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in: Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen e.V. (Hg.): "Selbsthilfegruppenjahrbuch 2001", Gießen: Focus Verlag 2001, S. 32-36

Bert Gölden

Selbsthilfearbeit bei Zwangsstörungen: Gemeinsam stark sein!

Erfahrungen eines Betroffenen

In der rheinischen Stadt Düren – gelegen zwischen Aachen und Köln – wurde der Schritt zur Selbsthilfe für zwangserkrankte Personen im Oktober 1996 verwirklicht. Als langjähriger Betroffener nahm ich mich dieser Aufgabe und Herausforderung an unter dem Leitgedanken: "Selbsthilfe macht Selbstbewusst".

Die Zwangserkrankung begleitet mich nun schon seit mehr als 28 Jahren. Die Hoffnung auf Heilung oder Besserung wurde in dieser Zeit nie aufgegeben; positive Veränderungen haben sich aber leider aufgrund einer falsch durchgeführten Behandlung und zudem eines ärztlichen Kunstfehlers nie eingestellt. Ich habe schließlich erkannt, dass Fachleute wie Psychotherapeuten und Ärzte nur Wegbegleiter und Lehrer, jedoch nie alleinige Heiler, sein können. Auch Psychopharmaka sind keine Heilmittel, sondern lediglich Hilfsmittel. Die Aufgabe und Möglichkeit des Mediziners wird nicht selten von Patienten verkannt. Der Erkrankte ist sein eigener Heiler, wobei er sich lediglich von einem Experten auf dem Weg zur Besserung oder Heilung begleiten lassen kann, solange er glaubt, die Hilfe zu benötigen. Die begleitende Hilfe kann auch nur als Stimulans dienen, um die Selbstheilungskräfte im Körper zu mobilisieren. Diese eigene Erkenntnis ist wichtig um Heilungsblockaden aufzulösen. Die Selbsthilfe ist nach wissenschaftlicher Erkenntnis eine bedeutende Ergänzung zu einer fachlich durchgeführten Therapie und somit eine echte Bereicherung in der eigenen gesundheits-orientierten Weiterentwicklung.

Wie alles begann: die Gründungsidee

Die Gründung der Deutschen Gesellschaft Zwangserkrankungen e.V. (DGZ) im August 1995 gab den entscheidenden Anstoß zum Aufbau von Selbsthilfegruppen bundesweit. Nach jahrelangem verstecken meiner Krankheit stimmte es mich glücklich, als in einer Fernsehsendung die DGZ vorgestellt wurde und darin Betroffene offen über ihre Zwangsleiden sprachen. Ich stellte den ersten Kontakt zur DGZ her und ließ mir Infoschriften zusenden. Nach Einsicht dieser Informationen war sofort die Bereitschaft vorhanden, mich für eine Selbsthilfegruppe in meiner Region einzusetzen. Bis zur Gründung einer solchen Gruppe hatte ich einen weiten Weg vor mir, weil auch bei mir die Zwangsstörungen und der damit verbundene soziale Absturz viel Zeit und Kraft beansprucht. Ich wurde mit dem Vorhaben nicht allein gelassen und erhielt ausreichende Unterstützung durch die Gesellschaft aus Osnabrück. Es begann eine interessante Zusammenarbeit, die schließlich zum Erfolg führte.

Schritt für Schritt der Selbsthilfe entgegen

Zuerst begab ich mich auf die Suche nach einem geeigneten Raum für Gruppentreffen. In jeder Stadt gibt es Institutionen, die meist kostenfrei Räumlichkeiten für solche Zwecke zur Verfügung stellen. In Düren wurde ich fündig beim Sozial-Psychiatrischen-Zentrum "Die Kette" e.V., ein Verein zur Förderung psychisch Kranker und Behinderter. Der nächste Schritt bestand darin, zwangserkrankte Personen und deren Angehörige sowie Fachkräfte ausfindig zu machen, um sie für die Gruppe zu gewinnen. Gemeinsam mit der DGZ in Osnabrück habe ich ein Konzept für die Öffentlichkeitsarbeit ausgearbeitet. Es entstand ein ausführlicher Bericht mit Fallbeispielen, den ich der regionalen Presse mit der Bitte um Veröffentlichung überreichte. Der Artikel erschien in der Tagespresse und anschließend noch in einem Wochen-Anzeigenblatt, wobei das Letztgenannte ein viel größeres Interesse auslöste.

