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des Antipsychiatrieverlags
Online-Publikation vom 4. Januar 2000
Peter
Lehmann
Die besonderen Gefahren der Verabreichung
psychiatrischer Psychopharmaka an alte Menschen
Der Respekt vor den Ärzten ist ungebrochen. Er führt
letztendlich dazu, dass sich alte Menschen und ihre Angehörigen
bedingungslos in deren Hände begeben, wenn es zu Problemen
und Störungen im Alter kommt.
Der Zweig der Geriatrie, der Lehre von den Erkrankungen im Alter,
ist noch jung. Nur wenige Ärzte haben darüber Kenntnisse.
Manchmal sind die examinierten AltenpflegerInnen durch ihre spezielle
Ausbildung im Bereich der Gerontologie erfahrener, scheitern jedoch
daran, ihr Wissen umzusetzen, da sie zu Erfüllungsgehilfen
der Ärzte degradiert werden und die Hürde der Hierarchie
nicht zu übersteigen wagen. Das Resultat wird im Feature »Dem
eigenen Ableben emotionslos zusehen Psychopharmaka in Altenheimen«
von Bernd Kempker (Hörkassette, Berlin: Antipsychiatrieverlag
2000) deutlich: fachlicher Rückzug oder ausbleibendes Interesse
an Weiterbildungen.
Der in der Geriatrie mangelhaft ausgebildete Arzt findet nur oberflächlichen
Zugang zu dem hilfesuchenden Menschen. Dazu kommt ein marktwirktschaftlich
orientiertes Abrechnungssystem der Krankenkassen; diese bezahlen
zwar alle möglichen und unmöglichen Verordnungen, nicht
aber notwendige intensive Gespräche, die die Ursachen von Problemen
aufspüren und einfache, evtl. naturheilkundliche Lösungsmöglichkeiten
aufzeigen könnten.
Überforderte Allgemeinärzte schicken die wiederum überforderten
alten Menschen von einem Facharzt zum anderen, mit dem Ergebnis,
dass sie meist ohne wirkliche Hilfe wieder beim überweisenden
Arzt ankommen. Dieser greift dann aus Hilflosigkeit, Unwissenheit
oder Zeitmangel zu ruhigstellenden, jedoch mit vielen Gesundheitsrisiken
behafteten Psychopharmaka. Der Leidensweg beginnt. Frauen sind vom
Verschreibungsrisiko besonders betroffen. In manchen Altenheimen
erhalten mehr als 60% aller BewohnerInnen Psychopharmaka (Tendenz
steigend) häufig in Form von besonders schädlichen
Mehrfachverordnungen von mitunter zehn und mehr unterschiedlichen
Psychopharmaka und Medikamenten mit der Folge, dass sie ihre
letzten Lebensjahre verdämmern. Hilfreich wäre statt dessen
ein ganzheitlicher Ansatz: mit vertrauensvoll geführten Gesprächen
über persönliche Lebensumstände und durchlebte Krankheiten
bei gleichzeitiger sozialer Unterstützung.
Psychopharmaka aller Art, insbesondere Antidepressiva und Neuroleptika
(wie z.B. das bekannte Haldol), sind in der Arztpraxis und im Altersheim
die häufigste Antwort auf psychische Probleme, wie einige Studien
zutage brachten. Dabei sind alte Menschen in einer Vielzahl von
Gesundheitsstudien längst als besondere Risikogruppe unter
Psychopharmakabehandelten identifiziert: Zusatz- und Folgerisiken
betreffen alte Menschen besonders wegen ihrer nachlassenden Widerstandskraft
gegen die psychopharmakologischen Wirkungen. Sie verbrühen
sich in psychiatrischen Einrichtungen unter der Wirkung von Psychopharmaka
häufiger als in psychopharmakafreiem Zustand, prallen unter
Psychopharmaka häufiger gegen Möbel, kippen unter Psychopharmaka
häufiger um, fallen im Krankenhaus unter Psychopharmaka häufiger
aus dem Bett, stürzen unter Psychopharmaka häufiger beim
Gang zur Toilette, erleiden somit unter Psychopharmaka häufiger
Schürfwunden, Blutungen und Brüche und ziehen sich in
Altenheimen unter Psychopharmaka häufiger Oberschenkelhalsbrüche
zu. Speziell alte Menschen sterben eher an Arzneimittelreaktionen.
