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des Antipsychiatrieverlags
in: Peter
Lehmann (Hg.), "Psychopharmaka absetzen. Erfolgreiches Absetzen von
Neuroleptika, Antidepressiva, Lithium, Carbamazepin und Tranquilizern",
Berlin: Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag, 1. Auflage 1998, S. 236-244
· English
summary
Gaby
Sohl
Professionelle Logik, Psychopharmaka und das hoh(l)e Lied
der Sachzwänge
»Reicht die Wirkung meiner Person nicht, ist Haldol
zu geben.«
Dieser mehr als unfreiwillig komisch geratene Lehrsatz
über die Wechselwirkung zwischen professioneller (Arzt-)Person
und dem sehr häufig verordneten Psychopharmakon Haldol offenbart
sich gründlichen Leser/innen auf Seite 382 des sozialpsychiatrischen
Klassikers »Irren ist menschlich« (Dörner / Plog
1978), einem praxisnahen Handbuch, das viele Professionelle auch
heute noch für das fortschrittlichste Lehrwerk der freiheitlich
orientierten Sozialpsychiatrie halten. Es belehrt Herr Prof.
Dr. Dr. Klaus Dörner, ehemaliger Leiter der Westfälischen
Kliniken Gütersloh; nachzulesen ist diese Haldolindikation
in Kapitel 13 (»Körpertherapeutische Techniken«),
Römisch III (»Psychiatrische Notfalltherapie«), Vers
5 (»Erregungszustände«).
Kapitel 13, Römisch III, Vers 5 wurde erstmalig vor genau
20 Jahren veröffentlicht (1978). Dörner schrieb damals
in seiner Einleitung zum Kapitel »Psychiatrische Pharmakotherapie«:
»Geschichtlich hat jede therapeutische Technik eine
begrenzte Lebenszeit. Auch die Neuropharmaka sind nach der Begeisterungs-
jetzt in der Ernüchterungsphase. Anzeichen dafür: 1. Es
gibt zunehmend Patienten, die lieber an ihren Symptomen als an ihren
Pharmaka leiden. Wir können jetzt auch besser ihre Nachteile
wahrnehmen. 3. Alarmierend die epidemische Verschreibungswut...«
(ebd., S. 363)
Leider ist 1998 (gegen Ende der Dekade der Hirnforschung)
in ganz Europa und erst recht in den USA von Ernüchterung hinsichtlich
der Verschreibungswut wenig zu hören. Neuroleptika, Antidepressiva,
Lithium usw. gelten unangefochten als »die Therapiemethoden
der ersten Wahl«, »unerlässlich in der psychiatrischen
Arbeit« und als »Voraussetzung für jede andere
Therapiemethode«. Mit dieser Standortbeschreibung präsentierten
sich beispielsweise alle Vorträge der jährlich stattfindenden
Bundesdirektorenkonferenz der ärztlichen Leiter Psychiatrischer
Kliniken in Deutschland. Man schrieb das Jahr 1994.
Verzweifelte Klagen der Patient/innen über dieses Verständnis
von Medizin werden meist als Schwierigkeiten mit den Nebenwirkungen
bagatellisiert oder mit einer Auslegung der Klage selbst als Krankheitsuneinsichtigkeit
disqualifiziert und aus der Grundsatzdiskussion um den Einsatz dieser
Substanzen verbannt. Auch an den heute so beliebten runden
Tischen erleben Psychiatriebetroffene immer wieder, wie schnell
und effektiv sie im Streitfall aus dem scheinbar kritischen Dialog
herausdiagnostiziert werden.
Auch kritische Professionelle aus dem psychosozialen Arbeitsfeld
werden notfalls schlicht pathologisiert:
»Warum konzentrieren sich die Angriffe der Kritiker
auf Medikamente, deren therapeutischer Wert immer wieder belegt
worden ist? Könnte diese Polarisierung nicht Resultat eines
undifferenzierten Denkens im Sinne des Abwehrmechanismus der Abspaltung
und der Verschiebung sein, wie dies Kernberg (1981) beschreibt?«
(Fisch 1990, S. 156)
... fragt Prof. Dr. med. Hans-Ulrich Fisch, Vizedirektor der Psychiatrischen
Universitätspoliklinik Bern, auf einem Symposion zum Thema
»Zeit und Psychiatrie«.
