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des Antipsychiatrieverlags
in: Wolfgang Fehse & Klaus Wehmeier (Hg.): »Renntag im
Irrgarten Beiträge zur labyrinthischen Situation 3«,
Berlin: Labyrinth Verlag 1991, S. 139-148
Rezension
Thilo von Trotha
Die Kampfschrift und das Schreibspiel
»Ein Autor, der auf ein Publikum hinschreibt, schreibt
in Wahrheit nicht: [...]
denn die anderen verlangen nicht die eigene Stimme zu hören,
sondern eines anderen Stimme, eine wirkliche, unergründliche
Stimme,
die störend ist wie die Wahrheit.« Maurice Blanchot
I. Kampfschrift
Kerstin
Kempker schreibt über Verrücktheit aus der Distanz der Anteil nehmenden
Beobachterin, die um die Rätselhaftigkeit und Zerbrechlichkeit der verrückten
Phänomene weiß. Sie zeigen sich nur indirekt, im Spiegel der Reaktionen
ihrer Umgebung.
Im ersten Teil der Arbeit, »Sprache und Macht«,
wird deshalb die Psychiatrie behandelt, und erst im zweiten, »Sprache im
Niemandsland«, kommt die Verrücktheit selbst zu Wort, doch niemals naiv
und unvermittelt, sondern als verschlüsselte Antwort auf die allgemeine Geste
des Ausschlusses, die den Wahnsinn permanent bedroht und die von der Psychiatrie
zum Programm erhoben wird.
»Die Verrückung jener Gesetze, auf deren Dasein im
Haupte jedes Anderen man mit Zuversicht baut, als des einzigen,
was er untrüglich mit uns gemein hat, trägt etwas
so Grauenhaftes an sich, daß man sich nicht getraut, das
fremdartige Uhrwerk zu berühren, daß es nicht noch
grellere Töne gebe und uns an dem eigenen irre mache.«
Präzis
und einfühlsam bezeichnete vor 150 Jahren der Erzähler Adalbert Stifter
jenes unentwirrbare und explosive Gemisch aus Faszination und Befremden, mit dem
der gesunde und normale Blick die Schauspiele des Wahnsinns
und der Verrücktheit mehr zu bannen als zu betrachten sucht. Wo immer die
vielstimmigen Erscheinungen der Verrücktheit an die trügerisch blanke
Oberfläche dessen, was als Normalität träge dahinströmt, drängen
und die Schwelle zur bewußten Wahrnehmung überschreiten, ist das erste
Medium der Auseinandersetzung die Sprache.
Die Sprache der Verrücktheit
ist nicht ein beliebiges Symptom, in dem sich der Wahnsinn neben anderen manifestiert,
sondern das zentrale Feld für jede mögliche Wahrnehmung der Verrücktheit
innerhalb der Ordnung des Sozialen, an derem äußersten Rand sie zu
siedeln versucht. Nur dort, wo die Verrücktheit spricht, sei es in der Literatur,
in der sie sich wortreich der gemeinen Sprache entwindet, sei es indirekt,
in dem von ihr provozierten psychiatrischen Monolog über sie, kann von Verrücktheit
gesprochen werden. Kerstin Kempkers Text führt den Leser auf doppeltem (Um-)Weg
in das unbenennbare Gravitationszentrum jener allem anderen vorausgehenden Region,
aus der sich Leute und Dinge verrücken, um sprechen zu können. Sachkundig
entfremdet sie die gewohnte Betrachtung dessen, was als verrückt
erscheint, zur Kenntlichkeit.
Alles Reden und Schreiben konstituiert
sich um einen zentralen Mangel: Nur dort, wo etwas nicht (mehr) ist, kann es ein
Zeichen geben, ob Buchstabe oder Laut, das an seine Stelle tritt. Nur über
Abwesendes läßt sich reden. Und nur wo sich die unhintergehbare Existenz
der Welt in das Spiel von Nähe und Distanz zwischen Einzelnem und Unterschiedenem
einläßt, gibt es Sprache. Allein durch den Ein-Spruch des Anderen,
den Dialog, der die Polyphonie der ungezählten Zungen, Lippen und Münder
zum Sinn moduliert, bleibt Sprache lose mit der längst verlassenen und fremd
gewordenen Heimat aller benannten Dinge verknüpft. Diese erste Form des Sprechens
teilen wir ganz von selbst und fraglos miteinander, doch nur solange, bis sich
in ihrem scheinbar so vertrauten Gewand etwas zu Wort meldet, das über sie
hinausreicht und hinter sie zurück will, als Sprache der Verrücktheit,
die das bis dahin von allen geteilte und von ihr plötzlich zerteilte Sprechen
zu einer Antwort herausfordert.
