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in: Kerstin Kempker (Hg.): Flucht in die Wirklichkeit – Das Berliner Weglaufhaus, Berlin: Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag 1998, S. 30-37 / PDF

Peter Lehmann

Zum Davonlaufen – Wie die Weglaufhausgruppe entstand

Es war einmal eine solidarische antipsychiatrische Selbsthilfegruppe von Psychiatriebetroffenen, die Irren-Offensive e.V. Wir hatten uns 1980 in Berlin zusammengeschlossen, um uns gegenseitig zu stärken, Erfahrungen auszutauschen und gemeinsam gegen die Psychiatrie anzugehen.

Zusammen mit Mitgliedern des Psychiatrie-Beschwerdezentrums fuhr die Gruppe 1982 in zwei VW-Bussen nach Amsterdam zum Kongress "Psychipol", bei dem es um Alternativen zur Psychiatrie ging. Am Rande des Kongresses besuchte die Reisegruppe das Wegloophuis Kaizersgracht. Das Staunen, dass es so etwas gibt, wich nach der Rückkehr in Berlin dem festen Wunsch, ein Haus für ein gruppeneigenes Projekt zu organisieren. Eine "Hausgruppe", bestehend aus Mitgliedern der Irren-Offensive und des Beschwerdezentrums (vorwiegend nicht-psychiatriebetroffene PsychologiestudentInnen), wurde gegründet (Stöckle 1983a). Sie traf sich regelmäßig und begann, sich Klarheit zu verschaffen, was genau in dem angestrebten Haus passieren solle. Schon 1983 zeigte sich, dass unterschiedliche Vorstellungen bestanden.

Ein Teil der Hausgruppe wollte ein antipsychiatrisches, alternatives Irrenhaus, ein "Verrücktenhaus", in dem ausschließlich Betroffene wohnen sollten, insbesondere Mitglieder der Irren-Offensive. Ihr Motto war "zusammen leben, arbeiten und kämpfen". Das Haus sollte Schutz vor der ständig drohenden Psychiatrisierung liefern. Sozialhilfe, Krankengeld oder Frührente hätten die nötige finanzielle Absicherung gebracht, die Beantragung staatlicher Zuschüsse überflüssig gemacht und den Ausstieg aus isolierten und verrücktmachenden Lebensverhältnissen ermöglicht (Pietsch 1983).

Ein anderer Teil der Hausgruppe wollte ebenfalls ein Verrücktenhaus: Staatlich teilfinanziert sollte es allerdings sein, die Erfahrungen Psychiatriebetroffener sollten ins Konzept eingehen, aber nicht unter Ausschluss anderer Erfahrungen. Der reine Selbsthilfeansatz sollte – unter Einbeziehung von Fähigkeiten Nicht-Betroffener und zugunsten von Hilfsangeboten für andere – ausgeweitet werden. Also sollte dieses Haus möglichst von einem gemischten, bezahlten Team betrieben werden. Tina Stöckle, eine Mitbegründerin der Hausgruppe, schrieb seinerzeit, dass noch nicht entschieden sei,

"... ob Menschen, die selbst noch nicht in der Psychiatrie waren, im Ver-rücktenhaus mitarbeiten können. Die wesentliche Voraussetzung dafür ist, dass diese Menschen Verständnis für ihre eigenen Probleme und eben für die Probleme der Ver-rückten besitzen, dass sie da sein können, ohne den Anspruch, dem Hilfesuchenden etwas aufzuzwingen oder aufzudrängen. (...)

Aufgefallen ist uns beim SSK (Sozialistische Selbsthilfe Köln e.V., P.L), dass die einzelnen Mitglieder sehr stark engagiert sein müssen, innerhalb der Gruppe funktionieren müssen, sonst würde die Organisation zusammenbrechen. Dort ist eigentlich zu wenig Raum für Menschen, die sich eine Zeitlang nicht einordnen können, die zu sehr mit sich selbst beschäftigt sind. Das Leben im SSK ist hart und fällt somit als Vorbild für unser Ver-rücktenhaus weg, weil wir gerade eben auch den Menschen einen Platz und Schutzraum bieten wollen, die nicht mehr funktionieren – das kann auch uns selbst betreffen. Das bedeutet, dass wir uns in Arbeitskollektiven nur teilweise selbst finanzieren könnten. Für den Auf- und Ausbau eines Ver-rücktenhauses wäre unbedingt eine staatliche Unterstützung nötig." (Stöckle 1983b, S. 31f.)

Als Kompromiss bot sich an: Jede Fraktion versucht, ihr Konzept zu verwirklichen, die zwei Konzepte müssen sich gegenseitig nicht ausschließen, im Gegenteil.