Das Hoh(l)e Lied der Sachzwänge
(Sozial-)psychiatrische Arbeit und Psychopharmaka gehören
heute untrennbar zusammen; die als Therapie deklarierte, notfalls
zwangsweise durchgeführte chemische Persönlichkeitsveränderung
hat auch in den Köpfen der Behandler tiefgreifende Veränderungen
stattfinden lassen. Ihre Geisteshaltung, ihr professionelles Selbstverständnis
und ihre ethische Grundhaltung wurden und werden durch die heutige
Psychopharmakagläubigkeit nachdrücklich geprägt.
Einen kleinen Ausschnitt dieser meines Erachtens äußerst
fragwürdigen Definition von Professionalität werde ich
auf den folgenden Seiten nachzeichnen.
Ganz normale Krankenpfleger/innen, Sozialarbeiter/innen, Therapeut/innen,
Richter/innen sie ermöglichen oder vollstrecken die
Psychopharmakabehandlung. Ohne die tausendundeinen psychosozialen
Helfershelfer der medizinisch orientierten Psychiatrie bzw. der
psychiatrisch orientierten Medizin wäre die flächendeckende
Psychopharmakaversorgung der sogenannten Verrückten nicht möglich.
Diese medizinische Stillegung hat System und sie schleift
sich ein, präsentiert sich als Gesetz der Not(wendigkeit) in
einem extrem stressreichen Alltag, der gerade in Zeiten zunehmender
sozialer Verarmung viele existentielle, psychosoziale Engpässe
mit einer chemischen Hirnveränderungs-Therapie beantwortet.
Der relativ kleine Berufsstand der Psychiater/innen könnte
eine solch tiefgreifende und umfassende Stillegung des psychischen
Leidens der großen und kleinen menschlichen Verrücktheiten
niemals allein herbeiführen. Jene ganz normalen, oft sogar
erstaunlich liberal gesinnten Pfleger/innen, Sozialarbeiter/innen,
Heimleiter/innen, Psychotherapeut/innen und Richter/innen
sie alle stricken letztlich sehr einträchtig an diesem chemisch-synthetischen
Netz für die sozial auffällig Gewordenen.
»Absetzen? Ausgeschlossen!«
Die professionelle Phantasie kennt wenig Grenzen, wenn es um die
Durchsetzung einer Psychopharmakabehandlung gegen den Willen der
Betroffenen geht. Zur Illustration benenne ich im folgenden einige
pointierte Professionalitätsschübe, die ich unter anderem
im Rahmen meiner früheren Tätigkeit als Betreuerin (bis
1992 »Vormundschaft« genannt) erlebt habe:
-
Erpressung: »Ich zahle Dir Dein Taschengeld nicht aus,
wenn du dir die Spritze nicht geben lässt!«
-
Drohung: »Willste die Spritz' oder soll ich die Zwangseinweisung
fertigmachen lassen?!«
-
Lüge: »Nein, in Ihrem Essen ist kein Gift, nein,
ich bitte Sie auch keine Medikamente!« Diese Argumentationsstrategie
die schlichte Lüge hat mich vielleicht am
meisten entsetzt, wohl auch, weil die alte Dame, um die es hier
ging, in einem Altersheim lag und weil sie mir als vom
Gericht bestellte neue Betreuerin schon beim ersten Besuch
ihren Spinatteller hinhielt und sagte: »Probieren Sie!
Das schmeckt bitter! Da ist was drin!« Ich probierte, und
es schmeckte, wie Spinat nun mal schmeckt und das war
meine erste und einzige Neuroleptikaerfahrung in diesem Leben.
Es war nämlich tatsächlich was drin, das erzählte
mir der Heimleiter später, unter vier Augen: »Wir
tun das, weil man sonst nicht mit ihr fertig wird und weil sie
partout keine Medikamente will. Ihre Vorgängerin hat uns
dazu die Erlaubnis gegeben, das können wir ja nur mit Ihrer
Zustimmung machen!« Man hatte die Dosis erhöht, einfach
ein paar Tröpfchen mehr in den Spinat oder den Kartoffelbrei
gemischt, wenn sie mit ihrem Wasserbecher auf dem Nachttisch
herumhaute, weil wieder keine Schwester auf ihr Klingeln reagierte,
weil wieder alle alle Hände voll zu tun hatten und weil
sie einfach renitent war, die Frau D., und gewalttätig.
