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Vortrag bei der Studientagung »Psychisch Kranke und Menschenrechte in Deutschland: Eine Herausforderung?«, Katholische Akademie Trier, 27.-29. März 2000

Peter Lehmann

Perspektiven einer europäischen Psychiatriecharta

Noch vor wenigen Jahrzehnten wurden Psychiatriebetroffene zu Hunderttausenden in Deutschland und anderen Ländern ermordet oder sterilisiert. Seit 1945 wurden sie nur noch lobotomisiert, elektrogeschockt, insulingeschockt, psychopharmakologisch ruhiggestellt oder sonstwie manipuliert.

Heute gehören Zwangsbehandlung und deren Drohen zur Tagesordnung. Am höchsten – im europäischen Rahmen – ist die Zwangsbehandlungsrate bei alten Menschen (vor allem Frauen), Armen und ethnischen Minderheiten. Schwierigkeiten auf sozialer Ebene werden immer noch ignoriert, obwohl bekannt ist, dass sie es sind, die vornehmlich zur Entstehung und Eskalation der Probleme führen. Man sucht lieber in Genen.

I. Der Ausschluss von Psychiatriebetroffenen aus Entscheidungsgremien

In Psychiatriechartas der Vergangenheit wurden Psychiatriebetroffene nicht einbezogen. Psychiatriebetroffene sind in aller Regel auch nicht in Entscheidungsgremien der öffentlichen Einrichtungen, Verwaltungen und der Politik vertreten. Dabei wäre es so wichtig, ihnen Gehör zu geben.

Die Bedeutung der Einbeziehung von Psychiatriebetroffenen wurde deutlich im Rahmen der Konferenz »Balancing Mental Health Promotion and Mental Health Care« (»Förderung der psychischen Gesundheit und psychiatrische Betreuung im Gleichgewicht«), einer gemeinsamen Veranstaltung der WHO (World Health Organization; Weltgesundheitsorganisation) und der Europäischen Kommission in Brüssel im April 1999. Neben schätzungsweise 70 psychiatrisch Tätigen und anderen Personen war auch ich als ENUSP-Repräsentant eingeladen. Die Notwendigkeit einer zukünftig hoffentlich verstarkten Einbeziehung Psychiatriebetroffener wurde besonders deutlich, als sämtliche Vorschläge für eine zukünftige psychosoziale Versorgung abgelehnt werden sollten.

Erst nach massiver Kritik und mit freundlicher Unterstützung der Repräsentanten der Europäischen Union wurden einige unserer Positionen dem Consensuspapier zugefügt:

  • Förderung von Selbsthilfeansätzen und nicht-stigmatisierenden, nicht-psychiatrischen Ansätzen

  • aktive Einbeziehung von Psychiatriebetroffenen in die Psychiatriepolitik

  • Freiheit zur Auswahl aus Behandlungsangeboten zur Stärkung der Menschenrechte (World Health Organization / European Commission 1999, S. 9)

Auch Psychiatriebetroffene wollen Rechtssicherheit. Psychiatriebetroffene folgen den Gesetzen oder verstoßen gegen sie wie alle anderen Menschen auch. Menschenrechte sind nicht teilbar. Psychiatriebetroffene müssen dieselben Rechte haben wie sogenannte normale Patienten. Und sie sollen eine angemessene, selbst definierte Hilfe bekommen, wenn sie Hilfe wollen.

Dies ist meine Kernaussage. Eine Psychiatriecharta kann sich prinzipiell nicht unterscheiden von einer Menschenrechtscharta. Wenn Menschenrechte als unteilbar gelten, dann müssen sie uneingeschränkt auch für Psychiatriebetroffene gelten. Eine Psychiatriecharta muss lediglich auch auf die speziellen Bedürfnissen Psychiatriebetroffener eingehen, so wie eine Altencharta auch auf die speziellen Bedürfnisse älterer Menschen eingehen muss.

