Pfeil Homepage des Antipsychiatrieverlags

in: Kerstin Kempker & Peter Lehmann (Hg.): Statt Psychiatrie, Berlin: Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag 1993, S. 26-59

Kerstin Kempker

Was hilft mir, wenn ich verrückt werde?

Beiträge von Ernst Kostal, Harold A. Maio, Paula Abalanda, E. H.-S., U.N. Terwegs, Zoran Solomun, Irit Shimrat, Maths Jesperson, A. H., Thilo von Trotha, Christa Wyss, Peter Lehmann, Anna Guerrini, Kerstin Kempker, Andy Smith, Kerstin Friebel, J. B.

Verrückt, was heißt das eigentlich? Sind nicht alle verrückt? Und die Verhältnisse erst recht? Muss die Frage nicht lauten, wie Ernst Kostal es in seinem Beitrag vorschlägt: »Wer hilft mir, wenn ich den Wahnsinn der Normalität nicht mehr mitmachen kann noch will?« Und wer braucht Hilfe, wenn ich verrückt werde? War ich früher, als ich für verrückt erklärt wurde, überhaupt verrückt? Was hätte mir damals geholfen, was später und was heute?

Verrücktheit, das ist für die 17 AutorInnen dieses Artikels: Ehrentitel oder Krankheit, Depression oder Erleuchtung, Leiden, Freude, Intensität, Vision, Krise, notwendiges Chaos, befremdlich oder einzig echt. Wo schon die Frage mit so unterschiedlichen Inhalten gefüllt wird, müssen die Antworten erst recht widersprüchlich ausfallen. Sie machen nur dann einen Sinn, wenn sie ganz persönlich und bezogen auf den besonderen Lebenskontext gegeben werden. Sie sind nicht übertragbar und haben viel mit dem Alltag, mit Zeit, Geld, Raum, mit Recht, Arbeit, also mit Politik zu tun, aber auch mit persönlicher Lebensphilosophie, mit Kommunikation und Eigenheit. Die Beiträge von Fachleuten in Sachen eigener Verrücktheit sollen in keiner Weise Patentrezepte sein, geht nicht, gibt‹s nicht, sondern die LeserInnen anregen zu eigenen Überlegungen: was wollte ich wenn. Denn, wenn wir auch hier mit Therapie nichts ›am Hut‹ haben, »auf diese Frage zu antworten ist schon eine therapeutische Aufgabe.« (Anna Guerrini)

Anlass der Frage waren die vielen Anrufe, Briefe und Besuche beim Verein zum Schutz vor psychiatrischer Gewalt, das immer wiederkehrende »Was soll ich nur tun?« von Ausgerasteten und anderen Psychiatriebedrohten, von Angehörigen, FreundInnen und uns selber. Antworten waren – neben Adressen, Infos und Literaturtips – meist persönliche Geschichten und Nachfragen. Das scheint mir die einzig legitime Art zu antworten. Wenn ich mir selber ein Rätsel bin, möchte ich nicht von allen meine Auflösung hören, sondern ich möchte mich mitteilen und gefragt werden. »Aber sie haben mich nie danach gefragt«, sagt Maths Jesperson.

Stattdessen kommen billige Antworten in Mode, Ratgeber zum Umgang mit ›psychisch Kranken‹ wie der kostenlos verteilte »Leitfaden für Angehörige« (bis 1991 schon 86000 Exemplare).

Was Angehörige sich untereinander raten. Beispiel aus einer Bonner Gruppe: (...)
4. Für mich war es hilfreich, in einer besonderen Kladde die Anschriften der Krankenhäuser, Organisationen wie Arbeitsamt, Berufsfeuerwehr, Gesundheitsamt, Polizei u.ä. festzuhalten.
5. Den behandelnden Ärzten sollten wir zeigen, dass wir mit ihnen zum Wohle des Patienten handeln wollen. Man sollte ihnen deshalb Unregelmäßigkeiten, z.B. wenn der Betroffene die verordneten Medikamente nicht oder nur unregelmäßig einnimmt, bzw. wenn sein Verhalten zu Sorgen Anlass gibt, mitteilen. (...)
7. Für den Angehörigen ist es oft schwer, zusehen zu müssen, wenn eventuell auftretende Nebenwirkungen der verordneten Psychopharmaka den Betroffenen stören. Es kommt entscheidend darauf an, dass die Medikamente wie verschrieben eingenommen werden, damit ein Rückfall möglichst vermieden wird. Ich rate im Zweifel, lieber Nebenwirkungen als das Risiko eines Rückfalls in Kauf zu nehmen. (...)
10. Als Angehöriger sollte man lernen, seine Hilfen dem Betroffenen unaufdringlich zu geben. Man darf nie sagen: »Du musst dies oder jenes tun.« (...)
14. Es kann notwendig werden, den schizophren Erkrankten während eines Schubs zwangsweise einweisen lassen zu müssen. Die Erfahrungen haben gelehrt, dass sich kaum ein Arzt bereit findet, die Einweisung zu veranlassen, selbst wenn tätliche Bedrohungen durch den Erkrankten erfolgt sind. In solchen Fällen ist es hilfreich, mit einem erfahrenen Richter beim Vormundschaftsgericht zu sprechen. (»Angehörige« 1991)

Ähnliche Töne schlägt auch »Stimmenreich. Mitteilungen über den Wahnsinn« an, Ergebnis eines sogenannten Psychoseseminars der Hamburger Uni-Anstalt 1989 mit Betroffenen (Diagnose musste nicht nachgewiesen werden!), Angehörigen und Tätigen. Eine Frau schreibt über ihren Freund:

Sein bester Freund überredete ihn dann, ins Krankenhaus zu gehen. Dort hat er dann zwei Tage und Nächte in der Isolierzelle verbracht. Immer, wenn er neu in die Psychiatrie kommt, ist er so psychotisch, dass er immer einige Tage in der Isolierzelle verbringen muss. Er bekam dort hochdosierte Neuroleptika. Jetzt geht‹s ihm schon besser. Er hat seine Spur vergessen und ist freiwillig im Krankenhaus. (Barbara B. 1992)

Wie schön. Man kann doch über alles reden. Kommt alle an den runden Tisch, Täter und Opfer, Freunde und Feinde, zusammen sind wir so betroffen. O-Töne von Psychoseerfahrenen sind gefragt, darüber befinden tun andere. Andere sind auch oft die Betroffeneren:

Andere Mutter: »Sie glauben gar nicht, wie schwer es ist, sein Kind in die Klinik zu bringen. (weint) – Allgemeine Betroffenheit« (»Zumutungen«, S. 160)

Quellen

  • Was Angehörige sich untereinander raten. Beispiel aus einer Bonner Gruppe(1991), in: Familien helfen sich selbst! Ein Leitfaden für Angehörige psychisch Kranker, 6., völlig überarbeitete Aufl., Bonn: Dachverband Psychosozialer Hilfsvereinigungen, S. 29

  • Barbara B. (1992): Die Spur der Verfolger, in: Thomas Bock / J.E. Deranders / Ingeborg Esterer: Stimmenreich. Mitteilungen über den Wahnsinn, Bonn: Psychiatrieverlag, S. 175

  • Zumutungen oder: Sollten Angehörige Übermenschen sein? (1992), in: Thomas Bock / J.E. Deranders / Ingeborg Esterer: Stimmenreich. Mitteilungen über den Wahnsinn, Bonn: Psychiatrieverlag, S. 158-162


© 1993 by Kerstin Kempker, Berlin