische
Behandlung vollzieht, überschrieben werden: Wer in der Psychiatrie
landet, ist einem dreifachen, massiv ausgeübten Druck ausgesetzt:
einem physischen durch Internierung, Ausgangsverbot, Isolierung,
Fixierung und unter Umständen körperliche Gewalt durch
das Anstaltspersonal; einem chemischen durch Neuroleptika; und
einem sogenannten psychotherapeutischen durch Einzel- und Gruppengespräche.
Diese drei Stufen bauen aufeinander auf und haben dasselbe Ziel:
die Befreiung des Betroffenen von seiner Verrücktheit.
Von außen betrachtet ist die erste die problematischste
und am ehesten zu kritisierende, während die zweite zwar
noch Unbequemlichkeiten mit sich bringt, aber schon sehr viel
menschlicher mit den »Kranken« verfährt. Die dritte
schließlich stellt in dieser Sichtweise eine echte Chance
dar und eröffnet die Möglichkeit, dass der »Kranke«
selbst lernt mit seiner »Krankheit« umzugehen und sie
in ein signifikant reduziertes Leben zu integrieren.
Umgekehrt die Sicht eines von dieser dreifachen Bearbeitung Betroffenen:
Die körperliche Gewalt (Einsperren, Isolieren, Anschnallen)
ist zwar in der Regel ungewohnt, entwürdigend und schmerzhaft,
aber insofern erträglich, als sie eine Art von negativer,
sinnlicher Erfahrung darstellt, die man in früher Erlebtes
oder wenigstens Gehörtes oder Gesehenes einordnen kann. Physische
Gewalt ist zwar fürchterlich, doch längst nicht das
Schlimmste, was einem Menschen zustoßen kann. Die chemische
Gewalt, die von Neuroleptika ausgeht, ist ungleich destruktiver,
da sie extrem unheimliche und verängstigende körperliche
Wirkungen hervorruft und die gewohnte Wahrnehmung und das innere
Erleben des Betroffenen einschneidend verändert. Dabei wird
die körperliche und seelische Selbstwahrnehmung auf einer
Ebene angegriffen, auf der die unmittelbaren vegetativen, sinnlichen
und kognitiven Grundfunktionen angesiedelt sind, in denen ein
Mensch sich von Geburt an selbst begegnet und die den unter gewöhnlichen
Bedingungen unberührbaren Kern seiner leiblichen und geistigen
Identität ausmachen. Fremder als unter Neuroleptika-Einfluss
wird man sich selbst in dem Horror-Trip, den »harte«
Drogen verursachen können, kaum gegenüberstehen. Absolut
verheerend wirkt sich aber erst die dritte Stufe aus, die stationäre,
psychiatrische »Psychotherapie«, weil sie die Effekte
der ersten beiden Stufen in das Selbstbild des Betroffenen eingraviert.
An die Stelle unmittelbarer äußerer Gewalteinwirkung
tritt eine chronifizierte Selbstvergewaltigung, deren gewalttätiger
Charakter nach außen hin unsichtbar bleibt. Die physische
Gewalt dient dazu, dem Betroffenen Neuroleptika solange zuzuführen,
bis er sie »freiwillig« nimmt. Der chemische Angriff
zerstört die Widerstands-, Kritik-, Denk-, Urteils- und Erlebnisfähigkeit
von innen heraus und bereitet so eine psychotherapeutisch inszenierte
Entfremdung vom Kern der eigenen Persönlichkeit vor. (In
diesem Kontext sind ausschließlich solche »psychotherapeutischen«
Beziehungen gemeint, bei denen der Therapeut als behandelnder
Psychiater reale Macht über die konkrete Lebenssituation
seines Klienten hat, bei denen es keine Freiwilligkeit gibt und
bei denen das therapeutische Verhältnis nicht jederzeit ohne
Nachteile von dem Klienten wieder beendet werden kann.)
Die letzte, psychische Ebene hat für Psychiater die sogenannte
»compliance« zur Voraussetzung, die Kollaboration des
Psychiatrisierten mit seinem Psychiater. Auf der Basis dieser
»compliance« wird die »Krankheitseinsicht«
des Betroffenen erzeugt. Wenn der Verrückte anfängt,
selber zu glauben, dass er krank ist in einem medizinischen Sinn
was er zu Anfang nie tut , gilt das dem Psychiater
als erster Schritt zur Besserung im »psychotischen«
Befinden. Dieser Augenblick bezeichnet exakt die Geburt des »psychisch
Kranken« aus dem Geist der Psychiatrie. Der »psychisch
Kranke« ist der Verrückte, der sich selbst mit dem irritierten,
ablehnenden und erschrockenen Blick seiner Umwelt auf ihn sieht
und die psychiatrische Diagnose zum Bestandteil seiner Persönlichkeit
macht. Gerade der vorgeblich geheilte oder gebesserte »psychisch
Kranke« bleibt mit dieser so fortschrittlich, verständig
und human wirkenden psychotherapeutischen Methode mitunter lebenslänglich
im psychiatrischen Bann: Mit der Anerkennung der Diagnose und
der Überzeugung, dass er von nun an zu sich selbst ein therapeutisches
und das heißt wesentlich entfremdetes Verhältnis
zu unterhalten habe, vollzieht er die Verwüstungen der psychiatrischen
Unterdrückung, seiner innersten, wenngleich »verrückt«
hervorbrechenden Bedürfnisse von sich aus zum zweiten Mal.
Genau mit dieser systematischen Durchdringung und Beherrschung
von Körper, Organismus und Psyche operiert auch die berüchtigte
»Gehirnwäsche«, die deshalb ganz sachlich zur Illustration
des psychiatrischen Vorgehens herangezogen werden kann.
Die »sanfte Psychiatrie«, die Sektorpsychiatrie, die
psychotherapeutisch aufgerüstete Soialpsychiatrie bemühen
sich, die ersten beiden Stufen das Einsperren und das Lähmen
soweit als irgend möglich zu reduzieren. Doch gelingt
dies nur um den Preis, dass das Vorgehen auf der dritten Stufe
das Verrücken immer raffinierter, effizienter,
distanzloser und undurchschaubarer wird. Auf diesem Kongress wird
die traditionelle Anstaltspsychiatrie zu Recht geschmäht.
Doch bleibt die Frage offen, ob nicht die propagierten sozialpsychiatrischen
Alternativen in letzter Instanz einen noch größeren,
noch fundamentaleren Schaden anrichten.
Ich bin überzeugt, dass positive und sinnvolle Alternativen
zum real existierenden psychiatrischen Umgang mit Verrücktheit
erst vor diesem bewusst »destruktiven«, notwendigen polemischen
Hintergrund entwickelt werden können. Sonst wird man nichts
anderes hervorbringen als neue bunte Verkleidungen für die
alte psychiatrische Entstellung, die noch von jeder der zahllosen
Reformbestrebungen seit der Erfindung der Psychiatrie vor 200 Jahren
mehr oder weniger offensichtlich reproduziert wurde.