Die American Psychological Association legte 1989 eine Studie
vor, in welcher ihr Direktor Bryant Welch ausführte, alte Menschen
würden zu oft »sinnlos und unmenschlich allein gelassen
und psychologisch einem medikamentenbedingten Stupor ausgesetzt«;
Psychopharmaka würden missbräuchlich verschrieben, um
das Verhalten alter Menschen zu kontrollieren.
Studien in mehreren Ländern zeigten bei alten Menschen außerordentlich
hohe Sterblichkeitsraten innerhalb kurzer Zeit psychopharmakologischer
Behandlung. Ein Bericht des US-Department of Health and Human Services
von 1989 führte die Todesursache von US-Amerikanerinnen und
US-Amerikanern über 60 Jahre in 51% und die Hospitalisierungsgründe
in 39% auf Arzneimittelreaktionen zurück. Gefährliche
Arzneimittelreaktionen kommen besonders häufig in Langzeitpflegeeinrichtungen
für alte Menschen vor. Dämmern sie unter Psychopharmakawirkung
dahin, dann trinken sie zu wenig und sind dadurch einem erhöhten
Risiko von Altersverwirrtheit ausgesetzt, denn mangelnde Flüssigkeitszufuhr
ist bis zu 50% für den Abbau der geistigen und körperlichen
Fähigkeiten verantwortlich.
Geriatrie und Psychopharmaka
Besonders schädlich wirkt das Ärztelatein, so Trude Unruh
von den Grauen Panthern, im Umgang mit alten Menschen: zwischen
Arzt und Patient, ob in der Praxis (ambulante Behandlung) oder im
Heim, in der Klinik bzw. der Anstalt (stationäre Behandlung).
Der Respekt vor den Kapazitäten führt letztendlich
dazu, dass sich alte Menschen bei einer solchen Gesprächsführung
in inhaltslose Wortformeln flüchten oder ganz verstummen. Der
in der Geriatrie, d.h. dem Zweig der Medizin, der sich mit den Krankheiten
des alternden und alten Menschen beschäftigt, mangelhaft ausgebildete
Arzt findet keinen Zugang zu dem hilfesuchenden Menschen und gewinnt
demzufolge auch nicht sein Vertrauen. Dazu kommt ein Abrechnungssystem
der Krankenkassen, die zwar alle möglichen und unmöglichen
Verordnungen bezahlen, die notwendigen intensiven Gespräche
aber nicht. Der Trend zu immer mehr Fachärzten (60% Fachärzte
gegenüber 40% Allgemeinärzte) deutet den Leidensweg alter
Menschen an; sie werden zu einer Irrfahrt von Facharzt zu Facharzt
genötigt. Hilfreich wäre ein ganzheitlicher Ansatz: mit
vertrauensvoll geführten Gesprächen über persönliche
Lebensumstände und durchlebte Krankheiten und gleichzeitiger
sozialer Unterstützung. Die schnelle Verordnung von Psychopharmaka
ist es nicht.