II. Selbstbestimmung und körperliche Unversehrtheit

Brauchen Psychiatriebetroffene besondere Rechte oder Gleichberechtigung? Diese Frage spielte eine Rolle bei einem Seminar des Europäischen Netzwerks von Psychiatriebetroffenen 1994 in Kolding. Hier Statements von Kerstin Kempker aus Deutschland und von Krystof Paszek aus Polen:

»Sollten wir besondere Rechte fordern? Nein. Wir sollten gleiche Rechte fordern: Menschenrechte und das Recht, psychiatrische Behandlung zu verweigern, so wie dies auch bei jeder anderen medizinischen Behandlung der Fall ist. Eingesperrtwerden (ohne ein Verbrechen begangen zu haben), Zwangsbehandlung und fehlende Aufklärung über die Risiken der Behandlung sollten verboten und juristisch verfolgt werden. Psychiater sollten für die Schäden, die sie verursachen, rechtlich belangt werden. Ihre Opfer sollten Schadensersatz erhalten.« (Kempker 1996)

»Meiner Ansicht nach sollten Menschen mit psychischen Problemen die gleichen Rechte haben wie andere auch. Wir brauchen keine besonderen Rechte, um ein humanes Leben zu führen. Die Tatsache, dass wir psychische Probleme haben, ist kein Indikator dafür, dass wir besser oder schlechter als andere Gesellschaftsmitglieder sind. Wichtiger ist (...) der Kampf um Menschenrechte. (...) Grundsätzlich brauchen wir das Recht, über unser Leben selbst zu entscheiden.« (Paszek 1996, S. 20f.)

III. Bedrohung der Menschenrechte durch das White Paper

Ganz neu ist das »WHITE PAPER zum Schutz der Menschenrechte und der Würde von Personen, die an psychischen Störungen leiden, speziell denjenigen, die in psychiatrischen Einrichtungen zwangsuntergebracht sind«, Entwurf einer Arbeitsgruppe des Steering Committee on Bioethics des Europarats. Es geht um die Aktualisierung der Europarat-Empfehlung R 2 von 1983 über den juristischen Schutz von Zwangsuntergebrachten und der Empfehlung 1235 von 1994 über Psychiatrie und Menschenrechte. Das Papier beinhaltet eine massive Diskriminierung der Menschenrechte.

Passiert es den Beratungsausschuss und wir in eine Konvention geformt, die vom Europarat verabschiedet wird, so setzte es ein umfassendes Recht der Psychiater auf Behandlung durch, innerhalb der Anstalt wie auch außerhalb.

Selbst nach Verlassen von psychiatrischen Einrichtungen nach akuten Aufenthalten sollen Psychiatriebetroffene möglicherweise lebenslang in der »Freiheit« zur vorbeugenden Dauerbehandlung mit psychiatrischen Psychopharmaka gezwungen werden können. Selbst in psychiatrischen Kreisen ist ambulante Zwangsbehandlung ein umstrittenes Thema: So nahm die Vollversammlung der World Federation for Mental Health im September 1999 in Santiago de Chile auf ihrer Vollversammlung diese Resolution des World Network of Users and Survivors of Psychiatry (WNUSP) an:

»Aufgrund der Sorge über die Ausbreitung gemeindenaher Zwangsbehandlung wurde beschlossen, dass die WFMH den Widerstand von WNUSP gegen gemeindenahe psychiatrische Zwangsbehandlung unterstützt.«

Sogar Elektroschocks sollen gegen des Willen der Betroffenen verabreicht werden können. All dieses ist ein eklatanter Verstoß gegen Artikel 3 (körperliche und geistige Unversehrtheit) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) sowie gegen Art. 8 EMRK (Privatleben). Bei Ablehnung seitens der Betroffenen soll in einigen Ländern noch nicht einmal eine unabhängige richterliche Entscheidung nötig sein, statt dessen soll die Erlaubnis eines Anstaltssozialarbeiters oder Anstaltsmanagers für den Vollzug der Behandlung ausreichen können.

In einer Stellungnahme an das Bundesministerium für Justiz sah der Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener e.V. in all diesen Vorschlägen eindeutige Verstöße gegen sämtliche Bemühungen um Aufhebung rechtlicher Ungleichbehandlung und um rechtliche Gleichstellung mit körperlich Kranken.

