Homepage
des Antipsychiatrieverlags
in:
Kerstin
Kempker & Peter Lehmann (Hg.): Statt Psychiatrie, Berlin:
Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag 1993, S. 405-407
Beiträge von
Lothar
Jändke,
Don
Weitz,
Alfredo
Moffatt,
Peter
R. Breggin,
Bonnie
Burstow,
Wolfgang Fehse,
Sylvia
Marcos,
Gisela
Wirths,
Theodor
Itten,
Sabine
Nitz-Spatz,
Kerstin
Kempker,
Thilo
von Trotha,
Uta
Wehde
Peter
Stastny
Persönliche
Beweggründe für antipsychiatrisches Handeln
Leute, die wie ich eine psychiatrische Ausbildung
haben, leiden an einer ernsten Krankheit: Wir haben kein vergleichbares
Maß an Agonie und Trauma erlebt wie Leute nach psychiatrischer
Intervention. Dies ist tatsächlich ein großes Manko; diese
Erfahrung nicht zu haben, macht es viel schwieriger, Leute mit
solcher Erfahrung zu akzeptieren, sie ohne Bevormundung zu schätzen,
und sie für etwas anderes als 'chronische Patienten und Patientinnen'
zu halten. Diese Erfahrung nicht zu haben, macht es leichter zu
diagnostizieren, zwangszubehandeln, Psychopharmaka zu verschreiben,
Menschen abzuweisen, sie zu meiden und letztendlich zu vergessen.
Aber anstatt zu überlegen, wie wir diesen Mangel berichtigen
könnten, verbringen wir die meiste Zeit damit, unsere Positionen
zu festigen und uns hinter 'therapeutischen' Methoden zu verschanzen.
Wir bemühen uns, jedwede emotionale Beziehung zu Betroffenen
zu vermeiden, und entwickeln dabei bürokratische Strukturen,
die dazu dienen, unsere Anschauungen zu zementieren und die Betroffenen
hinter Schranken zu halten, dort wo 'Patienten' eben hingehören.
Was würde geschehen, wenn wir uns fragten, warum wir eigentlich
diese Stellung einnehmen? Was, wenn wir die Aufgabenstellung unserer
psychoanalytischen Ahnen ernst nähmen und unsere 'Gegenübertragung'
wirklich analysierten? Würden wir dann zu neurotischen Nachkommen
einer schwindenden mitteleuropäischen Intelligenzija abgekanzelt
werden, zu jüdischen Ärzten und Ärztinnen, die
den Anblick von Blut scheuen, zu ängstlichen Wohlmeinenden,
deren Selbstwert von gemeinnützigen Taten abhängt? Oder
würden wir gar verschwinden hinter den Spiegeln, die wir
jenen hinhalten, verlorengehen im Strudel unserer diagnostischen
Verwirrung und versinken in therapeutischem Nihilismus? Oder könnten
wir gar wahnsinnig werden? Ist das ganze professionelle Getue,
unser Zugang zu 'Patienten' nichts weiter als eine Abwehr der
Angst vor dem Verrücktwerden?
Anzunehmen, dass wir 'unsere Patienten' tatsächlich zur
Bewältigung unserer Ängste vor einem ähnlichen
Schicksal verwenden, scheint wirklich skandalös. Und doch,
es mag etwas daran stimmen. Um dieser Möglichkeit auf den
Grund zu gehen, muss ich mich ein wenig entblößen. Meine
Mutter hat Auschwitz überlebt. Sie war 14, als sie ihre Eltern,
ihre einzige Schwester und alle Freunde verlor. 20 Jahre nach
dem Krieg ich war gerade 14 bewog sie mich, Arzt
zu werden, damit ich ihre vielen Leiden heilen könne. Zunächst
sagte ich nein und entschied mich lieber zum Studium der Biochemie
mit dem Ziel, den Geheimcode der Psyche zu entziffern. Mit 18
überlegte ich es mir wieder und begann, Medizin zu studieren.