Die Geriatrie steckt, auch in Deutschland, noch in den Kinderschuhen
ein Verhängnis für alte Menschen. Psychopharmaka
aller Art, insbesondere Antidepressiva und Neuroleptika, sind in
der Arztpraxis und im Altersheim die häufigste Antwort auf
psychische Probleme. Folge ist oft die Einweisung in eine Psychiatrische
Anstalt. Ein Bett, ein Nachtschränkchen, ein Handtuch, die
Abhängigkeit vom Sozialamt und viele Pillen ist alles, was
einem so behandelten alten Menschen bis zum Tode bleibt. Wie schädlich
die normale psychiatrische medikamentöse Behandlung
ist, haben in letzter Zeit einige Studien zutage gebracht. So haben
Mediziner z.B. nachgewiesen, dass in psychiatrischen Einrichtungen
Neuroleptika-behandelte alte Menschen unter der Wirkung dieser Mittel
überdurchschnittlich oft hinfallen, Oberschenkelhalsbrüche
usw. erleiden und deshalb vergleichsweise früher sterben als
alte Menschen, die keine psychiatrischen Medikamente
einnehmen müssen. Drei Jahre zuvor hatten schottische Forscher
eine Untersuchung über die Ursachen der Schüttellähmung
veröffentlicht, die bei 95 älteren Menschen zur Überweisung
in eine Geriatriestation geführt hatte. Dabei stellte sich
heraus, dass es die psychiatrischen Medikamente waren,
die bei mehr als der Hälfte der teilweise nicht einmal mehr
gehfähigen Kranken die Schüttellähmung verursacht
hatten; in keinem einzigen dieser Fälle war die Verabreichung
der Psychopharmaka berechtigt gewesen.
Es gibt keinen Grund anzunehmen, in Deutschland oder in anderen
Ländern sei für die Sicherheit der alten Menschen gesorgt.
Henning Hülsmeier, offenbar ein Psychiater, beschreibt in einer
Untersuchung von 222 Zwangsuntergebrachten einer Psychiatrischen
Anstalt in Rheinland-Pfalz (1980) die lebensgefährlichen Folgen
der oft formalgesetzlich fragwürdigen vorläufigen psychiatrischen
Unterbringung, unter der alleinstehende, ältere Frauen aus
sozial benachteiligten Schichten besonders zu leiden haben. Der
jeweilige Richter würde zu einem »Erfüllungsgehilfen«
der Betreiber der Unterbringung (Familie, Gemeinde, Psychiater),
statt deren Berechtigung objektiv zu überprüfen: »...
er wird zu einer Art Jasager, wenn ein Minimum an Begründungen
formell und inhaltlich zusammengekommen ist.« Einmal vorläufig
in der Anstalt, zögern Gerichte und Psychiater eine Anhörung,
bei der sich die Untergebrachten verteidigen könnten, oft über
mehrere Wochen hinaus. Dann sind letztere mit Psychopharmaka vollgepumpt
und apathisch, so dass sie sich nicht mehr wehren können, oder
es kommt überhaupt nicht mehr zum Gerichtstermin:
»Der Grund lag einmal im Tod des Untergebrachten. Die Häufung
der Todesfälle in den ersten zwei bis drei Wochen ist erschreckend:
40%. (...) 95,5% aller Todesfälle lagen bei Personen jenseits
des 50. Lebensjahres.«
Von den 57 untersuchten über 62jährigen, die den Gerichtstermin
nicht mehr erlebten, waren 15 innerhalb von zwei Wochen tot, 19 innerhalb
eines Monats und 28 innerhalb zweier Monate. Hülsmeier:
»... dass 60% dieser 57 Patienten in der Altersgruppe über
62 Jahre in den ersten Wochen nach der Entwurzelung sterben, ist
barbarisch. Selbst von den Patienten zwischen 52 und 61 Jahren
stirbt ja auch fast noch ein Viertel ziemlich kurz nach der Zwangsunterbringung.«
Auch in anderen Einrichtungen, die von Psychiatern betreut
werden oder in denen Pflegepersonal Psychopharmaka verabreicht, wie
z.B. in den meisten Altenheimen, können sich die Betroffenen
ihres Lebens nicht sicher sein. Auf einer der letzten Rechtsmediziner-Kongresse
wurde dementsprechend gewarnt, wie die Frankfurter Rundschau
am 13. September 1990 unter der Überschrift »Welle
von unnatürlichen Todesfällen in Altenheimen?«
berichtet:
»Rechtsmediziner befürchten in der Bundesrepublik eine
starke Zunahme unnatürlicher Todesfälle bei alten Menschen
in Pflegeheimen und Krankenhäusern. Es gebe genügend
Anhaltspunkte, dass wir am Beginn einer solchen Entwicklung stehen,
erklärte der Rechtsmediziner an der Universität des
Saarlandes, Professor Hans-Joachim Wagner, am Mittwoch in Köln
zum Auftakt der 69. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für
Rechtsmedizin. Zur Begründung seiner makabren Prognose
führte Wagner an, dass aus Sicht der Rechtsmediziner schon
jetzt die Zahl der Todesfälle in besonderem Maße
zugenommen hat, bei denen Patienten offenbar zu viel Psychopharmaka
oder Herzmittel verabreicht bekommen haben und vergiftet worden
seien. Bei den seltenen Ermittlungsverfahren in diesen Fällen
sei es für den Rechtsmediziner aber schwierig, sämtliche
Hintergründe des Todes zu erhellen. Es sei zu fragen, ob
die in Kliniken und Pflegeheimen in Wuppertal, Nürnberg und
Wien bekannt gewordenen Fälle von Morden an Patienten nur
die Spitze eines Eisberges seien.«
Psychopharmakaverordnungen an alte Menschen
Alte Frauen sind von psychiatrischen Verordnungen besonders betroffen.
