Homepage
des Antipsychiatrieverlags
in:
Kerstin
Kempker & Peter Lehmann (Hg.): Statt Psychiatrie, Berlin:
Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag 1993, S. 397-400
Beiträge von
Lothar
Jändke,
Don
Weitz,
Alfredo
Moffatt,
Peter
R. Breggin,
Wolfgang
Fehse,
Sylvia
Marcos,
Gisela
Wirths,
Peter
Stastny,
Theodor
Itten,
Sabine
Nitz-Spatz,
Kerstin
Kempker,
Thilo
von Trotha,
Uta
Wehde
Bonnie Burstow
Persönliche
Beweggründe für antipsychiatrisches Handeln
Ich bin jetzt schon seit Jahren aktives Mitglied
in der kanadischen Antipsychiatrie-Bewegung und schreibe, demonstriere,
organisiere. Ich engagiere mich in einer ganzen Reihe von Bereichen:
in der Frauen-, der Antirassismus-, der Schwulen- und Lesben-Bewegung
sowie der Kampagne, die sich für die Abschaffung von Gefängnissen
einsetzt. Denn es berührt mich sehr, was für eine Art
von Gesellschaft wir uns schaffen. Schon seit meiner Jugend fühlte
ich mich besonders stark zur Antipsychiatrie-Bewegung hingezogen,
obwohl sich die Motivation für mein Engagement mit den Jahren
etwas verlagert hat.
Der grundlegende Abscheu, den ich vor der Psychiatrie empfinde,
hat seine Wurzeln bereits in den frühesten Erfahrungen meiner
Kindheit. Nur mit Glück überstand ich Kindheit und Jugend,
ohne dass ich in die Fänge der Psychiatrie geriet. Einige
Male kam sie mir sehr nahe. Als ich zwölf war, musste ich
zweimal die Woche einen Psychiater aufsuchen. Ich war von meiner
Schule abgegangen, weil ich mit dem Antisemitismus an ihr nicht
fertig wurde. Man interpretierte meine Weigerung, weiter zur Schule
zu gehen, als 'psychiatrisches Problem'. Der Psychiater, den ich
aufsuchen musste, machte oft Andeutungen, dass er mich in einer
Anstalt unterbringen könnte.
Als Teenager nahm ich eine Überdosis Schlaftabletten. Später
wurde mir bewusst, dass mein Todeswunsch hauptsächlich eine
Reaktion auf sexuellen Missbrauch und körperliche Misshandlung
war, obwohl ich zu dieser Zeit davon nichts gewusst hätte,
hätte man mich danach gefragt. Ich wurde gegen meinen Willen
ins St.-Boniface-Krankenhaus in Winnipeg zu einem Psychiater gebracht.
Ich dachte mir: Jetzt ist es um mich geschehen. Jetzt sperrt man
mich ein und verabreicht mir Psychopharmaka und Elektroschocks.
Zum Glück war mir klar, dass die Leute dort nicht meine Freunde
waren, und ich wusste, wie ich mich verhalten musste. Ich redete
mit ihnen ruhig, kohärent (zusammenhängend)
und kooperativ. Glücklicherweise kam ich da wieder heraus.
Anderen Mitgliedern meiner Familie erging es weniger gut. Durch
ihre Erfahrungen und ihren Einfluss fing ich an zu verstehen,
wie schädlich Psychiatrie ist. Mein Vater und meine Großmutter
waren beide Elektroschock-Betroffene. Mein Vater erhielt über
100 solcher 'Behandlungen'. Die längste Zeit seines Erwachsenenlebens
befand er sich entweder gerade auf dem Weg in die Psychiatrie
oder wieder auf dem Rückweg. Sobald er niedergeschlagen oder
aber ein bisschen zu glücklich war, 'therapierte' man ihn
mit Elektroschocks. Komplette Erinnerungsteile wurden ausgelöscht,
oftmals Erinnerungen, die er und seine Familie verzweifelt gebraucht
hätten. Er vergaß geschäftliche Transaktionen,
die er gemacht hatte. Immer wieder mussten wir feststellen, dass
wir riesige Schulden hatten, von denen keiner wusste, wie sie
zustande gekommen waren, mit Verpflichtungen, die uns völlig
unerklärlich waren. Es war qualvoll, mit einem Menschen zusammenzuleben,
der wegen seiner Gedächtnislücken ständig frustriert
war. Er litt, und ich musste ebenfalls unter seiner Frustration
leiden. Ich bin eine viel zu bewusste Feministin, um die fortwährenden
verbalen und manchmal auch tätlichen Angriffe meines Vaters
nur auf die Elektroschocks zurückzuführen. Mir ist trotzdem
schmerzlich bewusst, dass sich mein Vater nach solchen Elektroschock-Verabreichungen
sehr viel öfter an mir verging.
