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zu Teure Verständnislosigkeit
Kerstin Kempker
Teure Verständnislosigkeit Die Sprache der Verrücktheit
und die Entgegnung der Psychiatrie
Rezensionen
Ursula Zangger Zürich, in: Störfaktor
Zeitschrift kritischer Psychologinnen und Psychologen (Wien),
4. Jg. (1990), Nr. 15/16, Heft 3/4, S. 103-104
»Das System der Sprache, ist man einmal drin, ist ein hermetisch
geschlossener Käfig.« Deshalb versteht sogleich jede/r, wenn
der Schweizer Schrift- und Fallensteller Jürg Laederach weiterhin
ausruft: »Ich leide an der Sprache wie ein Tier.« Fangen wir
an, über diese Sätze nachzudenken, so werden wir ihm bald Gesellschaft
leisten und sind besser beraten, schnell weiterzulesen und ihn bei seinen
Klagen ohne uns zu lassen. »Kein Mensch interessiert sich (für
die Sprache), und es werden täglich weniger.«
Kerstin Kempker stellt mit ihrem Buch »Teure Verständnislosigkeit
Die Sprache der Verrücktheit und die Entgegnung der Psychiatrie«
nicht nur ihr Interesse unter Beweis, sondern auch, dass dies nicht nur
für ausgefuchste LiteratInnen spannend und interessant sein kann.
Ausgehend von einem strikt antipsychiatrischen Ansatz unternimmt die Autorin
eine Reise in die Sprache, oder meinetwegen in den Käfig, bei der
einem so manches Mal Hören und Sehen vergeht. Wer und zu welchem
Zwecke sagt: »Das ist Verrücktheit«? Wie verrückt
ist die Normalität? Wer hat hier das Sagen?
Es sind die Fragen in diesem Buch, die die Tatsachen in Bewegung bringen
und verrücken: »Was veranlasst Menschen, verrückt zu werden?
Was veranlasst Menschen, nicht verrückt zu werden?« Kerstin
Kempker stellt diese heiklen Fragen mit Hilfe einer Methode, die sie davor
bewahrt, über die eigenen Ansprüche zu stolpern: in beiden Teilen
des Buches lässt sie Sprache im Zitat vor allem sich selbst darstellen.
Obwohl die Rezensentin an dieser Stelle versichert, nie selbst diagnostiziert
worden zu sein, war ihr merkwürdig unheimlich. Kurz und gut, die
Institution bzw. das Wirtschaftsunternehmen Psychiatrie stellt sich in
diesem ersten Kapitel selbst vor, bis zu Werbeinseraten für narkotisierende
Neuroleptika. Wer einer härteren Realitätsvergewisserung
bedarf, kann hier Stimmen von Opfern dieser gesellschaftlichen Ausgrenzung
und Eliminierung nachlesen. Viele der Zitate vor allem des zweiten Teils
stammen von SchriftstellerInnen wie A. Artaud, I. Bachmann, S. Beckett,
S. Plath u.a. Ohne es vielleicht zu wissen, hat die Autorin im Werk der
Ingeborg Bachmann nicht nur ihre wichtigste Zeugin, sondern auch ein Vorbild
ihrer Methode. In ihrer Dissertation über Heidegger bricht der philosophische
Diskurs mit einem Sonett Baudelaires ab und dem Hinweis, Grunderfahrungen
wie Angst entzögen sich dem wissenschaftlichen Sprechen.
Der zweite Teil »Sprache im Niemandsland« zeichnet die Wirkungsweise
von Sprache nach, wie sie die sogenannte Wirklichkeit überhaupt erst
schafft und konstruiert. Das Werk Paul Watzlawicks bildet hier den fundierten
Hintergrund. Ein Verdienst der Darstellung ist es, auf ein modisches Wechselbalg
der psychiatrischen Ausgrenzung von Verrücktheit aufmerksam zu machen,
auf »die literarische Mode Wahnsinn«. Eine verklärende
utopisch-romantische Gegenwelt von der reichen Erfahrungswelt der Krankheit
ist die böseste Fiktion und wohl die perfideste Art der Ausgrenzung.