Karl Kimbel, Geschäftsführer der Arzneimittelkommission
der deutschen Ärzteschaft, wies 1987 darauf hin, dass 1985
auf 100 Frauen im Alter zwischen 71 und 80 Jahren 228 Verordnungen
für Psychopharmaka kamen, bei den Über-80-Jährigen
sogar 282.
Neuroleptikaverordnungen an alte Menschen
Neben der Geschlechtszugehörigkeit ist das zunehmende Alter
ein gewichtiger Risikofaktor. Besonders aus den USA kommen verstärkt
besorgniserregende Nachrichten. Während dort der Bevölkerungsanteil
der über 60 Jahre alten Menschen 1985 bei 11% lag, betrug ihr
Anteil an Neuroleptikaverschreibungen über 33%. Können
ältere Menschen nicht mehr weglaufen, werden besonders häufig
Neuroleptika verabreicht. Eine Untersuchung von 1986, die sich 2000
chemischen Substanzen und Millionen von Verschreibungen widmete,
ergab, dass 60,5% der Verordnungen an die über 65 Jahre alten
Altenheimbewohnerinnen und -bewohner Neuroleptikaverschreibungen
waren. Laut einer 1989 publizierten Studie von Jerry Avorn und Kollegen
der Harvard Medical School in Boston, durchgeführt in 55 Altenheimen
in Massachusetts, erhielten 55% von 1201 Untersuchten zumindest
ein psychiatrisches Psychopharmakon. 39% bekamen Neuroleptika verabreicht,
die übrigen Antidepressiva, Lithium und Tranquilizer. Bei der
Neuroleptikagruppe war der Prozentsatz der Mehrfachverordnungen
mit Abstand am höchsten. Die Verschreibungen waren immer wieder
automatisch erneuert worden. Eine zweite Arbeit brachte 1989 ähnliche
Ergebnisse:
»In einer Folgestudie untersuchten wir 837 Bewohner in 44
Altenheimen mit teilweise hohen Dosen antipsychotischer Medikamente.
Bei ungefähr der Hälfte von ihnen war im Untersuchungsjahr
offensichtlich kein Arzt an Entscheidungen über ihren psychischen
Zustand beteiligt. (...) Wir kommen zum Schluss, dass Psychopharmaka
in Altenheimen weit verbreitet sind, wobei die Mitarbeiter nur
ein geringes medizinisches Verständnis von den möglichen
Nebenwirkungen besitzen und der Gebrauch nur wenig medizinisch
überwacht wird.«
Verordnet werden Psychopharmaka in Altenheimen von Allgemein- und
praktischen Ärzten. In der Meinung, die Verordnung durch einen
Psychiater sei eher vertretbar, beklagte sich Joachim Spahr aus Esslingen
beim Spiegel über die unfachmännische Verschreibung:
»In meiner sechsjährigen Berufspraxis als Altenpfleger
kann ich mich an keinen einzigen Fall erinnern, wo Psychopharmaka
so wie es für eine gesicherte Diagnose erforderlich
wäre von einem Neurologen oder Psychiater verordnet
wurden, sondern in der Regel werden sie von den behandelnden Hausärzten
verschrieben.«
Antidepressivaverordnungen an alte Menschen
Da Frauen sehr viel öfter die entsprechenden Diagnosen erhalten,
ist es selbstverständlich, dass ihnen häufiger Antidepressiva
verordnet werden. Mit zunehmendem Alter steigt bei Männern
wie bei Frauen die Wahrscheinlichkeit, Antidepressiva zu erhalten,
und ab Beginn des Rentenalters bleibt die Verordnungsrate auf konstant
hohem Niveau.