Sie war 83, und das Schlimmste, was sie jemals verbrochen hatte,
war eine Mineralwasserflasche, die sie nach einer Schwester
geworfen hatte. Ansonsten hatte sie Mühe, sich überhaupt
aus dem Bett zu erheben und ihre aufgrund der 20jährigen
Neuroleptikabehandlung ständig zuckenden Hände und
die zitternden Beine irgendwie stillzuhalten.
-
Verängstigung und Kleinkindersprache: »Sie müssen
die Medikamente Ihr ganzes Leben lang einnehmen, das wissen
Sie doch! Wenn Sie das nicht tun, dann werden wieder schlimme
Sachen passieren, Sie werden nicht mehr in Ihrer Wohnung bleiben
können, das wissen Sie doch noch, wie das damals war, oder?«
-
die scheinheilige Erziehungstour: »Gut, Frau B., wenn
Sie das wollen, setzen wir das Medikament natürlich sofort
ab! Sofort!« Man sagt der Patientin aber nicht, dass das
abrupte Absetzen eines Psychopharmakons unter Umständen
schreckliche Entzugs- und Umstellungsprobleme mit sich bringt;
sie weiß nicht, wie ihr geschieht war sie doch
froh, das Psychopharmakon endlich loszuwerden! Nun schwitzt
sie wie ein Tier, schläft nicht, zittert, hat Magenkrämpfe
und kollabiert im Aufenthaltsraum.
»Sie sehen doch, Frau B., so geht es einfach nicht,
im Moment sind Sie zu krank, Sie brauchen die Medikamente, was
meinen Sie, sollen wir es nicht doch wieder versuchen?«
-
Bagatellisierung wirklicher Not: »Diese Dyskinesien sind
leider unvermeidlich, sie sind eine unangenehme Nebenwirkung
der medikamentösen Therapie, die müssen wir leider
in Kauf nehmen. Aber das sind doch nur die chronischen
Fälle, Frau Sohl! Die medikamentöse Therapie ist notwendig
wir haben nichts Besseres!«
In dieser Erklärung erschöpften sich schließlich
die aufgeschlosseneren Diskussionen mit (sozial-)psychiatrisch tätigen
Kolleg/innen. Die anderen verliefen im Sand der Beschimpfung, Herabsetzung
und Diffamierung: Sie haben keine Ahnung, Sie verstehen doch gar
nichts von Medikamenten, Sie sind doch naiv, Frau Sohl! Diese Entscheidung
überlassen Sie aber jetzt besser mir! Na, ob Sie wollen oder
nicht diese Entscheidung treffe ich ganz allein, da können
Sie gar nichts machen! Sie wollen den Richter holen? Ich bin Arzt,
Frau Sohl. Sie sind nur Sozialarbeiterin, und es ist mir auch völlig
egal, was Sie alles gesehen und gelesen haben!«
Spätestens an dieser Stelle wird die Diskussion um Neuroleptika,
Lithium und Antidepressiva zu einem Machtkampf, zur Grundsatzfrage
und vor allem zu einer Farce, die man im Englischen »Catch
22« nennt, eine Art Teufelskreis also, eine nicht aufzulösende
Falle: argumentiert man nicht-medizinisch im Bereich der
Psychiatrie, das heißt gegen ein biologisch begründetes
Krankheitsverständnis, hat man keine Ahnung; will
man diese biologisch begründete Grundprämisse der Psychopharmakaverordnung
angreifen, hat man erst recht keine Ahnung, und argumentiert
man antipsychiatrisch, ist man jenseits jeder Ahnung... im besten
Fall gutmeinend überengagiert, im schlimmsten Falle
eine inkompetente, die Patienten gefährdende, unprofessionelle
Sozialarbeiterin. Wenn dieser Kampf schon nicht als Profi,
als gesellschaftlich abgeordneter, bezahlter Fachmensch für
menschliche Verzweiflung zu gewinnen ist: Wie soll dann ein sogenannter
psychisch kranker Mensch, jedenfalls ein leidender Mensch mit vielen
Problemen, hier seine eigene körperliche und geistige Unversehrtheit
zurückgewinnen oder behaupten?