Die positiven Seiten des Entwurfs treten angesichts der anstehenden Bedrohung unserer Menschenrechte völlig in den Hintergrund bzw. nehmen eine geradezu zynischen Charakter an: Während Psychiatriebetroffenen die Verfügungsgewalt über die eigene körperliche Unversehrtheit umfassend abgesprochen werden kann, sollen sie mit dem Recht auf ein Nachtkästchen in stationären psychiatrischen Einrichtungen abgespeist werden.

Letztlich atmet das Papier dieser neuen Bioethik-Konvention (die Autoren dieses Entwurfs sind nicht namentlich erwähnt) denselben Geist wie die bekannte Bioethik-Konvention der 90er Jahre, die die Forschung an sogenannten Nichteinwilligungsfähigen erlaubt. In den Jahren des Faschismus zeigten sich zum ersten Mal auf breiter Ebene die verhängnisvollen Konsequenzen der völligen Entrechtung sozial Schwacher.

Eine Behandlung gegen den eigenen Willen sollte grundsätzlich auf denselben Rechtsgrundlagen basieren wie im medizinischen Bereich: Behandlung nach informierter Zustimmung. Die Aufklärungspflicht, gegen die in psychiatrischen Einrichtungen offenbar ständig verstoßen wird, ist endlich durchzusetzen. Ist der bzw. die Untergebrachte zu einer rechtsgeschäftlichen Erklärung außer Stande, ist auf seinen bzw. ihren natürlichen Willen abzustellen. Kann er bzw. sie auch diesen nicht äußern, dann ist auf eine vorher abgegebene Erklärung abzustellen. Ist eine solche nicht erkennbar, dann ist von einer Versagung der Einwilligung auszugehen.

Anstelle einer Ausdehnung des Anwendungsbereich – nicht unumstrittener – psychiatrischer Sondergesetze auf »psychische Störungen«, worunter alles und nichts zu fassen ist, sollten nur solche Personen ihrer Freiheit beraubt und in geschlossene Einrichtungen gebracht werden, die durch nicht nur vorübergehenden Verlust der Selbstkontrolle ihr eigenes Leben oder das Leben andere erheblich gefährden – sofern diese Gefahr nicht anders abgewendet werden kann.

IV. Sonderbehandlung Elektroschock

Wie wichtig eine vernünftige Psychiatriecharta ist, zeigt der Skandal, dass nicht einmal dem Einsatz von Elektroschocks ohne informed consent (Einwilligung nach Aufklärung über die Risiken) ein Riegel vorgeschoben werden soll. In den letzten Jahren werben Psychiater und deren journalistische Lobby wieder für mehr Elektroschocks. Gegenüber der ›Münchner Illustrierten‹ äußerte Fritz Reimer, ehemaliger Vorsitzender den Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenheilkunde e.V. (DGPN), 1988:

»Ich hoffe, dass bald alle wieder schocken. In Schweden, der Schweiz, England oder Holland hat die Psychiatrie einen wesentlich höheren Standard, d.h. es wird dort sehr viel mehr geschockt als bei uns.« (zitiert nach: Förster 1988, S. 22)

Here Folkerts von der Universitätsanstalt Münster forderte 1995 in der Psychiater- und Neurologenzeitschrift 'Nervenarzt', auch verschiedenste neurologisch begründete Krankheiten sollten zum Anlass für Elektroschocks genommen werden. Bedenken seien zumeist nicht angebracht: »Entgegen der Erwartung mancher Neurologen oder Internisten gibt es kaum Kontraindikationen...« U.a. nannte er folgende Indikationen für Elektroschocks: Schüttellähmung, Encephalomyelitis disseminata (multiple Sklerose; entzündliche Erkrankung des Zentralnervensystems), Alzheimer-Demenz, Jakob-Creutzfeld-Erkrankung (mit Muskelstörungen und deliranten Symptomen einhergehende Erkrankung des ZNS), Veitstanz, Alkohol- und Barbituratentzugsdelir, Wernicke-Enzephalopathie (Stammhirnerkrankung u.a. bei chronischem Alkoholismus und der Vitaminmangelkrankheit Beriberi), Schädelhirntrauma, Hirntumor, Myasthenia gravis (fortschreitende Schwäche der quergestreiften Muskulatur), Muskeldystrophie (fortschreitende entzündliche Muskelerkrankung mit Schwund der rumpfnahen Muskulatur), Friedreich-Ataxie (mit fortschreitendem Muskelschwund einhergehende Erkrankung des ZNS), Morbus Wilson (Symptomenkomplex mit u.a. Leber und Gehirn betreffender Degeneration). Allerdings, so Folkerts bedauernd,