Kerstin Kempkers Buch hat eine reinigende Wirkung, es ermöglicht,
Abstand zu gewinnen vom selbstverständlichen Sprachgebrauch und von
falschen und unklaren Vorstellungen von der tatsächlichen Vorgehensweise
der Psychiatrie, die diese schützen. Die Ausgrenzung der sogenannt
Verrückten findet eben nicht am Rande der Gesellschaft und durch
anonyme Institutionen statt. Jede/r ist beteiligt und beteiligt sich an
ihren Mechanismen und gerät auch nur allzu schnell selbst ins klebrige
Netz. Schon im Jahre 1511 ließ Erasmus von Rotterdam seinen Toren
und Verrückten ausrufen: »Niemand darf von mir erwarten, dass
ich nach der gewöhnlichen Schulmethode den Begriff meines Selbst
definiere oder gar einteile.« Wie schwierig ein solcher Anspruch
durchzuhalten ist, davon gibt Kerstin Kempkers eigenwilliges, aber um
so wertvolleres Buch vieleviele Anschauungen. Es erweitert unseren Wirklichkeitssinn
mit sowohl Verstandeskraft wie auch vitaler Möglichkeitssinneslust
mit Musil gesprochen , selbst wenn wir nun zu denen gehören
sollten, die an der Sprache leiden wie ein Tier.
Heiner Keupp, München, in: Psychologische
LiteraturUmschau Kritische Rezensionszeitschrift für Psychologie
(BRD) , 2. Jg. (1992), Heft 1, S. 7-10
Radikale Parteilichkeit für Psychiatrie-Betroffene
- Uta Wehde: Das
Weglaufhaus Zufluchtsort für Psychiatrie-Betroffene
-
Kerstin Kempker: Teure Verständnislosigkeit
Verstummt sind sie noch nicht, die antipsychiatrischen Stimmen, aber
sie sind leiser geworden. Eine Stimme jedoch ist deutlich vernehmbar:
Der Verein zum Schutz vor psychiatrischer Gewalt e.V. und Peter Lehmann
(die beide aus der Irrenoffensive hervorgegangen sind). Und diese Stimme
hat sich nun auch einen bemerkenswerten Verlag
[
Richtigstellung] zugelegt, den Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag.
Das erste Buch »Der
chemische Knebel« von Peter Lehmann wurde gleich zu einem großen
Erfolg. Jetzt sind zwei weitere Bücher in seinem Verlag erschienen.
Die Antipsychiatrie wird mit ihnen vielstimmiger.
zu a) Uta Wehde hat mit ihrem Buch eine der frühen Forderungen
der Irrenoffensive aufgegriffen: Das »Weglaufhaus« als alternative
Institution für Psychiatrie-Betroffene, die sich dem Zugriff oder
der »fürsorglichen Belagerung« durch psychiatrische Institutionen
entziehen wollen. Die Autorin ist aktives Mitglied der Weglaufhaus-Projektgruppe,
die der »Verein zum Schutz vor psychiatrischer Gewalt« gebildet
hat, um selbst eine solche Alternative für Psychiatrie-Betroffene
in Berlin aufzubauen. Uta Wehde ist während ihres Psychologiestudiums
auf der Suche nach Alternativen zur Psychiatrie zu dieser Projektgruppe
gestoßen. Der Selbstmord ihres Bruders während psychiatrischer
Behandlung gab den Anstoß für diese Suche.
Das Buch von Uta Wehde verfolgt zwei Ziele: Zum einen wird die Notwendigkeit
von alternativen Institutionen für Psychiatrie-Betroffene und das
Konzept des Weglaufhauses dargestellt und begründet, zum anderen
werden Erfahrungen aus Holland kritisch evaluiert.
Uta Wehde geht von der Annahme aus, dass im psychosozialen System oder
psychiatrischen Netz die Bedürfnisse der Betroffenen keinen zentralen
Orientierungspunkt bilden. Die ExpertInnen verschiedener fachlicher Provenienz
formulierenden Bedarf an fachlicher Hilfe, die natürlich im »wohlverstandenen
Interesse« der Betroffenen sei und gerade deshalb auch gegen den
Willen der Betroffenen zur Anwendung kommen kann. Das am medizinischen
Modell orientierte Denken in der Psychiatrie wird dafür verantwortlich
gemacht, dass die Bedürfnisse der Betroffenen im Zweifelsfall übergangen
werden, weil sie ja als Ausdruck ihrer »Verrücktheit« interpretiert
werden können. Das theoretische und praktische Inventar des psychosozialen
Expertensystems wird jeweils mit exemplarischen Sichtweisen von Betroffenen
konfrontiert. Selbst wenn deren Stimmen nicht ohne weiteres als repräsentative
Äußerungen des durchschnittlichen Psychiatrie-Betroffenen gewertet
werden können, zeigen sie doch eindrucksvoll, dass die professionelle
Unterstellung, »zum Wohle« der Betroffenen zu handeln, ein höchst
fragwürdiges Konstrukt darstellt.