Die Psychopharmaka-Logik demütigt Patienten und Profis
Gehen wir an dieser Stelle einmal vorbehaltlos davon aus, dass
viele, jedenfalls die meisten Profis im psychosozialen Bereich wirklich
helfen wollen, und zwar schnell und praktisch und gut und ausschließlich
im Rahmen ihrer Arbeitszeit. Das kann ihnen niemand verübeln,
genau dafür werden sie bezahlt für ihre Effizienz.
Es gibt aber leider nichts Effektiveres für die absolute Ruhe
in einer psychiatrischen Einrichtung als diese gesundheitsschädlichen,
enorm potenten Psychopharmaka. Es hat mich immer wieder
sehr heftig berührt, wie erstaunlich ruhig es heutzutage auf
dem Gelände einer x-beliebigen Psychiatrischen Anstalt zugeht.
Ich habe manchmal staunend vor den Fortbildungshäusern großer
Kliniken gestanden und auf die ringsum vergitterten Fenster oder
die modernen Panzerglasscheiben gestarrt, hinter denen zwar Licht
brannte, aber kaum ein Ton zu hören war. Jeder Laut wird hier
und anderswo effektiv und nachhaltig beruhigt. Mit der Spritze.
Mit Tabletten. Mit Tropfen. Es gibt aber auch Menschen, die selbst
das überstehen und toben.
Ich habe gehört von Männern, die sich die eigenen Augen
aus den Höhlen rissen in der Fixierung. Ich habe gehört
von Männern und Frauen, die monatelang in der Fixierung waren
in Bielefeld, in Eickelborn, in Gütersloh, in Andernach.
Ich habe gehört von Menschen, die sich an den Heizungsrippen
im Schlafsaal oder im Doppelzimmer der geschlossenen Stationen aufhängten
oder sich in groteskesten Verrenkungen selbst das Genick brachen
kniend. Diese Menschen taten das unter Einfluss psychiatrischer
Psychopharmaka, insbesondere unter Neuroleptika, wegen der
Neuroleptika und aufgrund ihrer ausweglosen, ausgelieferten
Lage in den geschlossenen Stationen! Offiziell und in den Akten
hatten sie sich natürlich alle aus dem gleichen Grunde umgebracht:
»aufgrund ihrer psychischen Krankheit«. In den Abschiedsbriefen
an ihre Verwandten stand anderes: »Ich bin kein Mensch mehr
mit diesen Medikamenten, ich fühl' mich wie tot, sie haben
mich kaputtgespritzt, so will ich nicht mehr leben.« Zum Beispiel.
Es wird nie wieder eine Welt ohne Psychopharmaka geben. Gesellschaftlich
gesehen ist der Kampf gegen die zunehmende Medikamentenflut eine
Sisyphusarbeit. Mit dem massenhaften Einsatz von Psychopharmaka,
insbesondere von Neuroleptika, hat sich eine scheinbare Souveränität
im psychosozialen Arbeitsfeld breitgemacht, die nur wenige eintauschen
wollen gegen die ständige Unberechenbarkeit, die unbändige
und ungebändigte Kraft der Wut und die überflutende Verzweiflung
oder Trauer der psychisch auffällig Werdenden.
Eine Handvoll Menschen die sogenannten Profis ihr
ganzes Leben lang für die schwierigsten, heftigsten und traurigsten
Dramen potentiell aller anderen Menschen abzustellen ist kurzsichtig.
Eine solche Gesundheits- und Sozialpolitik ruiniert langfristig
beide Seiten des psychosozialen Problemfelds: die sogenannten Expert/innen
und die sogenannten Patient/innen bzw. Klient/innen.
Die Hoffnung auf einen psychiatrieunabhängigen Menschen, frei
von Psychopharmaka und frei von jeglichem stationären Freiheitsentzug,
treibt zwar immer wieder einige wenige Psychoprofis in den Versuch
der gänzlich psychopharmakafreien Begleitung, aber die meisten
scheitern: an ihren Vorgesetzten, an den Ärzt/innen, an ihren
Kolleg/innen, an den Angehörigen der Patient/innen, vor allem
aber an den vorgegebenen Zeitstrukturen ihres eigenen Berufsalltags.