»... sind die immer noch grassierenden Vorurteile gegenüber der EKT auszuräumen. Diese effektive Behandlung sollte keinem Patienten aus Unkenntnis oder wegen emotionaler Ablehnung vorenthalten bleiben...« (Folkerts 1995a, S. 249)

Folkerts unkritische und einseitige Haltung (es gäbe keine Berichte über Hirnschäden, die Geschockten seien mehrheitlich sehr zufrieden) (Folkerts 1995b) fand im folgenden Jahr in der gleichen Zeitschrift immerhin eine radikale Absage, und zwar durch die Ärztin Eva Heim aus Karlsruhe. Eva Heim wies Folkerts zurecht: Tierversuche, bei denen man schon bei vergleichsweise sehr geringer Dauer und Stärke erhebliche Hirnschäden nachwies, habe er ebenso verschwiegen wie die eher gestiegene Krampfdauer und Stromstärke:

»Doch selbst wenn dem nicht so sein sollte, bleibt die conditio sine qua non dieser Therapie der iatrogen provozierte, in kurzen Abständen mehrfach wiederholte Grand-mal-Anfall, ein Ereignis, das neurologischerseits unter Einsatz massiver Medikation zu vermeiden versucht wird, vor allem wegen der im Verlauf der Krankheit erworbenen Hirnschädigung und der daraus folgenden epileptischen Demenz.« (Heim 1996, S. C137)

Wenig überraschend, dass es vor allem Frauen sind, die elektrogeschockt werden, und zwar vorwiegend ältere Frauen, denen die bekannten Gefahren der künstlich herbeigeführten epileptischen Anfälle in aller Regel verheimlicht werden und denen der Bären aufgebunden wird, Elektroschocks würden auf Dauer Depressionen zum Verschwinden bringen, die Methode sei sicher und harmlos, Gedächtnisstörungen würden nach kurzer Zeit wieder verschwinden, das Schocken nur einer Hirnseite wäre harmlos, der Strom wäre so verändert, dass er nicht schade, der Schock sei lebensrettend, insbesondere bei sogenannter Therapieresistenz und bei febriler Katatonie. Dass es Psychiater mit ihrer Betrachtung des Menschen als Stoffwechselprodukt sind, die aufgrund ihrer organfixierten Ausbildung zu einer sozialwissenschaftlichen Betrachtung psychosozialer Probleme kaum in der Lage sein können und in ihrem patriarchalisch geprägten Weltbild mit den Leiden der meist älteren depressiven Frauen nichts anzufangen wissen, ist ebenso evident wie die Tatsache, dass es seit Jahrzehnte längst risikoarme medikamentöse Behandlungsformen der febrilen Katatonie gibt (z.B. des Spasmolytikum Dantrolen), was Psychiater, so die Berichte von Medizinern, bloß noch nicht gemerkt haben – oder, so der Verdacht, nicht zur Kenntnis nehmen wollen, um Laien gegenüber das Beharren auf ihren Elektroschocks legitimieren zu können.

Als Regelbehandlung gilt in der Psychiatrie die Verabreichung von Antidepressiva und Neuroleptika; auf die Schäden, ob motorisch, zentralnervös oder vegetativ, wird von psychiatrischer Seite kaum eingegangen. Ist es denn so egal, dass Neuroleptika in großem Ausmaß auch bei geringer Dosierung Schäden und oft genug in chronischer Form verursachen? Angesprochen sein sollen Rezeptorenveränderungen, Persönlichkeitsveränderung, psychotische Zustände, Depressionen, Suizidalität, Chromosomenveränderungen, Leberwertveränderungen, Herzrhythmusstörungen, Prolaktinerhöhung, tardive Dyskinesien, gerade im gemeindenahen Bereich (Lehmann 1996; Kempker 2000).