Als alternative Orientierung zu diesem expertInnendominierten Ansatz
schlägt Uta Wehde das Konzept der »NutzerInnenkontrolle«
vor:
»Eine radikale Orientierung an den Bedürfnissen der
Betroffenen bei einer qualitativen Umgestaltung des psychosozialen Systems
ist unabdingbar. Das Problem sozialer Kontrolle im Fürsorgebereich
und besonders im Bereich Psychiatrie kann nicht gelöst werden, wenn
nicht Möglichkeiten für eine Kontrolle durch die NutzerInnen
geschaffen werden... letztlich können nur die Betroffenen selbst,
als Nutzer, entscheiden, was sie von den Angeboten der Professionellen
halten und welche sie als hilfreich erleben« (S. 19).
Das Weglaufhaus war für die Irrenoffensive eine exemplarische Realisierung
dieser Forderung nach Betroffenenkontrolle. Der Verweis auf die Existenz
solcher alternativer Institutionen in Holland war die Antwort auf den
Vorwurf des Utopismus. Es ist eine wichtige Etappe in der Diskussion um
Weglaufhäuser, dass Uta Wehde sich die holländische Realität
selbst angeschaut hat und mit diesem Buch das Ergebnis ihrer kritischen
Evaluation vorlegt. Die kritische Realitätsprüfung hat keineswegs
die Forderung nach einem Weglaufhaus unterminiert, sondern sie differenziert
und zur Entwicklung von institutionellen Anforderungsprofilen geführt.
Die Grundpfeiler der Weglaufhäuser werden in der Trias »Existenzraum«,
»Freiraum« und »Unterstützung« benannt.
Für Uta Wehde zeigen die holländischen Beispiele, dass Weglaufhäuser
auf der Basis rein ehrenamtlicher Tätigkeit nicht funktionieren können
oder nur um den Preis, dass sich das Spektrum der Betroffenen, die unter
solchen Bedingungen den Weg zu einem selbständigen Leben gehen, sehr
einschränkt. Gerade für diejenigen, die sich mit massiven psychosozialen
Problemen auseinanderzusetzen haben, wird das zuverlässige Unterstützungspotential
zu gering:
»Da viele Betroffene, die ins Weglaufhaus kommen, nicht
nur ein Bedürfnis nach einem Zimmer und einer lebenspraktischen Hilfestellung
durch die MitarbeiterInnen haben, sondern auch ein Bedürfnis nach
emotionaler Zuwendung und nach Unterstützung bei emotionalen Problemen,
ist die Gruppe von Betroffenen sehr klein, für die das Weglaufhaus
... unter den derzeitigen Bedingungen den richtigen Ort darstellt«
(S. 128)
Die Folge dieser unzureichenden Ressourcen ist eine hohe Fluktuation
und die resignierte Rückkehr in psychiatrische Institutionen. Wenn
Uta Wehde dann auch noch betont, welch große Bedeutung das soziale
Netzwerk für eine positive Lebensperspektive der Betroffenen hat,
dann ist auf einmal gar nicht mehr so einsichtig, warum eine so klare
Grenzziehung zu sonstigen sozial-psychiatrischen Institutionen auf Reformniveau
vorgenommen wird.
Ein zentrales Unterscheidungskriterium ist die Stellung zu Psychopharmaka.
Für die Autorin ist die Arbeit in einer alternativen Institution
unvereinbar mit Psychopharmaka. Ein zweiter Differenzpunkt wird von der
Autorin als »kritisches Bewusstsein« bezeichnet ein nicht
gerade einfach zu konkretisierendes Kriterium. Zumindest meint es die
Erkenntnis, dass die Menschen, die vor den bestehenden psychiatrischen
Einrichtungen davonlaufen, dafür »gute Gründe« haben,
und dass sie am Aufbau und der Arbeit alternativer psychosozialer Institutionen
beteiligt sein müssen. Dass diese Forderungen politisch quer liegen,
zeigt der Anhang des Buches: Hier wird die Geschichte des Weglaufhausprojektes
in Berlin ausführlich dokumentiert. Es ist finanziell noch immer
nicht gesichert. Das Buch von Uta Wehde imponiert mir durch seine Klarheit
der Sprache und der Gedankenführung. Es liefert nützliche Informationen
über Idee und Wirklichkeit der Weglaufhäuser. Es ist pragmatisch
und radikal zugleich.