Sie scheitern an ihren eigenen inneren Grenzen und Sperren gegenüber
der Begleitung akuter Krisen (und mit zwar vorübergehenden,
aber oft auch sehr heftigen Krisen kann das Absetzen der meisten
Psychopharmaka verbunden sein). Sie scheitern an den existentiellen
Fragen und individuellen Katastrophen, die sich nicht wegdefinieren
und manchmal auch kaum aushalten lassen, schon gar nicht in dieser
professionellen Bündelung und Häufung. Die
Krisen, die ein Absetzen der Psychopharmaka mit sich bringt, sind
im eh schon eng gehaltenen Zeitplan nicht vorgesehen. Psychopharmaka-Gegner/innen
scheitern so meist zwangsläufig an ihrer faktischen Überlastung.
Gründe der professionellen Verweigerung
Ein Absetzen der dämpfenden, regulierenden, künstlich
vitalisierenden (bei gänzlich apathisch Gewordenen) und gelegentlich
debilisierenden Psychopharmaka hat im gegebenen Rahmen unseres heutigen
Gesundheits- und Sozialsystems für die professionelle Seite
nur belastende Folgen:
-
Die gedämpfte und damit eben auch leichter und mit weniger
Zeitaufwand handhabbare Routine wird gestört bzw. gefährdet.
-
Viele in mühseliger Kleinarbeit, in vielen mehr oder weniger
gut bezahlten Arbeitsstunden hergestellte Erfolge
der Wiederanpassung an den alten Lebensalltag bzw. an eine neue
Behindertenrealität empfinden die Patient/innen nun plötzlich
(ohne den dämpfenden Psychopharmakaeffekt)
gar nicht mehr als Erfolg, sondern als gegen ihr eigenes Lebenskonzept
und ihren eigenen Willen gerichtet.
-
Das Urproblem (welches auch immer) der jeweiligen Patient/innen
kommt wieder zutage bricht sich, verstärkt durch
den Zorn über die oft unfreiwillig ertragene und ohne Aufklärung
über die Risiken und Nebenwirkungen erfolgte
Psychopharmakabehandlung, erneut eine verrückte oder störende
Bahn in den Alltag.
-
Auf das Urproblem konnte man von professioneller Seite aus
schon bei der Behandlung in der Arztpraxis oder der Klinikeinweisung
(bzw. dem Beginn der Beratung/Betreuung oder des Heimaufenthalts
usw.) nicht anders antworten als mit der Verordnung von Psychopharmaka
wie also jetzt, bei einem der empfohlenen Behandlung
ablehnend gegenüberstehenden Patienten?
-
Psychosoziale Profis und Patienten/Klienten stehen sich aufgrund
der von vielen Profis als Kränkung empfundenen Ablehnung
der Psychopharmaka plötzlich als Feinde gegenüber;
so spricht der Profi in seiner Profi-Rolle (gekränkt):
»Jetzt pfleg' ich (therapier' ich / berat' ich
/ behandel' ich) diesen Menschen, setze meine Berufszeit, meine
Lebenszeit, meine ganze Erfahrung ein und was passiert?
Ich werde beschimpft! Ich werde bedroht! Man will meine Hilfe
nicht das ist doch krank! Da muss man Medikamente
geben!«
-
Die Profi-Rolle sieht ihren Machtanspruch infrage gestellt
und zieht ihr Fazit: »Das können wir hier ohne Medikamente
nicht tragen!« (Sprich: »Das halte ich / das halten
die anderen Patient/innen / das hält das Stationsmilieu
/ das hält die Beratungsstelle nicht aus!« P.S.: »Das
können wir hier nicht dulden!« Mit freundlichen professionellen
Grüßen: »Sie sind nicht tragbar, haben
wir uns verstanden?« Die Profi-Rolle spricht nun aktenkundig
(offen autoritär): »Ein Absetzen der Medikamente kann
ich aus therapeutischer Sicht leider nicht befürworten.«
P.S.: Das scheinbar so professionelle Hamsterrad der psychosozialen
Versorgung ist eine Demütigung für beide Seiten. Ich mache
mir Sorgen um viele ehemalige Klient/innen, aber auch um viele ehemalige
Kolleg/innen. Der Krankenstand wächst auf beiden Seiten!