V. Weitere Vorgaben für eine europäische Psychiatriecharta

Es gäbe aber noch weitere juristische Aspekte außer dem Recht auf körperliche Unversehrtheit, die in eine europäische Psychiatriecharta einfließen sollten:

  • Einrichtung unabhängiger Beschwerdestellen mit Patientenanwälten oder Patientenvertrauenspersonen

  • Stärkung der Rechtswirksamkeit von Vorausverfügungen zur Verbesserung der Rechtssicherheit.

  • Verbot jeglicher Form der Registrierung von Menschen mit psychiatrischen Diagnosen bei Polizei- und Meldestellen

  • Verbot klinischer Versuche und experimenteller Behandlungen an Zwangseingewiesenen

  • Bessere Durchsetzbarkeit von Regressansprüche bei Behandlungsschäden und bei Experimenten. Beispiel für die desolate Rechtsposition ist das psychiatrische Schicksal von Kerstin Kempker, dargestellt in ihrem Buch »Mitgift – Notizen vom Verschwinden«. Der Bericht eignet sich zur Veranschaulichung des Problems, da die Erinnerungen und Dokumente Kerstin Kempkers direkt und nachvollziehbar mit psychiatrischen Akteneinträgen korrespondieren. Man erkennt die verheerenden persönlichen, gesundheitlichen (und daraus resultierenden finanziellen Folgeschäden des Mangels an gesprächspsychotherapeutischer Hilfen, der Behandlung mit Elektroschocks, der Behandlung mit gefährlichen Psychopharmaka-Kombinationen, der mangelnden Aufklärungspflicht, der mangelnden Regressmöglichkeiten, des fehlenden Rechts auf Akteneinsicht und der fehlenden Beratungsstellen von Psychiatrie-Erfahrenen auch für Angehörige.

  • Durchsetzung der Aufklärungspflicht: Wie nötig eine Durchsetzung der Aufklärungspflicht ist, zeigte die Diskussion von 1981, die Prof. Hanfried Helmchen, ehemaliger Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenheilkunde, publik machte: z.B. bei der Verordnung von Neuroleptika über das Risiko einer tardiven Dyskinesie (bei normaler Dosierung im Lauf der Verabreichung häufig auftretende, veitstanzförmige oder durch Krämpfe gekennzeichnete nicht behandelbare und mit der Verkürzung der Lebenserwartung einhergehende Muskelerkrankung) drei Monate nach Beginn der Verabreichung zu informieren oder nach einem Jahr oder Zeitpunkt ihres Auftretens. Unterlassene Aufklärung kann nicht weiterhin ein Kavaliersdelikt sein. Psychiater, die ohne informierte Zustimmung behandeln, sollten ihre ärztliche Zulassung verlieren [sofern keine im Einzelfall nachgewiesene Lebensgefahr und kein nachgewiesenes Fehlen einer natürlichen Einsichtsfähigkeit vorliegen.]

Ich komme noch einmal auf den mir entscheidenden Punkt: Falls Menschen eingesperrt werden müssen, um ihnen das Leben zu retten oder um sie davon abzuhalten, anderen ernsthaften Schaden zuzufügen, sollte niemand das Recht haben, ihnen irgendeine Art von Behandlung aufzuzwingen. Dies gilt ebenso für unser aller extramurales Leben.

VI. Statt Diskriminierung: Förderung von Selbsthilfeansätzen und nicht-stigmatisierenden, nicht-psychiatrischen Hilfe-Ansätzen

Das überkommene Konzept der psychischen Krankheit und des Bedarfs an synthetischen Psychopharmaka abzulehnen, speziell wenn sie über lange Zeit oder gar lebenslänglich verordnet werden, kann natürlich nicht heißen, die Augen zuzumachen vor den realen Problemen, die viele Menschen haben. Ich will keineswegs darauf hinaus, dass wir uns um andere, wenn sie verrückt oder depressiv werden, etwa gar nicht kümmern sollten, dass die Leute eingesperrt und allein gelassen werden sollten. Aber wir brauchen angemessene, alternative Einrichtungen.

a) Angemessene Hilfen

Ein wesentliches Charakteristikum alternativer psychosozialer Dienste würde darin bestehen, Menschen bei der Bewältigung ihrer Probleme zu helfen – unter anderem durch gegenseitige Lernprozesse, Rechtsbeistand, alternative Medizin, gesunde Ernährung, natürliche Heilverfahren und spirituelle Übungen. Die alternative Arzneimittelkunde hat beispielsweise ein großes Wissen über die Wirkung von Kräutern und Homöopathika, die dem Körper und der Psyche helfen können, Entspannung und Wiederherstellung des Gleichgewichts zu finden. Mit solchen Dingen kann man möglicherweise nicht so viel Geld verdienen, doch sie sind es, die Zukunft haben sollten.