zu b) Spricht Uta Wehde eher die Sprache der Sozialwissenschaften
und einer radikalen Sozialpsychiatrie, so sucht das Buch von Kerstin Kempker
einen Zugang zur »Sprache der Verrücktheit«, und sie ist
um eine Darstellungsform bemüht, in der die objektsprachliche Form
überwunden werden kann, durch die das »Andere der Vernunft«
dingfest gemacht und damit zugleich ins »Niemandsland« gedrängt
wird. Es ist ein Buch, das Anschluss an David Coopers gleichnamigen Klassiker
der Antipsychiatrie sucht. Psychiatrie (und jedesmal ist dabei in Klammern
»Psychologie« zu ergänzen) gerät nicht auf der Ebene
spezifischer Institutionen und ihrer Interventionsspielräume ins
kritische Visier, sondern auf der fundamentalen Ebene der Grenzwächterfunktion
zwischen Normalität und Verrücktheit. Kerstin Kempker stellt
sich Fragen von folgendem Kaliber:
»Welche Ängste schürt verrücktes, unbegreifliches
und unberechenbares Verhalten, dass mit einem solch massiven Aufgebot,
wie es die totale Institution Psychiatrie im Pakt mit der
Jurisprudenz ist, darauf reagiert werden muss?« (S. 7). Oder: »Was
veranlasst Menschen, verrückt zu werden? Was veranlasst Menschen,
nicht verrückt zu werden?« (S. 8)
Auf diese Fragen gibt das Buch letztlich keine expliziten Antworten,
gleichwohl fand ich sie legitim. Sie richten den Blick auf Dimensionen,
die die fachwissenschaftlichen Diskurse meist ausklammern.
Was macht die rigide und von den psychosozialen Professionen und Institutionen
bewachte Grenzziehung zwischen Normalität und Wahnsinn nötig?
»Dem Irrationalen wird jenseits der Freiheit ein
Schattenreich zugewiesen, das abschreckend genug ist, um seiner Versuchung
nicht zu verfallen, und feste Grenzen hat, die den Herrschaftsbereich
der Vernunft von außen abstecken« (S. 64).
Die uns alltäglich aufgenötigte Identität soll sich diesem
Schattenreich fernhalten und ist gleichzeitig »sehr brüchig«
und doch immer wieder gefährdet, aus dem Herrschaftsbereich dieser
einengenden Vernunft herauszufallen. Der Dialog mit diesem »Anderen
der Vernunft« ist nicht erwünscht, er könnte die Grundlagen
unserer verinnerlichten Zivilisation gefährden. Die Sprache unseres
Alltags ist allerdings so stark von der instrumentellen Vernunft bestimmt,
dass mit ihr dieser Dialog gar nicht möglich wäre. Kerstin Kempker
formuliert das sehr schön so:
»Sie (die Sprache, H.K.) ist, mit allen Beschränkungen
und Eigentümlichkeiten, die Muttersprache des Vaterlandes
Vernunft, also identitätsstiftend für die, die in ihren Grenzen
beheimatet sind.« (S. 65)
Die Autorin folgt den Spuren Foucaults, der in seiner Geschichte der
Psychiatrie so treffend aufgezeigt hat, dass gerade die Psychiatrie (und
auch die Psychologie), die sich als Spezialdisziplin für das »verrückte
Sein« etabliert hat, dessen Sprache nicht mehr versteht. Foucault
nennt die Sprache der Psychiatrie einen »Monolog der Vernunft«,
sie wird so lange nichts verstehen (übrigens das zentrale Psychosekriterium
von Karl Jaspers), wie sie die Vernunft-Hermetik ihrer eigenen Sprache
und Weltsicht nicht aufzubrechen vermag.
Kerstin Kempker versammelt in einer Art Collage einer Fülle von
Zitaten das antipsychiatrische und psychiatriekritische Erbe und konfrontiert
es mit dem Selbstverständnis der Psychiatrie, in ihrer klassischen
wie auch in ihrer modernisierten Variante. Ich halte es für wichtig,
in dieser Form dem kollektiven Vergessen dieses wichtigen Erbes entgegenzuwirken.