Diese Antwort kann sehr unterschiedlich
ausfallen: irritiert oder interessiert, erschrocken oder inspiriert, verbissen
oder aufhorchend, voller Angst und Haß oder in einer Mischung aus Humor,
Verwunderung und einfühlender Toleranz. Doch bildet die jeweils als zweites
angeführte Alternative die Ausnahme. Selten findet sie den Ort, von dem aus
sie eine Brücke zu jenen fremden Äußerungen schlagen könnte,
fast immer bleibt sie im Wortsinn utopisch. Dagegen hat die erste Variante eine
lange und einfallsreiche Tradition, die vom schlichten Ignorieren bis zum Gehirne
verstümmelnden Elektroschock reicht. Dort formiert sich Psychiatrie, die
einzig den reduzierten Sprechakt des Urteilens zur Verfügung hat, um (nicht)
über ihre Gegenstände zu reden, und die sich als monomanische,
sich selbst begründende Über-Schrift in jenem Vakuum breitmacht, das
sich einstellt, sobald sie ihre notdürftig als Diagnosen bemäntelten
Bannflüche gegen das von ihr Zerspaltene, das Schizoide, schleudert.
Taub für die Kakophonie der vielen Stimmen, die den organischen Rohstoff
für alle vernünftigen Reden bildet, mauert der Monolog der
Psychiatrie die Sprache der Verrücktheit in das stahlharte Gehäuse einer
formalen Logik der Symptome. Im Ordnung erzwingenden Blick der Psychiatrie ist
das erst im Entstehen begriffene, wundersame Gewächs des verrückten
Sprechens immer schon ein zu vertilgendes Unkraut. Als Abwehrreaktion auf unbestimmt
Befremdliches ist die Psychiatrie im Kern ihrer Strukturen notwendig polemisch
(polemos: griechisch, der Krieg).
Psychiatrie ist die Fortsetzung des eine
Gemeinschaft konstituierenden Krieges gegen das Andere mit allen Mitteln, die
zu seiner spurlosen Ausmerzung taugen. Neuroleptika sind das Agent Orange
im Dschungelkrieg der Supermacht Normalität gegen die merkwürdigen
und vaterlandslosen Partisanen, die in den Rissen des mühsam zementierten
Fundaments einer etablierten Ordnung die lästige Arbeit der Ver-rückung
leisten. Der Unfug der Idioten, also jener ganz und gar Eigentümlichen,
die in einem Idiom, einer Eigensprache, scheinbar nur sich selber
etwas erzählen, erweist die vermeintlich so glatten Fugen, an denen sich
das allen Gemeinsame zum Gesetz verfestigt, als bedrohlich klaffende und grob
zugeschüttete Spalten und Verwerfungen.
Das aber ist nicht nur für
die Verrückten allein gefährlich, sondern auch für alle anderen.
Und es bedarf der Mobilisierung einer ganzen als Wissenschaft getarnten Disziplin,
einer medizinischen Armee, um dieser Gefahr zu trotzen. Aus dieser Perspektive
wird ersichtlich, warum die Psychiatrie ein weitgehend rechtsfreier Raum sein
muß, der sich mit Hilfe von dubiosen Generalklauseln aller juristischen
Kontrolle entledigt: Ein Staatstheoretiker, der den Nationalsozialisten den Weg
zur Macht juristisch ebnete, hatte scharfsinnig bemerkt, daß »souverän
ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.« Mit der Attestierung
von Selbst- oder Fremdgefährdung wird von Psychiatern
der Grenzfall verfügt, in dem die überall sonst wirksamen Rechte des
Einzelnen außer Kraft gesetzt werden können. Innerhalb der Anstalt
ist der Arzt zugleich, und es gibt keine Instanz, bei der gegen die
Maßnahmen, die er im Rahmen seines therapeutischen Ermessensspielraums
verhängt, Einspruch erhoben werden könnte. In den krypto-militärischen
Institutionen der Psychiatrie herrscht Standrecht. Und ein streng hierarchisch
gegliedertes Offizierskorps, die Chef-, Ober- und Stationsärzte, exekutiert
es praktisch uneingeschränkt nach persönlichem Gutdünken.
Eindringlich
läßt die Autorin im ersten Teil ihres Buches meist die Psychiatrie
selbst beschreiben, wie es an dieser Front zugeht, ein selbstentlarvender Lagebericht
eines mit wissenschaftlichen Versatzstücken hochgerüsteten Grenzschutzes
derjenigen Ordnungsmacht, die noch der Kriminelle und sein Richter, der Obdachlose
und der Millionär, der Topmanager und sein Attentäter gemeinsam hervorbringen,
indem sie ihre Randzone ausleuchten. Die Sprache der Psychiatrie bezeugt nichts
anderes als diesen permanenten Krieg. Und das psychiatrische Fachwissen erweist
sich als der technische Vokabular für aggressive Machtstrategien: als Kampf-Schritt
im Wortsinn.