Es vergingen einige Wochen, bis endlich erste Adressen von interessierten Personen vorlagen. Als positiv erwies sich hierbei die neutrale, anonyme Kontaktmöglichkeit über "Die Kette" e.V.. Um diese Kontakte nicht wieder zu verlieren war rasches Handeln jetzt wichtig. In einem Gespräch mit der Dipl.-Sozialarbeiterin dieser Einrichtung wurde alles Notwendige für ein erstes Zusammentreffen einer Gruppe festgehalten. Wir entschieden, durch schriftliche Einladungen auf das erste Treffen hinzuweisen. Ich entwarf daraufhin eine solche Einladung in Form eines Briefes. Alle uns vorliegende Interessenten erhielten eine derartige Einladung. Einige Fachärzte und Psychotherapeuten wurden ebenfalls angeschrieben. Die wichtigsten Schritte waren überwunden und wir konnten nur noch das Ergebnis abwarten.

Das erste Treffen: ein voller Erfolg

An diesem Abend wurde ich nicht allein gelassen: Eine Dipl.-Sozialarbeiterin des Hauses bot mir ihre Unterstützung an. Darüber war ich im nachhinein auch sehr froh, weil insgesamt zweiundzwanzig Teilnehmer und Teilnehmerinnen dieses erste Treffen aufsuchten. Fachkräfte aus dem Bereich Zwang waren an diesem Abend leider nicht vertreten. Die große Resonanz der Teilnehmer/innen machte deutlich, dass die Selbsthilfe gewünscht wurde. Nach einer längeren Vorstellungsrunde wurde gemeinsam ein Wochentag überlegt und ausgewählt für regelmäßige Gruppentreffen. Es wurde über Strukturen und Regeln nachgedacht und wie oft die Gruppe sich treffen sollte. Eine große Hilfe war, dass die anwesende Sozialarbeiterin Kenntnisse aus anderen Gruppen einbringen konnte. Einstimmige Entscheidungen wurden allerdings nicht möglich – schließlich wurden Mehrheits-Entscheidungen als Ergebnis gebilligt.

Wissenswertes über die Gruppe – damals und heute

Seit 1996 finden nun regelmäßige Treffen an jedem 2. und 4. Mittwoch im Monat von 19.00 Uhr bis 20.30 Uhr statt. Meist geht es auch weit über die normale Zeit hinaus. Die Gruppe war von Anfang an auch für Angehörige von Zwangserkrankten zugänglich, weil es nicht selten familiäre Probleme aufgrund von Fehleinsicht und Nichtverstehen der Erkrankung gibt. Lehrreiche Informationen werden von Angehörigen gerne angenommen. Gruppenregeln sowie Gruppenstruktur wurden bis heute hin von den meisten Mitgliedern nicht gewünscht bzw. ein lösungsorientiertes Arbeiten demnach nicht eingeführt, was ich selber sehr bedauere. Unser Schwerpunkt bleibt somit der Austausch von Erfahrungen und Erlebnissen. In einer Selbsthilfegruppe finden Zwangserkrankte oft das erste Mal im Leben Kontakt zu Menschen mit gleichen oder ähnlichen Zwängen und Begleiterscheinungen. Im Alltagsgeschehen ist dies deshalb so schwierig, weil viele betroffene ihre Krankheit verheimlichen, um von den Mitmenschen nicht als verrückt angesehen zu werden. Ein gegenseitiges Austauschen von Erfahrungen und Erlebnissen ist den Gruppenmitgliedern deshalb das wichtigste Anliegen, um die eigene Krankheit besser zu erkennen. Die Gruppe hat nur wenige Mitglieder, die für lösungsorientiertes Arbeiten stimmen. In der Gruppe herrscht ein verständnisvoller und offener Umgang miteinander. Empfehlenswert ist es, in Selbsthilfegruppen auf das förmliche "Sie" zu verzichten und auf das ungezwungene "Du" zurückzugreifen, um damit mehr Nähe und Vertrauen zu erwecken. Unsere einzigen Gruppenregeln sind: einhalten von Pünktlichkeit, sich der Anrede Du anpassen, sowie das Einhalten einer Schweigepflicht (alles, was Rückschlüsse auf die Identität eines Gruppenmitgliedes zulässt, darf nicht nach außen getragen werden – lediglich persönliche Erlebnisse und Erfahrungen dürfen mitgeteilt werden).