In diesem Feld können Psychiatriebetroffene eine wichtige Rolle als MitarbeiterInnen und RatgeberInnen spielen, denn sie haben das Wissen darüber, was ihnen geholfen hat. Solche mit einer positiven Subkultur-Identität und Würde verbundenen Dienste können von der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt werden oder, mit öffentlicher finanzieller Unterstützung, von der Betroffenenbewegung selbst, wobei Menschen einfach ein Ort gegeben würde, sich zu treffen und ihr eigenes Leben zu gestalten. Wir brauchen Selbsthilfe- und Beratungsstellen von Psychiatriebetroffenen für Psychiatriebetroffene.

Alternative Systeme und dezentrale Dienste müssten sich um die Bedürfnisse von Menschen mit psychosozialen Problemen in einer Weise kümmern, dass der Gebrauch von synthetischen und giftigen psychiatrischen Psychopharmaka minimiert und auf lange Sicht überflüssig wird. Es müssen also Methoden, Systeme, Dienste und Institutionen einer kurz-, mittel? und langfristigen Hilfe und Unterstützung entwickelt werden, die in keiner Weise auf der Verabreichung von synthetischen Psychopharmaka aufbauen.

b) Soweit psychiatrische Einrichtungen noch bestehen:

In jeder vorhandenen Einrichtung sollte ausreichend Platz vorhanden sein. Folgendes sollte in psychiatrischen Einrichtungen vorhanden sein:

  • Patiententelefone in einer Kabine auf jeder Station

  • Münzkopierer

  • deutlich sichtbarer Anschlag auf jeder Station, dass auf Wunsch Briefpapier, Briefumschläge und Briefmarken zur Verfügung gestellt werden

  • Möglichkeiten zum Aufhängen von Informationsschriften von lokalen, regionalen und nationalen Selbsthilfegruppen

  • Angebot eines täglichen Spaziergangs unter freiem Himmel von mindestens einer Stunde Dauer

  • Teeküche auf jeder Station, damit man sich rund um die Uhr etwas zu essen und zu trinken machen kann.

Außerdem sollten die Rechte von NichtraucherInnen auf gesunde Luft berücksichtigten werden, ebenso die Rechte von RaucherInnen, soviel zu rauchen wie sie wollen.

Die Nahrung in psychiatrischen Einrichtungen sollte ernährungswissenschaftlichen Erkenntnissen entsprechen. Auf Bedürfnisse von Personen, die einer Diät bedürfen, ist einzugehen.

Familienangehörigen, die das wollen, sollten das Recht haben, vom Personal Hilfe und Unterstützung zu verlangen und rund um die Uhr bei den Untergebrachten zu bleiben (sollten diese das wollen).

c) Flankierende Hilfen

Hinsichtlich der Frage »Sollten wir besondere soziale Rechte fordern? Wenn ja, welchen Rechten sollten wir Priorität schenken?« werden unterschiedliche Positionen vertreten. Hans Bergström, Schweden, äußerte beim bereits genannten Seminar 1994 in Kolding:

»Gleichberechtigung sollte das Ziel sein, aber manchmal sind spezielle Rechte für schwer leidende Menschen notwendig. In Schweden haben wir diese Rechte bezüglich Arbeit, besonderer Wohnmöglichkeiten und persönlicher Assistenz. Einige von uns haben nicht die Kraft, gleiche Rechte zu fordern. Solange dies so ist, sollten wir eine besondere Gesetzgebung haben für Menschen, die sich nicht erheben können, um ein würdevolles Leben zu fordern.« (Bergström 1996)

Gegenwärtig sind 70 – 80% der Psychiatriebetroffenen arbeitslos. Dies ist nicht auf Unwilligkeit zu arbeiten zurückzuführen, sondern auf unflexible Strukturen. Aufgrund von Vorurteilen werden Psychiatriebetroffene nicht eingestellt.