Im Lauf der Zeit wuchs die Hausgruppe. Einzelne Nichtbetroffene, mehr oder weniger frei von psychiatrischer Ideologie, stießen dazu. Natürlich kam es auch zu Liebesbeziehungen zwischen den Mitgliedern der Hausgruppe. Und sie funktionierte gut – solange die Beziehungen hielten. Scheiterten jedoch insbesondere Beziehungen zwischen psychiatriebetroffenen und nichtbetroffenen Mitgliedern, hatte dies nicht bloß die übliche persönliche Katastrophe der unmittelbar Beteiligten zur Folge: Eine Zusammenarbeit zwischen Psychiatriebetroffenen und Nichtbetroffenen konnte für unmöglich erklärt werden, der ungeliebte Ex-Partner – der Nichtbetroffene – durfte "in sich gehen und das Weite suchen".

Während in der Folgezeit von der Fraktion des ausschließlich von Betroffenen zu tragenden Verrücktenhauses keine weiteren Aktivitäten bekannt werden, ist die Hausgruppe um Tina Stöckle recht tätig, trägt alleine die Projektarbeit und macht sich an die Formulierung der Konzeption.

1986 hörten wir, die Mitglieder der Hausgruppe, vom sagenhaften Reichtum Jan Philipp Reemtsmas und seiner nach ihm benannten Stiftung. Ein Mitglied der Irren-Offensive hatte sogar in seiner Vergangenheit persönliche Beziehungen zur Familie Reemtsma gehabt, seine Ausbildung war von ihr finanziert worden. Allerdings sollten wir auf dieses Verhältnis lieber nicht hinweisen, zu sehr hatte unser Mitglied offenbar in verrücktem Zustand seine ehemaligen Gönner genervt.

Wir erfuhren, dass die Reemtsma-Stiftung vorrangig Forschungsprojekte finanziert. Also beantragten wir Forschungsgelder, und zwar zur Untersuchung der Möglichkeit, wie ein Weglaufhaus nach holländischem Vorbild errichtet werden kann, allerdings antipsychiatrisch und ohne Psychopharmaka (Projekt Weglaufhaus 1987). Es bot eine Reihe von Vorteilen gegenüber dem Verrücktenhaus: Es schien einfacher zu begründen, denn die Erfahrung hatte gezeigt, dass immer wieder aus der Psychiatrie Weggelaufene bei der Irren-Offensive Schutz gesucht hatten. Sie waren gar nicht so verrückt gewesen und hatten hauptsächlich Unterkunft, rechtlichen und finanziellen Beistand und GesprächspartnerInnen gesucht. Wir mussten keine weitergehende konzeptionelle Antwort auf die Frage finden, wie akut Verrückte in das Haus kommen und was mit ihnen dann passieren sollte, war doch die allgemeine Erfahrung, dass sie in diesem Zustand kaum zum Bleiben zu bewegen waren, auch wenn draußen die Gefahr der Psychiatrisierung drohte. Außerdem konnten wir auf den holländischen Erfahrungen aufbauen.

Nichtbetroffene, mit denen gute Erfahrungen gemacht wurden, konnten in die Mitarbeit einbezogen werden. Mit einem Vetorecht wurde der Einfluss der Betroffenen abgesichert. Das Weglaufhaus sollte einen bezahlten Arbeitsplatz bieten, die eigene Wohnung als Rückzugs- und Erholungsmöglichkeit bewahrt werden.

Die Weglaufhausgruppe entsteht

Die Gelder wurden zwar mit der Standardbegründung "Nicht zuständig" abgelehnt, aber die notwendig gewordene erste schriftliche Formulierung der Konzeption für das Projekt brachte uns einige Klarheit darüber, welche gravierend unterschiedlichen Vorstellungen bei uns vorhanden waren, wenn wir vom "Haus" redeten. Die Publikation des Artikels in der Irren-Offensive sowie weitere Öffentlichkeitsarbeit, z.B. im Radio, führten dazu, dass eine Reihe interessierter Nichtbetroffener zur Hausgruppe stießen.

So ist die Weglaufhausgruppe entstanden, und sie entwickelt sich zur Gruppe mit eigenem Gruppenbewusstsein. Die Konzeption wird weiterentwickelt. Finanzierungsanträge werden geschrieben, teilweise unter immensem Zeitdruck, da von der Senatsverwaltung immer wieder Fristen genannt werden, mit deren Einhaltung wir große Hoffnungen verbinden.