Es ist zu empfehlen, bei jedem Treffen ein Wechsel in der Gruppenleitung vorzunehmen. Bei gleichbleibender Gruppenleitung ist die Gefahr gegeben, dass der Leiter eine ungewollte Macht in die Gruppe einfließen lässt. In unserer Gruppe ist leider kein Mitglied bereit, die Leitung des Abends zu übernehmen. Jede Form von Macht ausüben ist zu unterlassen und wirkt störend. Merke: Beim Erfahrungsaustausch gibt es kein "richtig" oder "falsch"; jeder sollte sich bemühen, Erfahrungen und Gefühle als solche stehenzulassen und nicht sofort zu bewerten oder zu kritisieren. In diesem Punkt hat die Dürener Gruppe schon mehrmals Probleme bekommen und dadurch auch vereinzelt Teilnehmer/innen verloren.

Zu den Teilnehmerzahlen gibt es folgendes zu berichten: Das zweite Treffen war mit sechzehn Teilnehmer sehr stark besucht. Nach etwa drei Monaten nahm die Teilnehmerzahl deutlich ab; sie reduzierte sich auf zwölf und später auf acht Mitglieder. Der Mitgliederschwund ging weiter, bis dann zwei Jahre nach Beginn nur noch vier Mitglieder der Selbsthilfe angehörten. Neue Mitglieder mussten nun gefunden werden. Dafür habe ich ein Faltblatt als Auslegematerial entworfen. Das Info wurde in Apotheken, Behörden, Arztpraxen, psychologische Praxen und sozialen Einrichtungen zur Mitnahme ausgelegt. Ebenfalls wurde die regionale Presse gebeten, durch Berichterstattung auf Zwangserkrankungen und die Selbsthilfegruppe in Düren hinzuweisen. Der Einsatz wurde belohnt: Seitdem gehören der Gruppe im Durchschnitt sieben bis zwölf Mitglieder an. Das Kommen und Fernbleiben nach Lust und Laune ist für die Gruppenarbeit störend. Wir treffen uns schließlich nur 2mal im Monat, somit bleiben also je nach Monat noch 28 oder 29 Tage für andere Aktivitäten übrig. Dies müsste sich jeder entsprechend einteilen können, ansonsten scheint den Fernbleibenden die Gruppenarbeit nicht so wichtig zu sein. Ein Lob möchte ich denen aussprechen, die durch regelmäßiges Dabeisein die Gruppe fördern.

Die Gefahr der sozialen Isolation

Ein weiteres Minus besteht darin, dass es in all den Jahren des Bestehens nicht gelungen ist, persönliche Kontakte außerhalb der Selbsthilfegruppe aufzubauen; lediglich gibt es vereinzelt telefonische Kontakte. Das kommt einerseits daher, weil Entfernungen bis zu 30 km die Mitglieder voneinander trennen, und andererseits auch deshalb, weil die meisten in der Gruppe noch in Partnerschaften leben und somit keine Einsamkeit kennen und den Bedarf der Kontaktaufnahme nicht spüren. Der durch die Behinderung entstehende Zeitmangel ist ein weiterer Faktor, der zu Kontaktarmut verleiten kann. Freizeitaktivitäten gehören jedoch ebenfalls zu den wichtigen Aufgaben der Selbsthilfe hinzu, um kennenzulernen, dass das Leben noch anderes zu bieten hat als die Einengung durch den Zwang.

Betroffene mit sehr schweren Zwangsstörungen führen häufig ein isoliertes Leben, aus dem sie es allein nicht schaffen auszubrechen. Nach meinen Einschätzungen aus der Arbeit als Regionalbeauftragter der DGZ trifft dies immerhin auf etwa 40 % der Erkrankten zu. Diese finden sich auch nur vereinzelt in Selbsthilfegruppen wieder und schaffen es ebenso nicht, auf Info-Veranstaltungen zu erscheinen. So bleiben sie meist im Dunkeln verborgen. Als erste Maßnahmen sind diesen Betroffenen ausreichende staatliche "soziale Hilfen" zu gewähren, womit sich die Behörden jedoch schwertun. Die Betroffenen brauchen zunächst etwas Greifbares was ihnen Standhaftigkeit verleiht und das Selbstvertrauen steigert, um sich danach Schritt für Schritt auch der Selbsthilfegruppe annähern zu können. Soziale Hilfen sind somit in schwierigen Fällen eine Form von Selbsthilfeförderung für die Betroffenen.