Der Psychopharmaka-Zug rollt, und ich glaube nicht, dass irgend
jemand ihn aufhalten kann. Aber es kann Nebengleise geben, andere
Verbindungswege. Diese zu suchen und auszubauen, auch ihr zeitweiliges
Scheitern auszuhalten und aus solchen fehlgeschlagenen Versuchen
zu lernen, kann vielleicht neue Wege eröffnen, die dem suchenden
Nicht-Einverstandensein der Verrücktheit, der Depression oder
der psychosomatischen Auffälligkeit eher gerecht werden als
die im psychiatrischen Fachjargon so wortreich besungenen »chemischen
Knebel«.
Literatur
-
Dörner, Klaus / Plog, Ursula: »Irren ist menschlich«,
Rehburg-Loccum: Psychiatrieverlag 1978
-
Fisch, Hans-Ulrich: »Die Wirkung von Neuroleptika auf
das Erleben der Zeit«, in: Luc Ciompi & Hans P. Dauwalder
(Hg.): »Zeit und Psychiatrie: Sozialpsychiatrische Perspektiven«,
Bern. Stuttgart & Toronto: Hans Huber Verlag 1990, S. 155-157
Gaby Sohl, Jahrgang 1960
und geborene Bochumerin, hat in Bielefeld Philosophie und Sozialarbeit
studiert und war 16 Jahre lang als Sozialarbeiterin in verschiedensten
sozialen Einrichtungen tätig, unter anderem als Krisenberaterin
für Selbstmordgefährdete und als Berufsbetreuerin. Sie
war vier Jahre lang Supervisorin für ein Soteria-ähnliches
Modellprojekt der akutpsychiatrischen Versorgung in den Westfälischen
Kliniken Gütersloh. Im Auftrag von Wildwasser Bielefeld e.V.
konzeptionierte, leitete und dokumentierte sie den ersten bundesdeutschen
Kongress zum Thema Multiple Persönlichkeiten, Traumatisierung
und psychische Krankheit (»Der aufgestörte Blick.
Multiple Persönlichkeiten, Frauenbewegung und Gewalt«,
Bielefeld 1997). Sie hat drei Jahre in London und in Philadelphia/USA
gearbeitet und lebt heute in Berlin als freie Autorin, Übersetzerin
und Moderatorin (Stand: 1998).
Gaby Sohl
Professional logic, psychiatric drugs and the litany of factual
constraints: "If the impact of my personality is not enough, Haldol
should be given"
Summary: Most professionals in the social and medical field support
the prescription of psychiatric drugs and refuse to support psychiatric
patients when they want to stop their medication. This attitude
has many reasons but most of them have to do with the professional
position itself and the growing tendency towards functionalism.
There's no place for craziness and there's no time to look carefully
and with compassion at the roots of craziness. Gaby Sohl writes
about the 'compulsiveness' of modern professionalism and how psychiatric
drugs keep the hamster's wheel in motion that allows the psychiatric
system to work in serial productionproducing chronic patients.
To know why professionals refuse to support the intent to withdraw,
to know about some of the stakes every nurse or social worker has
in this game of 'effective treatment', no crisis planned, can help
to find support somewhere else instead of hoping to find it within
a psychiatric system that defends its very own rules, routine and
ruthlessness. Gaby Sohl has worked for many years within this system
and also talks about the exotic status a professional who clearly
votes for a therapy without psychiatric drugs has to put up with.
In the long run, the time-schedule kills a lot of attempts to go
a different way, since withdrawal from psychiatric drugs always
is time consuming when accompanied carefully. Crisis is a necessary
phase of change that should not be pushed down again with medication.
To create places where crisis can be lived through is the job of
the future.
Gaby Sohl, born in 1960 in FRG, studied philosophy and social
work in Bielefeld and worked for 16 years as a social worker in
various institutions, e.g. as a counselor in a crisis center for
suicidal people und as occupied guide; she also was supervisor of
a Soteria-model in a state hospital and coordinated the first German
conference on the topic of 'Multiple Personalities, trauma and the
women's movement' ("Der aufgestörte Blick. Multiple Persönlichkeiten,
Frauenbewegung und Gewalt" ("The disturbed look. Multiple Personalities,
trauma and the women's movement"; Bielefeld 1997). She worked
for three years in London and in Philadelphia/USA. Today she is
living in Berlin, working as an author, translator and workshop-leader.
(1998)
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