Aber die Collage wird erst dadurch zu einer bewegenden Konfrontation,
dass Äußerungen von Antonin Artaud, Ingeborg Bachmann, Sylvia
Plath, Robert Walser oder Unica Zürn einbezogen sind, also Äußerungen
von SchriftstellerInnen, die über die Grenzen der instrumentellen
Vernunft hinaus gelebt und geschrieben haben. In diesen Texten ist gewagt
worden, »den Radius des Denk-, Sag- und Machbaren zu erweitern«
(S. 113). Genau dadurch würde »der eigene Lebensraum mehr Spiel
(erhalten)«, und eine Gesellschaft, die sich durch Ausgrenzung von
Verrücktheit auszeichnet, »beschneidet ... ihre eigene Vitalität«
(ebd.). Eine Gesellschaft, die das Verrückte nicht mehr zu verfolgen
bräuchte, könnte in ihm einen »wichtigen und ergiebigen
Hinweis auf bisher ungeahnte Entfaltungsmöglichkeiten« erkennen.
Mich hat die Lektüre von Kerstin Kempkers Buch gefesselt, und ich
habe es auch dann nicht enttäuscht zur Seite gelegt, als mir klar
wurde, dass es die anfangs gestellten Fragen letztlich doch nicht definitiv
beantworten konnte. Aber es liefert ein collageartiges assoziatives Netz
von Erfahrungen, Wahrnehmungen und Einsichten, die sich bei mir zu einer
Perspektive verdichtet haben: Unsere Identitätsgehäuse reduzieren
humane Entfaltungspotentiale in einem hohen Maße. Offensichtlich
braucht die moderne bürgerlich-kapitalistische Gesellschaftsform
eine in diesen Identitätsgehäusen eingesperrte Normalität,
und sie wird in einer Vielzahl von Institutionen und alltäglichen
Relaisstationen mit großem Aufwand reproduziert. Wäre sonst
verständlich, dass es sich diese Gesellschaft so viel kosten lässt,
die Normabweichungen zu kontrollieren, zu modifizieren oder zu internieren?
(Dies kommt in dem Buchtitel »Teure Verständnislosigkeit«
zum Ausdruck.) Eine solche Perspektive müsste natürlich theoretisch
befriedigend eingeholt werden.
Der neue Verlag hat sich mit seinen bisherigen drei Büchern bereits
als ein unverzichtbares Projekt erwiesen. In welchem etablierten Verlag
hätten diese Bücher erscheinen können? Die radikale Parteilichkeit
für Psychiatrie-Betroffene wirkt in einem Verlag besonders glaubwürdig,
der aus einer Betroffeneninitiative entstanden ist.
Richtigstellung: Die Verlagsgründung entstand
nicht aus der genannten Betroffeneninitiative, sondern war ein individueller
Schritt in Richtung geistiger und ökonomischer Freiheit und Unabhängigkeit.
(P.L.)
Lucinda Bee, in: FAPI-Nachrichten,
26. Februar 2007
Warum nicht in der verrückten Sprache glücklich sein?
»Teure Verständnislosigkeit« ist ein mutiges Buch, das
die tabuisierten Ränder zu verrücktem und als krank diagnostiziertem
Verhalten nicht außen, sondern im Zentrum des sozialen Bandes
in der Sprache sucht. Kerstin Kempker hat hier die künstlerische
Produktion, besonders die literarische Sprache, in den Fokus gerückt.
Nicht um sich akademisch korrekt in einem Metadiskurs zu etablieren, um
von sicherer Warte psychiatrisierende, germanistische oder sonst wie abgeklärte
Urteile ergehen zu lassen. Mit einer an Unbesonnenheit grenzenden Offenheit
hat sie sich auf die Suche zu sich selbst gemacht, zum eigenen (sprachlichen)
Ausdruck.
Keine leichte Lektüre, hangelt sich die Autorin doch manchmal allzu
offensichtlich an einem antipsychiatrischen Raster entlang, dem die Sache
gelegentlich zu entgleiten droht.
Bestrickend wirken Kerstin Kempker Untersuchungen andererseits durch
die Intensität der Befragung des künstlerischen, besonders des
literarischen Ausdrucks (auch Graphiken und Bilder sollen hier zur Sprache
kommen).
Eine Empfehlung für alle, die in der Literatur mehr und dringlicher
suchen als das bloße Klischee vom wunderlich verrückten Schriftsteller,
das sich so gut einzupassen versteht, in das eng umfriedete angepasste
Leben eines Lesers, der mehr wünschte, wenn er Worte fände.
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