Tranquilizerverordnungen an alte Menschen
Es ist sicher kein Zufall, dass man 1960 Chlordiazepoxid, den
ersten Tranquilizer, zuerst bei psychiatrisierten älteren Menschen
ausprobierte. Die bei der Verabreichung neben Sprachstörungen
und Koordinationsstörungen von Bewegungen auftretende Ruhigstellung
führte dazu, dass in der Folgezeit viele unzufriedene Bewohnerinnen
und Bewohner von Alten- und Pflegeheimen, unbequeme und fordernde
Menschen, verstärkt in den Genuss von Tranquilizern
gekommen sind. Peters und sein Kollege M. Seidel teilten 1970 mit:
»Es gelingt dem Arzt, mit Hilfe von Diazepam (im Handel
u.a. als Faustan und Valium, P.L.) gerade von den klagsamen Patienten
einen gewissen Abstand zu gewinnen.«
Zunehmendes Alter und weibliches Geschlecht stehen mit dem steigenden
Einsatz von Tranquilizern in Wechselbeziehung. Ab dem 40. Lebensjahr,
wenn sich viele vermehrt über ein sinnentleertes Leben Gedanken
zu machen beginnen, gehen die Tranquilizerverordnungen sprunghaft
in die Höhe. Die Hälfte aller Verschreibungen betreffen
Personen zwischen 60 und 80 Jahren. Menschen im höheren Lebensalter
erhalten besonders häufig und dauerhaft Tranquilizer, meist Benzodiazepine.
Krause-Girth kritisierte die Anwendung in Form von Großpackungen
und schrieb:
»Die massenhafte Verordnung von Benzodiazepinen an alte
Menschen, bei denen sie gehäuft zu unerwünschten oder
paradoxen Wirkungen führen, ist besorgniserregend.«
Altersbedingtes Nachlassen der Abwehrkräfte
Zusatz- und Folgerisiken betreffen vor allem Menschen mit nachlassender
Widerstandskraft gegen psychopharmakologische Wirkungen. Hierzu
sind insbesondere ältere Menschen zu rechnen. Sie verbrühen
sich in psychiatrischen Einrichtungen unter der Wirkung von Psychopharmaka
häufiger als in psychopharmakafreiem Zustand, prallen unter
Psychopharmaka häufiger gegen Möbel, kippen unter Psychopharmaka
häufiger um, fallen im Krankenhaus unter Psychopharmaka häufiger
aus dem Bett, stürzen unter Psychopharmaka häufiger beim
Gang zur Toilette, erleiden somit unter Psychopharmaka häufiger
Schürfwunden, Blutungen und Brüche und ziehen sich in
Altenheimen unter Psychopharmaka häufiger Oberschenkelhalsbrüche
zu. Speziell ältere Menschen sterben eher an Arzneimittelreaktionen.
Die American Psychological Association legte 1989 eine eigene Studie
vor. Ihr Direktor Bryant Welch meinte, ältere Menschen würden
zu oft »sinnlos und unmenschlich allein gelassen und psychologisch
einem medikamentenbedingten Stupor ausgesetzt«; Psychopharmaka
würden missbräuchlich verschrieben, um das Verhalten älterer
Menschen zu kontrollieren. Sie werden öfter wegen Psychopharmakaschäden
ins Krankenhaus eingeliefert, z.B. wegen neuroleptikabedingter Parkinsonerkrankung.