II. Schreibspiel
Im zweiten Teil ihres Textes
folgt Kerstin Kempker der Sprache ins Niemandsland, ein augenscheinlich
paradoxes Unterfangen. Doch bereichert um die bittere Kenntnis der psychiatrischen
Tilgungsstrategien, gibt das aus höchst verschiedenartigen Elementen gewobene
Textgefüge der Versuchung nicht nach, einen eigenen topologischen Standort
in der Welt zu inszenieren. In den Wissenschaften, in den Bibliotheken, im literarischen
Getriebe, in der politischen Opposition oder gar in den authentischen
Sprachzeugnissen der Verrückten. Auch hier, im Niemandsland, ist die Sprache
der Verrücktheit nicht zu Hause. Nur die Wüste, in die Ingeborg Bachmanns
Roman »Der Fall Franza« seine Protagonistin treibt, öffnet einen
leeren Raum, der, weil er nicht ist, sich auch nicht weigert, die erst noch zu
entdeckenden Spuren des allgegenwärtigen Ausschlusses von allem Wahnsinnigen
aufzunehmen. Die Wüste bildet eine sinnfällige Chiffre für die
marginale und gleichzeitig entscheidende Differenz zwischen Niemandsland
und Nichts, in der sich die sprachlichen Ereignisse der Verrücktheit
in dem Maße wieder verhüllen, wie sie sich offenbaren. Die Struktur
dieser verletzlichen Dialektik stellt auch den Grund dafür dar, daß
das Echo der Sprache der Verrücktheit selbst noch im Labyrinth der Zitate
nicht als unterscheidbare und identifizierbare Stimme vernehmbar wird.
Doch
entwirft Kerstin Kempkers Text ein verschachteltes Feld von Verweisungen, in dem
die Sprache der Verrücktheit vielleicht anzutreffen wäre, wenn sich
nicht genau derselbe Text in eben diesem Augenblick an eben dieser Stelle bereits
zu Wort gemeldet hätte. So bleibt in einer unabschließbaren, sich selbst
immer wieder aufhebenden Bewegung noch die intimste Annäherung an die Sprache
der Verrücktheit an deren prinzipielle Abwesenheit gebunden. Der breit gefächerte
Kontext der Zitate zirkelt eine Räche ab, auf der sich zwei Linien kreuzen:
Die
eine bildet der Fluchtweg des sich stets entziehenden wahnsinnigen Sprechens,
die andere stellt die Fährte dar, die die Autorin (und die Leser) auf ihrer
behutsamen Spurensicherung zwischen den vielen fremden Textfragmenten legen. Die
Vision einer Identität des alltäglichen, gemeinsamen Sprechens mit der
Sprache der Verrücktheit erscheint auf diese Weise in der Gestalt des immer
schon verlorenen, immer nur erhofften Schnittpunktes zweier abseitiger Pfade,
die um die betonierten und begradigten Kanäle der (post-) modernen Informationsströme
einen großen Bogen machen.
Über die Verschränkung von Literatur,
Wahnsinn und Leere schreibt der französische Kritiker Michel Foucault:
»Daher auch jene seltsame Nachbarschaft von Wahnsinn und
Literatur, der man nicht den Sinn einer psychologischen, endlich
bloßgelegten Verwandtschaft geben sollte. Aufgedeckt wie
ein Sprechen, das sich in seiner Selbst-Überlagerung verschweigt,
offenbart oder erzählt der Wahnsinn nicht die Entstehung
eines Werks; er bezeichnet die Leerform, aus der dieses Werk
kommt, d.h. den Ort, an dem er nie sein wird, an dem er sich
nie aufhalten wird, weil er sich dort nie aufgehalten hat. Dort,
in jenem fahlen Bereich, enthüllt sich die zwillingshafte
Unvereinbarkeit von Werk und Wahnsinn; dort ist der blinde Punkt
ihrer Möglichkeiten füreinander und ihres Ausschlusses
voneinander.«
Die Kohärenz und
Nachvollziehbarkeit des alltäglichen Sprechens, von deren Substanz auch noch
die Literatur zehrt, täuscht dort Fülle und Eindeutigkeit vor, wo unterschwellig
der Nonsens, die Leere, der Widerspruch und die Frage lauern. Aus dieser schlecht
beleuchteten Kellerregion aber nehmen die Synkopen und Arabesken der Sprache der
Verrücktheit ihr Material und ihre Dynamik. Am Horizont des Streits zwischen
diesen beiden Sprachgesten taucht in seltenen und günstigen Konstellationen
das Bild einer idealen Landschaft auf, das hinter den Sprachgrenzen das Wissen
um eine gemeinsame Herkunft beschwört. Darauf lenkt die Autorin die Aufmerksamkeit
des Lesers, wenn sie Ingeborg Bachmann zitiert.