In den darauf folgenden 15 Jahren dachte ich keine Minute an die
Kriegserlebnisse meiner Mutter. Ich promovierte, beschäftigte
mich kurz mit Kardiologie (Herzmedizin), übersiedelte
nach Amerika und wurde Psychiater, ohne zu wissen warum. Eigenartigerweise
konnte ich den Regeln meines Berufs nicht folgen ich hasste
das 'Spital', zweifelte an den Psychopharmaka, knüpfte Freundschaften
mit Betroffenen und vergaß, dass ich Arzt war. Vor ca. drei Jahren
entdeckte ich den Grund für dieses berufsfremde Benehmen.
Als mir eine Patientenfürsprecherin, Psychiatrie-Überlebende
und gute Freundin erzählte, dass ihre Großmutter von den
Nazis in einer Berliner Psychiatrischen Anstalt ermordet wurde,
verstand ich plötzlich mein abweichendes Verhalten. Was mich
am meisten zu bewegen schien, war die Tatsache, dass ich nicht
dort war, dass ich nie wirklich wissen konnte, was meine Mutter
tatsächlich im KZ erlebt hat; dass ich nie erfahren kann,
was es heißt, echte Depression und andere außergewöhnliche
Geisteszustände zu erleben; nie wirklich das Ausmaß
der Entbehrungen abschätzen kann, die man im Zuge einer Psychiatrisierung
erleidet.
Meine Mutter spricht wenig über ihre Erfahrungen während
des Krieges. Vor einiger Zeit spazierte ich in Florida mit meinem
Vater an einem Strand entlang, als er mir zum ersten Mal die Lebensgeschichte
meiner Mutter erzählte. Da wurde mir noch klarer, wie wenig
ich eigentlich wissen kann.
Was hat dies alles mit Psychiatrie zu tun, mit Selbstbestimmung,
mit der Erfahrung der Verrücktheit? Das ist mir eigentlich
nicht ganz klar. Mit Bestimmtheit kann ich nur sagen, dass Psychiater
und andere 'psychosozial Berufene' nie das letzte Wort haben dürfen.
Die letztendliche Autorität liegt an den Orten der eigenen
Erfahrung; sie stammt von Erinnerungen, Geschichten und Erklärungen
vieler Millionen Menschen, die diese Erfahrungen gemacht haben.
Ich war so frei, über meine Erfahrung, nicht dort gewesen
zu sein, zu berichten. Vielleicht hilft es, den Spiegel gegen
sich selbst zu kehren, um die Leute gegenüber besser zu erkennen.
In dem Augenblick, wo wir sie so sehen, wie sie da sind, können
wir wieder daran denken, Beziehungen zueinander aufzubauen. Erst
dann können wir auf eine Welt zuarbeiten, deren Inhalte von
allen Menschen bestimmt werden und nicht nur von denen, die nur
ihre Aufgaben erfüllen. So können wir vielleicht zusammenarbeiten,
um die Qualen und Schäden zu vermeiden, die die Psychiatrie
nach wie vor Tausenden antut, die inmitten schwierigster Begebenheiten
in ihre Fänge geraten.
Über
den Autor
Geboren 1952 in Wien, hat dort 1976 das Medizinstudium
abgeschlossen und lebt seit 1978 in New York City. Er ist Universitätsdozent
am Albert Einstein College of Medicine im New Yorker Stadtteil
Bronx und Leiter mehrerer staatlich geförderter Forschungsprojekte
in den Bereichen Arbeitsplatzsicherung, soziale Unterstützung
und Selbsthilfe, in Zusammenarbeit mit Menschen, die persönliche
Krisen und psychiatrische Intervention überstanden haben. Im
besonderen arbeitet er am Aufbau von Einrichtungen, die psychiatrische
Maßnahmen vermeiden und autonome Alternativen anbieten. Durch
diese Tätigkeit hat sich eine enge Zusammenarbeit mit der Betroffenen-Bewegung
entwickelt, die in gemeinsamen Forschungsaufträgen, Publikationen,
Öffentlichkeitsarbeit und Demonstrationsprojekten aufgeht. Zur
Zeit arbeitet er an der Vorbereitung eines Dokumentarfilms und
mehreren Schriften über antipsychiatrische und antiinstitutionelle
Praxis (Stand: 1993). Mehr
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© 1993 by Peter Stastny