Meine spätere Berufserfahrung bestärkte mich als Erwachsene
in dem, was ich aus meinen Kindheitserfahrungen gelernt hatte,
und ließ mich mein Wissen aussprechen. Ende der 70er Jahre
wurde ich Psychotherapeutin. Ich hatte oft mit KlientInnen zu
tun, deren Leben von der Psychiatrie grausam zerstört worden
war. Ich traf Frauen, die sich nach Elektroschocks nicht mehr
an ihre Kinder erinnern konnten. Ich sah Menschen, die abhängig
von Psychopharmaka waren, sich nicht mehr klar artikulieren konnten,
völlig verwirrt waren, keiner Arbeit mehr nachgehen und ihrem
Leben keinen Sinn mehr geben konnten. Ich traf Opfer von sexuellem
Missbrauch, die nicht darauf hoffen konnten, ihre frühen
Erlebnisse jemals aufzuarbeiten, da Psychopharmaka jeden Zugang
zu den dringend benötigten Erinnerungen blockierten. Und
immer und immer wieder hatte ich mit Menschen zu tun, die ihrer
Menschenwürde beraubt worden waren: ihrer Fähigkeit
zu denken, zu fühlen, zu planen und zu schaffen, beraubt
sogar ihrer Glaubwürdigkeit, da jeder Protest, den sie vorbrachten,
sogar ihr Protest gegen die Psychiatrie, übergangen werden
konnte. Ein Etikett das des 'Psychiatrie-Patienten'
hatte sie erfolgreich invalidisiert. Schließlich konnte
ich dieses Elend, dieses Unglück und diese Entmenschlichung,
die sich Hilfe nannte, nicht länger mit ansehen, ohne mich
politisch zu engagieren, denn ich verstand die zugrunde liegende
Systematik und auch das Ausmaß des Unrechts. Es war eine
Frage von Verantwortung. Es war eine Frage persönlicher Integrität.
Mein anfängliches Engagement fand nicht direkt auf der Ebene
kommunaler Arbeit statt. Eine Freundin, die im Queen Street Mental
Health Centre (Zentrum für psychische Gesundheit)
arbeitete, kam eines Tages mit den Akten eines Insassen namens
Aldo Alviani zu mir, der kürzlich dort gestorben war. Sie
sagte: »Bonnie, sie haben noch jemanden umgebracht. Ich habe
dafür Beweise.« Ich ging mit den Akten zur N.D.P.
(New Democratic Party; sozialistische Partei in Kanada). Diese
brachte den Tod von Aldo Alviani vor das Provinzialgericht. Ergebnis
war eine amtliche Untersuchung der Vorgänge um Aldos Tod.
Ich beteiligte mich noch an anderen Enthüllungen. Anfänglich
konnte man damit noch etwas erreichen. Schließlich jedoch
reagierten die 'Kliniken': Sie ließen ihre Aktenschränke
bewachen. Es wurde mir klar, dass es wenigstens ein Todesfall
sein musste, sollte die Presse wieder über eine Person berichten,
die durch die Psychiatrie geschädigt worden war. Einfaches
Erblinden durch Psychopharmaka z.B. war keine Schlagzeile wert,
so wenig wie die alltäglichen Abscheulichkeiten in der Psychiatrie.
Ich merkte, dass ich alleine nichts ausrichten konnte und dass
es wichtig war, sich mit anderen zusammenzuschließen, um
auf einer anderen Ebene arbeiten zu können.