»Denn dies bleibt doch: sich anstrengen müssen mit
der schlechten Sprache, die wir vorfinden, auf diese eine Sprache
hin, die noch nie regiert hat, die aber unsere Ahnung regiert
und die wir nachahmen ... Wir besitzen sie als Fragment in der
Dichtung, konkretisiert in einer Zeile oder Szene, und begreifen
uns aufatmend darin als zur Sprache gekommen.«
Im
ersten Teil erwies sich die Sprache als eine Technik der (psychiatrischen) Macht,
die als Instrument der Unterdrückung und Sprachverweigerung eine Ordnung
stabilisiert. Ihr antwortet allenfalls Schweigen. Im zweiten Teil zeigt sich,
wie Sprache im Prozeß des Schreibens vor dem Horizont der Verrücktheit
über sich hinausweisen kann. Dabei wird das selbst wiederum literarische
Mittel der Montage von Zitaten aus wissenschaftlichen, philosophischen, lyrischen
und epischen Texten zu einer Technik, die Ohnmacht der Sprache der Verrücktheit
zu überlisten: Zwar spricht nicht der Wahnsinn selbst. Doch spiegelt die
facettenreiche Konstellation des fragmentarisch Zitierten die Struktur der gleichzeitigen
Verdichtung und Entkopplung von gewohnten Sprachmustern, die beide auch der Sprache
der Verrücktheit zugrunde liegen.
Wer zitiert, gibt anderen das Wort.
Wer wie Kerstin Kempker aus einer großen Anzahl verschiedenartiger Quellen
so zitiert, daß die vielen Textausschnitte miteinander ins Gespräch
geraten und sich zu einem atonalen Chor vereinen, nutzt die Kunst der Montage,
um sonst nur getrennt wahrgenommene Diskurse aufeinander zu beziehen. Durch den
auf diese Weise sichtbar gemachten Abstand zwischen den Büchern, Kapiteln,
Zeilen, Wörtern und Buchstaben wird dem Raum gegeben, was in der ausdifferenzierten
Dichte dessen, was ist, weil es akzeptiert ist, weder gesehen noch gehört
werden kann. Die Qualität des Textes beruht nicht darin, Unbekanntes zu erforschen
und exakter zu benennen, sondern umgekehrt darin, Bekanntes, in dessen Namen die
geltende Auffassung von Wirklichkeit alles Andere, Zuwiderlaufende denunziert,
wieder in die Richtung auf die Namenlosigkeit zu öffnen, aus der das scheinbar
Objektive selbst einmal entstanden ist. Es geht nicht darum, Erkenntnis an die
Stelle von Unkenntnis zu setzen, sondern darum, das Selbst-Verständliche
an die Fragen rückzukoppeln, denen es sein Dasein verdankt, es frag-würdig
zu machen. Deshalb endet der Text auch mit zwei Fragen, einer zitierten und einer
eigenen, die in sich noch einmal ausklammert, was sie als Frage ohnehin schon
von aller Eindeutigkeit befreit hat: die Wirklichkeit: »Das ist so
ist das (wirklich) so?«
III. Kampfschrift und Schreibspiel
Ein
Kind spielt nicht, um sich die Zeit zu vertreiben, sondern um seine Ängste,
Konflikte, Hoffnungen und Nöte imaginativ zu artikulieren und zu verarbeiten,
da ihm die Möglichkeit (selbst-)reflektorischer, diskursiver Rationalität
noch fehlt. Analog dazu ist die wirre Rede des Verrückten eine
logisch und semantisch angemessene Antwort auf Widersprüche, die auf der
Ebene der herrschenden Rationalität nicht mehr aufzulösen, nicht zu
liquidieren sind.
Das Schreib-Spiel bezeichnet im Gegensatz zur
polemischen Kampfschrift der Psychiatrie diejenigen Ausdrucksformen, die es einerseits
dem Verrückten erlauben, sich im Medium der Sprache zu bewegen, und die es
andererseits einer Beobachtern wie Kerstin Kempker ermöglichen, sich mit
der schreibspielerischen Technik der Zitatenmontage so weit wie irgend möglich
an die Sprache der Verrücktheit heranzutasten. So wie das Spiel die Alternative
zum Kampf darstellt, rettet der Fluß des Schreibens des Lebendige vor dem
toten Buchstaben des Gesetzes, vor den unwiderruflich erstarrten Wahr-Zeichen
der Schrift.