Weitere Mitglieder werben durch Informationsabende

In meiner Funktion als Regionalbeauftragter der DGZ beteilige ich mich zusätzlich am Aufbau und anschließender Durchführung von Informationsabende zu Zwangsstörungen. Damit steht der Selbsthilfegruppe ein weiteres Mittel zur Verfügung, neue Mitglieder zu gewinnen. Zu empfehlen ist dabei, die Öffentlichkeitsarbeit auf bis zu 35 km in umliegende Regionen auszudehnen, und sich nicht nur auf die Stadt zu beschränken, in der die Selbsthilfe angeboten wird. Die Resonanz an den Abenden ist überwältigend und die Gruppe erhält frischen Aufwind durch neue Teilnehmer. Diese Form von Arbeit verleiht mir außerdem mehr Selbstvertrauen und Lebensfreude. Nachahmung wird empfohlen! Der franz. Philosoph René Descartes schrieb einmal: "Ist der Geist von Freude erfüllt, dient dies dem Wohlbefinden des Körpers sehr".

Welche Ziele verfolgt die Selbsthilfe?

Die Selbsthilfe kann für jeden einzelnen Teilnehmer ein Anschub sein, über seine eigene Lebenssituation nachzudenken und die Bereitschaft zu entwickeln, etwas an dieser verändern zu wollen und schließlich für sich auszuprobieren. Es gehört natürlich immer etwas guter Wille dazu, selbst das Einfachste zu begreifen, selbst das Kleinste zu verstehen! Albert Einstein sagte es einmal so: "Inmitten der Schwierigkeit liegt die Möglichkeit".

Leistungen der Selbsthilfegruppe können sein:

  • Gemeinsamer Austausch von Erfahrungen und Erlebnissen

  • Erklärungsmodelle und verschiedene Formen der Zwänge verständlich machen

  • Gegenseitig Motivation aufbauen für Verhaltensänderungen

  • Mehr Lebensfreude und Lebensqualität erfahren in der Vertrautheit der Gruppe

  • Eigene Unsicherheiten und Ängste überwinden sowie das eigene Selbstbewusstsein fördern

  • Die lange Wartezeit auf einen Therapieplatz überbrücken

  • Ausbrechen aus der sozialen Isolation durch Kontakte außerhalb der Gruppe

  • Vermittlung von Adressen: Psychotherapeuten, Fachärzte, Kliniken.

Selbsthilfe ist die aktive Auseinandersetzung mit sich und der eigenen Situation. Durch das lernende Miteinander in den Gruppen entsteht emotionaler Rückhalt. Durch das Wiedererkennen eigener Erfahrungen in den Geschichten der anderen kann das eigene Leben reflektiert werden. Es werden Möglichkeiten deutlich oder es gibt Bestärkung, entweder auf dem beschrittenen Weg weiterzugehen oder Lösungen von anderen für sich als Modell auszuprobieren. Selbsthilfe kann sich lohnen!

Für alle gilt: Hilfe zur Selbsthilfe zu geben und unsere Mitmenschen bei ihrer Selbstklärung sowie der Entfaltung ihres Potentials zu unterstützen ist einer der wichtigsten Beiträge, den wir heute zur Verbesserung der eigenen Lebensverhältnisse und unserer Weltsituation leisten können.


Bert Gölden ist Regionalbeauftragter Nordrhein der Deutschen Gesellschaft Zwangserkrankungen e.V., Osnabrück und Gründer und Ansprechpartner der Selbsthilfegruppe Düren. Er ist Autor eines Erfahrungsberichtes in dem Buch "Psychopharmaka absetzen", Peter Lehmann (Hg.), Berlin: Antipsychiatrieverlag 1998 (eBook 2022). Außerdem organisiert er Informationsveranstaltungen zur Thematik Zwangsstörungen und bietet Einzelgespräche für Betroffene und Angehörige an.