Wichtige Stimme außerhalb einer Mainstream-Psychiatrie
Es ist sicher nicht falsch, Peter Lehmann als einen mahnenden Rufer zu bezeichnen. Äußerst kritisch schaut der renommierte Psychiatrie-Kritiker auf den Umgang mit Neuroleptika und Antidepressiva. Dies erscheint notwendig in der psychiatrischen Versorgung, in der manche biologischen Entwicklungen unreflektiert als gegeben hingenommen werden. Oder anders gesagt: kritische Stimmen sind unverzichtbar in einer Zeit, in der viele psychiatrischen Praktiker davon überzeugt sind, dass Menschen in psychiatrischen Krisen unbedingt Medikamente brauchen – quasi als Eintrittskarte für die medizinisch-pflegerische Begleitung.
Natürlich kann man Peter Lehmann entgegnen, dass er Schwarzmalerei mit seiner kritischen Haltung gegenüber Psychopharmaka betreibt. Dies wird der Gründlichkeit und Reflektiertheit seiner Argumentationen nicht gerecht. So lässt es aufhorchen, dass er im Zusammenhang mit der Einnahme von Antidepressiva von chronifizierten Depressionen schreibt, da es zu Rezeptorenveränderungen gekommen sei. So können auch Neuroleptika zu Veränderungen des Nervenreizleitungssystems führen.
Eine zentrale Frage, die sich bei der Einnahme neuroleptischer und antidepressiver Medikation stellt, ist diejenige nach dem Abwägen von Nutzen und Gefahren derselben. Im Buch „Neue Antidepressiva, Atypische Neuroleptika“ macht Lehmann keine klassische Gegenüberstellung ethischer Argumentationen. Die Ausführlichkeit seiner Gefahrenbeschreibungen zeigt auf, wie er sich positioniert. Was noch wichtiger ist: Lehmann unterstreicht, wie unverzichtbar eine solide und gründliche Aufklärung der von einer seelischen Erkrankung Betroffenen und der Angehörigen ist.
Die Einnahme von Psychopharmaka verspricht nicht automatisch Heilung und Genesung. In diesen Tenor stimmen auch Psychiater ein. Lehman hat sich Aderhold, Rufer und Zehentbauer als Komplizen an die Seite geholt, die viele Bedenken seinerseits teilen. So gibt Rufer zu bedenken, dass es keinen ernstzunehmenden Hinweis dafür gibt, „dass irgendein Psychopharmakon eine bessere therapeutische Wirkung hat als Placebos“ (S. 183). Zehentbauer unterstreicht, dass Psychopharmaka keine Allheilmittel, „sondern allenfalls Hilfsmittel bei seelischen Auffälligkeiten, psychischen Störungen und Krisen“ seien (S. 185). Psychopharmaka könnten Anpassungsmittel an die scheinbar herrschende Normalität sein (S. 185).
Stattdessen hält Zehentbauer einen Paradigmenwechsel in der psychiatrischen Versorgung für unverzichtbar: „Aufkommende Stimmungen sollten ausagiert werden, soweit sie nicht schädlich für sich und andere sind …“ (S. 187). Aderhold verstärkt diese Position, indem er weitere Aspekte in den Diskurs einbringt: „Kompetent begleitete langsame Reduktions-und Absetzversuche sind sinnvoll und notwendig, um … die minimale neuroleptische Dosis zu finden und ihre Lebensqualität, Arbeitsfähigkeit und Alltagsaktivität zu verbessern …“ (S. 217).
Lehmanns Buch „Neue Antidepressiva, Atypische Neuroleptika“ ist eine wichtige Stimme außerhalb einer Mainstream-Psychiatrie, die allzu froh ist, wenn keine Störfeuer den Alltag durchbrechen. Gut so, Peter Lehmann.
Peter Lehmann / Volkmar Aderhold / Marc Rufer / Josef Zehentbauer: Neue Antidepressiva, Atypische Neuroleptika – Risiken, Placebo-Effekte, Niedrigdosierung und Alternativen, Peter Lehmann Publishing, Berlin 2017, ISBN 978-3-925931-68-0, 241 Seiten, 19.95 Euro.
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