Unveröffentlichtes) Referat, gehalten im November 2003 vor der Psychosozialen Arbeitsgemeinschaft Tempelhof-Schöneberg von Berlin


Zur Gefahr der Hospitalisierung in der Gemeindepsychiatrie

Hannelore Klafki

Werden Psychiatriebetroffene aus der Klinik entlassen, werden sie mit offenen Armen von der Gemeindepsychiatrie empfangen. Hier sollen sie in ihrem Umfeld vorübergehend nachbetreut und unterstützt werden, damit sie nicht wieder in die Anstalt müssen. Hört sich erst einmal gut an. Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie schnell ich nach der Entlassung aus der Klinik wieder in die Isolation und damit in ein schwarzes Loch stürzen konnte. Vorübergehend kann ein psychosoziales Netz also sehr hilfreich sein. Aber der Markt der privaten Träger boomt. Ich glaube, ich muss hier nicht aufzählen, was inzwischen alles entstanden ist. Offensichtlich ist das ein sehr lukratives Geschäft. Ich sehe, wie sich kleine Vereine zu riesigen Trägern entwickeln, die in einzelnen Bezirken in Berlin ein regelrechtes Monopol haben. Bedingung ist allerdings bei fast allen sehr oft, dass die hier betreuten Menschen weiter Psychopharmaka nehmen und krankheitseinsichtig sind. Einmal im psychosozialen Netz gefangen, gibt es so für die meisten Menschen kein Entkommen mehr. Was ursprünglich ein Netz von Hilfeangeboten sein sollte, erweist sich auf Dauer als ein Netz, in dem Betroffene hängen bleiben.

Ich habe Menschen kennen gelernt, die sich nicht mehr zutrauen, in einer eigenen Wohnung ohne Betreuung zu leben. Ich habe Menschen kennen gelernt, die sich nur noch trauen, in "beschützten" Arbeitsfeldern zu arbeiten, inzwischen auf dem freien Arbeitsmarkt sicher auch nicht die leiseste Chance hätten. Ich habe Menschen kennen gelernt, die ihre Zeit nur noch in Kontakt- und Begegnungsstätten verbringen und nur in Begleitung "raus" gehen. Das alles obwohl (oder vielleicht gerade weil?) sie seit vielen Jahren betreut werden! Es wurde und wird immer noch so viel von Enthospitalisierung geredet. Wer enthospitalisiert die NutzerInnen (und MitarbeiterInnen!) aus der Gemeindepsychiatrie?

Ich habe mir viele Gedanken darüber gemacht, wie es zu einer Chronifizierung und Hospitalisierung in der Gemeindepsychiatrie kommen kann. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass u.a. die oft sehr defizitorientierte Sichtweise vieler Psychiatrie-Mitarbeiter/innen eine wesentliche Ursache ist. Um zu verdeutlichen, was ich meine, möchte ich etwas ausholen.

Ende des 19. Jahrhunderts lebte in London ein Mann namens Francis Galton. Er war ein Vetter Darwins und einer der klügsten Köpfe seiner Zeit. Er begründete die moderne Erblehre und befasste sich u.a. auch mit psychologischen Problemen. Eines Tages machte er folgenden Gedanken-Versuch: vor seinem morgendlichen Spaziergang stellte er sich ganz fest vor: "ich bin der meistgehasste Mensch Englands!" Nachdem er sich einige Minuten auf diese Vorstellung konzentriert hatte – praktisch eine Selbsthypnose – trat er seinen Spaziergang an wie immer. Doch das schien ihm nur so. Denn tatsächlich passierte folgendes: einige Passanten riefen ihm Schimpfworte zu oder wandten sich mit Gebärden der Abscheu von ihm. Ein Hafenarbeiter rempelte ihn im Vorbeigehen mit dem Ellbogen, so dass er hin fiel. Sogar auf Tiere schien sich diese Animosität gegen ihn zu übertragen. Denn als er an einem Droschkengaul vorbei ging, schlug dieser aus und trat ihm in die Hüfte, so dass er wiederum hinfiel. Als es daraufhin einen kleinen Volksauflauf gab, ergriffen die Leute auch noch für das Pferd Partei – worauf Galton das Weite suchte und in seine Wohnung flüchtete.

Diese Geschichte ist verbürgt und findet sich in etlichen englischen und amerikanischen Psychologiebüchern unter dem Titel: "Francis Galton`s famous walk". Warum erzähle ich Ihnen diese Geschichte? Ich möchte dass Sie sich für die Arbeit mit Ihren KlientInnen zwei Lehren aus Ihrer Ausbildung in Erinnerung rufen:

  1. Der Mensch ist das, was er denkt.

  2. Es ist nicht nötig, der Umwelt seine innere Einstellung durch Worte mitzuteilen, die Menschen "erspüren" sie auch so.

Gerade der letzte Punkt wurde durch zahlreiche Untersuchungen, die sich mit dem Phänomen Körpersprache befassen, belegt. Wir alle analysieren auf einer unterbewussten Ebene genau die Körpersprache und den Klang der Stimme anderer Menschen und "wissen" damit oft, wie jemand uns gegenüber eingestellt ist. Und dieser Tatbestand ist Teil des Phänomens, das der "Pygmalion-Effekt genannt wird. Entscheidende Versuche zum Pygmalion-Effekt stammen von Robert Rosenthal, Professor für Sozialpsychologie aus den USA.