Grundsätze für Chancengleichheit und gleiche soziale Rechte:

  • Menschen, die psychosoziale Behinderungen erfahren, soll Chancengleichheit zustehen

  • diese Chancengleichheit soll sich auf alle Bereiche der Arbeitsorganisation und des Managements erstrecken;

  • jeder Arbeitsplatz soll nutzerkontrollierten Qualitätsstandards entsprechen;

  • spezielle Maßnahmen wie z.B. Lohnkostenzuschüsse und geschützte Beschäftigung sollen nicht als Stigmatisierung oder Diskriminierung benutzt werden.

4. Aktive Einbeziehung von Psychiatriebetroffenen in die Psychiatriepolitik

Psychiatriebetroffenen sind auf allen internationalen, nationalen, regionalen und lokalen Ebenen einzubeziehen in:

  • Gesetzeskommissionen

  • Zulassungskommissionen für Behandlungsverfahren

  • Wirksamkeitsstudien

  • Ethik-Kommisionen

  • Ausbildung, Prüfungs- und Stellenkommissionen

  • Kongresse und sonstige Veranstaltungen: Keine öffentlichen Gelder sollten mehr für Einrichtungen und Veranstaltungen ausgegeben werden, bei denen Psychiatriebetroffene kein wirksames Mitbestimmungsrecht haben.

5. Antidiskriminierungsmaßnahmen

Diskriminierung findet statt aufgrund Geschlechtszugehörigkeit, sexueller Neigungen, ethnischer Zugehörigkeit, Religion, sozialer Stellung. Zwangssterilisationen gibt es immer noch in einer Reihe von europäischen Ländern. Missbrauchserfahrungen in Kindheit oder aktuell werden kaum als Ursache von Verrücktheit, Depression und Psychiatrisierung wahrgenommen. Frauen und Männern werden oft wegen psychiatrischer Diagnosen Erziehungsrechte aberkannt.

Heimbewohner, rechtlich und sozial mit am schlechtesten gestellt, sollten ebenso geschützt werden. Oft werden

  • von ihnen Zustimmungen erpresst mit der Drohung, den Heimvertrag zu kündigen, d.h. die Betroffenen auf die Straße zu setzen

  • von ihnen pauschale Schweigepflichtentbindungen verlangt, ohne dass sie Kenntnis darüber erhalten, von welchen Daten und Akten sie entbinden

  • von ihnen vor Eintritt ins Heim Verpflichtungen verlangt, alle angebotenen sogenannten Therapieformen mitmachen zu müssen, eine Ablehnung einer einzelnen Maßnahme führe zur Kündigung des Vertrags,

  • von ihnen Voraberklärungen zur möglichen späteren Anstaltseinweisung ohne Gerichtsbeschluss gefordert,

  • sie genötigt, den mit dem Heim kooperierenden Arzt aufzusuchen und sich pauschal und vorab mit dessen Behandlungsvorschlägen abzufinden, womit ihnen das Recht auf freie Arztwahl und das Selbstbestimmungsrecht über ihre körperliche Integrität abgesprochen wird.

Deshalb ist in einer europäischen Psychiatriecharta ein Diskriminierungsverbot zu verankern:

Niemand darf aufgrund einer psychiatrischen Diagnose diskriminiert werden. Angehörigen von ethnischen Minderheiten, Mitglieder von benachteiligten Bevölkerungsgruppen wie Frauen, Alte, Menschen in Betreuungsverhältnissen, Kinder und sozial Schwache sind in ihrer Rechtsstellung besonders zu schützen.