Diese Erkenntnis gipfelte schließlich darin, dass ich 1981
dem Redaktionskollektiv der antipsychiatrischen Zeitschrift
Phoenix Rising beitrat. Später tat ich mich noch mit
weiteren Psychiatrie-Betroffenen und antipsychiatrischen AktivistInnen
zusammen, um politische Aktionsgruppen zu gründen, wie z.B.
die Ontario Coalition to Stop Electroshock (Ontario-Koalition
zur Abschaffung des Elektroschocks) und Resistance Against
Psychiatry (Widerstand gegen Psychiatrie). Schon seit
Jahren demonstrieren und protestieren wir, geben Unterstützung
und klären auf.
Meine Motivation ist dieselbe geblieben. Gleichzeitig ist sie
durch meine Erfahrungen in der Bewegung noch verstärkt worden.
Ich habe erlebt, wie neue Gesetze verabschiedet wurden, die die
Macht der Psychiatrie zumindest in gewissem Maße einschränken.
Ich habe gesehen, dass sich durch unsere Arbeit immer mehr Menschen
Gedanken machen. Ich spreche hier von der breiten Öffentlichkeit
und von Familien und FreundInnen Psychiatrie-Betroffener. Ich
spreche ebenfalls von den Professionellen; diese erkennen allmählich,
dass die Psychiatrie keine Verbündete ist, sondern von Angehörigen
eines Berufsstandes betrieben wird, der seinen 'KlientInnen' schweren
Schaden zufügt. Und es gibt jetzt MitarbeiterInnen von Sozialdiensten
und feministische Therapeutinnen, die inzwischen selbst erklärte
GegnerInnen der Psychiatrie sind und alles tun, um ihre KlientInnen
vor ihr zu schützen.
Es ist jedoch die direkte Wirkung auf Psychiatrie-Betroffene
selbst, die mich so sehr bewegt und weitermachen lässt. Ich
habe gesehen, was passiert, wenn diese Menschen sich mit anderen
Betroffenen zusammentun, ihre Lebensgeschichte vergleichen, Bestätigung
finden und Veranstaltungen organisieren, wo sie vom erlebten Missbrauch
berichten können. Sie finden Gemeinschaft, Bestätigung
und Solidarität. Ihnen wird klar, dass sie nicht verrückt
sind und dass sie nicht alleine sind. Sie problematisieren ihre
Etikettierungen und befreien sich von ihnen. Sie gewinnen ihre
Fähigkeit zurück zu erkennen, zu benennen und zu protestieren.
Sie können sich immer besser befreien: von der äußeren
Intervention der Psychiatrie als auch von deren verinnerlichtem
Einfluss.
Jedes Mal, wenn wir eine Demonstration oder eine Aufklärungsveranstaltung
organisieren, sehe ich einige neue Gesichter, die zum ersten Mal
über ihre Erfahrungen sprechen. Ich sehe ihre Erleichterung
darüber, dass sie verstanden werden, die Freude an der Gemeinschaft,
das wachsende Bewusstsein, dass sie etwas mitzuteilen haben und
dass das, was sie zu sagen haben, etwas bewirken kann. Und ich
sage zu mir: Ja, wir müssen weiter machen.
Aus dem kanadischen Englisch von Ulrike Stamp
Über die Autorin
Antipsychiatrische Aktivistin aus Kanada, ehemals Mitherausgeberin
der Zeitschrift Phoenix Rising und Mitvorsitzende der Ontario
Coalition to Stop Electroshock. Derzeit Mitglied von Resistance
Against Psychiatry. Früher Lehrtätigkeit als Assistenzprofessorin
für Sozialarbeit an der University of Manitoba in Winnipeg
und der Carleton University in Ottawa. Veröffentlichungen:
Herausgeberin von "Shrink Resistance. The Struggle Against
Psychiatry in Canada", Vancouver: New Star Books 1988 (gemeinsam
mit Don Weitz); "Radical Feminist Therapy: Working in the
Context of Violence", Newbury Park, London & Neu Delhi:
Sage Publications 1992 das erste feministische Buch über
Psychotherapie mit eindeutiger antipsychiatrischer Ausrichtung;
u.v.m. (Stand: 1993). Nachtrag: Bonnie Burstow, geboren am 6.
März 1945, starb am 4. Januar 2020. Mehr
von Bonnie Burstow im Antipsychiatrieverlag
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