Rosenthal studierte den Einfluss bestimmter Erwartungen auf das Verhalten von Menschen (am Beispiel von Lehrern und Schülern) und Tieren (am Beispiel von Versuchen mit Ratten).

Hier zwei Beispiele:

In einem Ferienlager waren 14-jährige Jungen und Mädchen zusammen, um das Schwimmen zu lernen. Der einen Hälfte der Schwimmlehrer wurde zugesteckt, dass in ihren Gruppen nur Jugendliche waren, die schon mehrmals vergeblich versucht hätten das Schwimmen zu erlernen. Der anderen Hälfte der Lehrer wurde gesagt, bei ihnen wären alle Schwimmtalente zusammen gefasst. Die Jugendlichen aus der zweiten Gruppe – also die, die angeblich aus Talenten bestand – konnten am Ende des Kurses wesentlich besser schwimmen als die anderen.

von Ratten. Er forderte von seinen Studenten, Ratten so anzuleiten, dass sie aus einem Labyrinth wieder herausfinden. Der Hälfte der Studenten wurde erzählt, die Ratten wären bei anderen Versuchen durch besondere Intelligenz aufgefallen, den anderen Studenten wurde gesagt, ihre Ratten wären gestört und dumm. In Wirklichkeit gab es natürlich keinen Unterschied zwischen den Tieren.

Die Leistungen der beiden Gruppen unterschieden sich wesentlich von einander:

Die Ratten, die von ihren Studenten für intelligent gehalten wurden, verbesserten die Leistungen von Tag zu Tag. Die angeblich dummen Ratten schnitten schlecht ab. In 29% der Fälle weigerten sie sich schon beim Start, sich von der Stelle zu rühren. Solche Widerspenstigkeit trat bei den angeblich intelligenten Ratten nur in 11% der Fälle auf.

Als Quintessenz seiner Versuchsergebnisse entwarf Rosenthal folgende 4-Faktoren-Theorie:

Menschen, die eine positive Erwartung in ihre SchülerInnen oder KlientInnen setzen,

  • scheinen um diese Gruppe herum ein wärmeres sozio-emotionales Klima zu erzeugen;

  • scheinen dieser Gruppe mehr Feedback über ihren Leistungsstand zu geben;

  • scheinen dieser Gruppe mehr Informationen zu geben und höhere Anforderungen an sie zu stellen;

  • scheinen dieser Gruppe mehr Gelegenheit zu Frage und Antwort zu geben.

Weitere wichtige Ergebnisse aus der Studie:

  1. Lehrer, die glauben, es mit einem guten Schüler zu tun zu haben, lächelten ihn eher an, machten zustimmende Kopfbewegungen, beugten sich zu ihm rüber und schauten ihm länger in die Augen.

  2. Gute Schüler erhalten stets mehr Feedback – egal, ob ihre Antwort richtig oder falsch ist.

  3. Lehrer spornen Schüler, von denen sie mehr erwarten, auch dazu an, häufiger Antworten zu geben. Sie rufen sie häufiger auf, geben ihnen schwierigere Nüsse zu knacken, räumen ihnen mehr Zeit für die Antwort ein, und helfen ihnen, bis sie die richtige Lösung finden.

  4. Wenn Kinder, die vom Lehrer als unbegabt angesehen werden, gute Leistungen erbringen, so ziehen sie sich den Unmut des Lehrers zu. Mit anderen Worten, eine unerwartete Leistung ist für den, der sie erbringt, mit Risiko behaftet. Weil der Lehrer den Schüler nicht für seine Leistung belohnt, sondern ihn bestraft, weil er den Erwartungen des Lehrers nicht gerecht wurde (s. Michael Birkenbihl: "Train the Trainer", Verlag Moderne Industrie 1991).

Warum habe ich Ihnen das erzählt? Ich setze hier das Lehrer-Schüler-Verhältnis mit Mitarbeiter-Klienten-Verhältnis gleich. Wenn mir immer nur erzählt wird, wie schwer psychisch krank ich sei, trau ich mir nichts mehr zu, gebe mich auf und falle in eine Opferrolle. Ich erwarte Hilfe nur noch von außen (durch Medikamente und Betreuer) und komme überhaupt nicht auf die Idee, auch allein etwas zu können. Dann erfüllt sich der oben beschriebene Pygmalion-Effekt und ich bin ein hoffnungslos krankes Opfer. Ich bitte Sie, überprüfen Sie Ihre Haltung und sehen Sie uns in erster Linie als lernfähige Menschen an.

Wie ich selber haarscharf an der Chronizität vorbeigeschrammt bin, können Sie in meinem Referat "Vom Opfer zur Expertin in eigener Sache" nachlesen.