Zur Notwendigkeit der Stärkung von Menschenrechten hatte 1982 der heutige Bundeskanzler Gerhard Schröder diese Resolution unterzeichnet:

»Wir treten ein für das Selbstbestimmungsrecht aller Menschen. In den psychiatrischen Anstalten der Bundesrepublik Deutschland und Berlin werden – wie selbst die Psychiatrie-Enquete der Bundesregierung gezeigt hat – die Menschenrechte der Betroffenen nicht beachtet. Wir sind empört, dass Psychiater Menschen nicht nur in ihren Anstalten lebenslang einsperren, sondern auch diejenigen lebenslang entmündigen wollen, denen es gelungen ist, aus ihren Fängen zu entrinnen. Gerade aus den schlimmen und noch immer unbewältigten Massentötungen sogenannter Psychisch Kranker unter Mitwirkung von Psychiatern während der unheilvollen Zeit des Nationalsozialismus müssen endlich Konsequenzen gezogen werden. Die Betroffenen dürfen Psychiatern nicht mehr völlig rechtlos ausgeliefert sein...« (Schröder 1982)

Angesichts der ständigen Bedrohung der Menschenrechte von Psychiatriebetroffenen muss der Schutz der Menschenrechte und speziell des Rechts auf körperliche Unversehrtheit den einen Stützpfeiler einer Psychiatriecharta bilden. Nichtpsychiatrische Alternativen für Menschen, die psychosoziale Hilfe, aber keine Diagnosen und Psychopharmaka und Elektroschocks wollen, fehlen allerorts. Deshalb muss ein nicht auf der Psychopharmakaverabreichung aufbauendes psychosoziales Hilfesystem den anderen Stützpfeiler bilden.

Quellen

  • Bergström, Hans: Antwort auf die Frage: »Should we demand special social rights? If so, which rights would be our priorities?«, in: European Network of Users and ex-Users in Mental Health: Our own understanding of ourselves. Report about the seminar in Kolding/Denmark (December 1994)«, Broschüre, 2. Auflage, Rotterdam: European Network of Users and ex-Users in Mental Health 1996, S. 19

  • Förster, Andreas: »Skandal: E-Schock wieder im Aufwind«, in: Münchner Illustrierte, 1988, Nr. 12, S. 21-22

  • Folkerts, Here: »Elektrokrampftherapie – ›Schocktherapie‹ oder ein differenziertes Behandlungsverfahren?«, in: Deutsches Ärzteblatt, 92. Jg. (1995), Nr. 6, S. A358-A364

  • Folkerts, Here: »Elektrokrampftherapie bei neurologischen Krankheiten«, in: Nervenarzt, 66. Jg. (1995), Nr. 4, S. 241-251

  • Heim, Eva: »Elektrokrampftherapie: ›Schocktherapie‹ oder ein differenziertes Behandlungsverfahren?«, in: Deutsches Ärzteblatt, 93. Jg. (1996), Nr. 4, S. C137-C138

  • Kempker, Kempker: Mitgift – Notizen vom Verschwinden, Berlin: Antipsychiatrieverlag 2000 (E-Book 2022)

  • Kempker, Kerstin: Antwort auf die Frage: »Should we demand special social rights? If so, which rights would be our priorities?«, in: European Network of Users and ex-Users in Mental Health: Our own understanding of ourselves. Report about the seminar in Kolding/Denmark (December 1994)«, Broschüre, 2. Auflage, Rotterdam: European Network of Users and ex-Users in Mental Health 1996, S. 20

  • Lehmann, Peter: »Schöne neue Psychiatrie, Band 1: »Wie Chemie und Strom auf Geist und Psyche wirken, Band 2: »Wie Psychopharmaka den Körper verändern«, Berlin: Antipsychiatrieverlag 1996 (E-Books 2022)

  • Paszek, Krystof: Antwort auf die Frage: »Should we demand special social rights? If so, which rights would be our priorities?«, in: European Network of Users and ex-Users in Mental Health: Our own understanding of ourselves. Report about the seminar in Kolding/Denmark (December 1994)«, Broschüre, 2. Auflage, Rotterdam: European Network of Users and ex-Users in Mental Health 1996, S. 20-21

  • Schröder, Gerhard: »Unterstützungserklärung« (Appell an den Bundesgerichtshof zur Bestätigung des Kammergerichtsurteils vom 1.6.1981 über die Gewährung des Rechts auf Einsicht in die eigenen Psychiatrieakten) vom 1.4.1982

  • World Health Organization / European Commission: Balancing mental health promotion and mental health care: A joint World Health Organization / European Commission meeting, Broschüre MNH/NAM/99.2, Brüssel: World Health Organization 1999


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