Studien in unterschiedlichen Ländern zeigten bei älteren
Menschen außerordentlich hohe Sterblichkeitsraten innerhalb
kurzer Zeit psychopharmakologischer Behandlung. Ein Bericht des
US-Department of Health and Human Services von 1989 führte
die Todesursache von US-Amerikanerinnen und US-Amerikanern über
60 Jahre in 51% und die Hospitalisierungsgründe in 39% auf
Arneimittelreaktionen zurück. Gefährliche Arzneimittelreaktionen
kommen besonders häufig in Langzeitpflegeeinrichtungen für
alte Menschen vor. Dämmern sie unter Psychopharmakawirkung
dahin, dann trinken sie zu wenig und sind dadurch einem erhöhten
Risiko von Altersverwirrtheit ausgesetzt, denn mangelnde Flüssigkeitszufuhr
ist bis zu 50% für den Abbau der geistigen und körperlichen
Fähigkeiten verantwortlich.
In allen Einrichtungen, in denen man bevorzugt Psychopharmaka
verabreicht, wie in den meisten Altenheimen, leben die Bewohnerinnen
und Bewohner gefährlich. Da sie infolge des Altersprozesses
von erheblichen körperlichen Veränderungen betroffen sind,
nimmt ihr Körper pharmakologische Substanzen anders auf und
verarbeitet sie schlechter: Magen-Darm-Beweglichkeit, Blutfluss
und Magensäureproduktion sind herabgesetzt; Plasmaeiweiße
sind vermindert, das Gesamtkörperwasser hat relativ ab- und
das Körperfett relativ zugenommen, wodurch sich die Verteilungsvolumina
verändern; Lebergröße und -durchblutung sowie Enzymaktivitäten
sind vermindert; die Filtrationsrate der Nierengefäße
ist gesunken; die Rezeptorenempfindlichkeiten haben zugenommen.
Diese Prozesse haben zur Folge, dass Veränderungen der Plasmaspiegel
auftreten, fettlösliche Substanzen länger wirken, der
Abbau der Psychopharmaka im Organismus eingeschränkt und ihre
Ausscheidung verzögert ist. Rezeptordichte und Dopamingehalt
im Gehirn nehmen im Alter ab, deshalb sind ältere Menschen
speziell von neuroleptikabedingten Muskel- und Bewegungsstörungen
besonders stark betroffen. Der US-amerikanische Sozialwissenschaftler
Wolf Wolfensberger von der Syracuse University, der große
alte Mann des Kampfes um die Rechte von Alten und Behinderten,
sprach in seinem Buch »Der neue Genozid an den Benachteiligen,
Alten und Behinderten« die gefährlichen vegetativen Auswirkungen
der psychiatrischen Psychopharmaka an:
»Vor allem bewusstseinsverändernde Medikamente in Institutionen
wie Pflegeheimen, Krankenhäusern und Gefängnissen können
auf verschiedenen Wegen das Leben gefährden oder verkürzen:
(a) Vitale Funktionen werden soweit geschwächt, dass die
Widerstandskraft gegen Infekte abnimmt. (b) Die Sinnesorgane werden
stumpf, so dass jemand Gefahrensignale wie Schmerz nicht mehr
wahrnehmen kann. (c) Das Bewusstsein ist vermindert, so dass man
nicht mehr imstande ist, den todbringenden Maßnahmen des
Personals entgegenzuwirken, nicht mal, mit anderen über dies
Unrecht zu reden. (d) Andere körperliche Funktionen sind
eingeschränkt. Der Tod tritt aber durch ganz andere, sekundäre
Ursachen ein, etwa über Flüssigkeitsretention (-zurückhaltung),
über vermindertes Schwitzen (verursacht Hitzschlag) oder
über Einschränkung des Schluckens und Hustens, was wiederum
die offizielle Diagnose Tod durch Lungenentzündung
erlaubt. (...) Man steht fassungslos davor, in welchem Ausmaß
alltäglich getötet werden kann, ohne dass jemand auch
nur auf die Idee kommt, dass dies Töten sei.«
Textteile und Informationen sind entnommen aus
In den beiden Büchern finden Sie die Quellen für die
direkt und indirekt zitierten Textstellen.
Copyright by Peter Lehmann 2000
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