Noch ist die Weglaufhausgruppe mit der Irren-Offensive eng verbunden. Doch in der Irren-Offensive zeichnen sich erste gravierende Probleme ab. Ihre Praxis ist nicht mehr so friedlich und befriedigend wie in den ersten Jahren. Routine entwickelte sich. Einige Mitglieder, die (zu) oft im Mittelpunkt des Geschehens standen, verlieren die Lust bzw. Einsicht in die Notwendigkeit, immer und immer wieder von ihrer eigenen Psychiatriegeschichte zu erzählen. Vorwürfe der Abgehobenheit tauchen auf, es gehe ihnen zu gut, sie müssten mal wieder in die Psychiatrie. Zweifel am Sinn der Selbsthilfegruppe tauchen auf. Hierarchien der Beliebtheit und Anerkennung werden mit neuen Hierarchien bekämpft: Wer ist der bzw. die Betroffenste unter den Betroffenen, wem geht es am schlechtesten? Sind die Psychiatriebetroffenen ohne bzw. mit unabgeschlossenem Studium prinzipiell authentischer als diejenigen mit Abschluss? Leiden wird zum Markenzeichen und Qualifikation zum Vorwurf, adrette Kleidung macht verdächtig, Männer in Anzügen sind sowieso Verfassungsschutzspione, mögen sie von noch so großen Qualen in der Psychiatrie berichten. Der Vereinstreffpunkt muss szenegemäß schmuddelig sein, und wer sich daran stört und putzen und aufräumen will, ist als bürgerlich und Normalo entlarvt. Auch andere Konflikte stehen ungelöst im Raum: Wie lange können sich die Sensiblen noch auf die Geschäftigkeit der Managertypen einlassen bzw. wie lange ertragen die nüchtern Argumentierenden diejenigen noch, die die Emotionalität gepachtet zu haben scheinen? Und ist das Plenum, in dem es neben Persönlichem häufig auch um Politisches geht, nicht zu sehr von den Bedürfnissen derer entfernt, die vor allem Geselligkeit und sich austauschen ("Kaffeekränzchen") wollen?

Einige Mitglieder der Irren-Offensive, die auch in der Weglaufhausgruppe engagiert sind, versuchen, dem nimmer endenden Frust im Montagsplenum der Irren-Offensive zu entgehen und legen den Termin der Weglaufhausgruppe ebenfalls auf den Montagabend. Kommen Mitglieder der Irren-Offensive aus der Verrücktenhausfraktion auch mal zum Treff der Weglaufhausgruppe, werden sie als störend empfunden: Sie haben den Diskussionsprozess nicht mitverfolgt, und nur weil sie sporadisch auftauchen, kann nicht alles noch einmal von Grund auf neu diskutiert werden. Nichtbetroffene, die eher mal den falschen, d.h. psychiatrischen Begriff benutzen, werden deshalb nicht gleich zum Teufel geschickt. Es hat sich ein eigener, geduldigerer Diskussionsstil in der Weglaufhausgruppe entwickelt, auch wenn insbesondere sozialpsychiatrische Ideologie dort ebenso verpönt ist wie in der Irren-Offensive.

Weglaufhausgruppe und Irren-Offensive driften auseinander. Andererseits verbinden die Doppelmitgliedschaft einzelner sowie die Tatsache, dass beide Gruppen antipsychiatrisch und betroffenenkontrolliert sind. Außerdem ist der Irren-Offensive, die zudem von der Senatsverwaltung finanziell unterstützt wird, die Gemeinnützigkeit zuerkannt worden, und wollte die Irren-Offensive insgesamt nicht ein Weglaufhaus? Sind das nicht ausreichende Beweggründe, gar nicht erst daran zu zweifeln, dass das Weglaufhaus unter der formalen Trägerschaft der Irren-Offensive konzipiert wird? Doch

Dann kommt die Million

Wiederholt macht ein Mitglied der Weglaufhausgruppe nicht weiter ausgeführte Andeutungen, er wolle für das Projekt gemäß der entwickelten Konzeption Geld spenden. Der Mann, der erst bei ein paar Treffen dabei war, erfährt jedoch wenig Beachtung, da die Projektgruppe überzeugt ist, dass eine Spende von ein paar Tausend Mark zu früh kommt und nicht den großen Fortschritt bringt, und so pocht er zuletzt auf einen Termin. In einer Pizzeria in Anwesenheit von drei ihm vertrauenswürdig erscheinenden Mitgliedern der Weglaufhausgruppe zieht er schließlich einen Kontoauszug aus der Tasche und überreicht ihn, Kontostand: 1.000.000 DM. Wir könnten mit dem Geld ein Haus kaufen.

Er wolle allerdings anonym bleiben, aus Angst, von Freunden und Bekannten nur noch als möglicher Geldgeber betrachtet zu werden. Die Nachricht über das Geld löst in der Weglaufhausgruppe Begeisterung aus, in der Irren-Offensive zuerst auch. Doch

Dann kommt der Streit

Die Weglaufhausgruppe sieht sich auf dem Weg zu ihrem Haus ein großes Stück weiter. Offenbar aber auch die Verrücktenhausfraktion: mit der Million wäre sie der Verwirklichung ihres Traumes sehr nahe gekommen. VertreterInnen dieser Fraktion stürmen die anstehende Mitgliederversammlung der Irren-Offensive, bei der Vorstand einschließlich KassenwartIn gewählt werden sollen, es fällt die Forderung "Wir wollen Kontozugang!" Außenstehenden muss an dieser Stelle gesagt werden, dass die Mitgliederversammlung der Irren-Offensive in den acht Jahren zuvor immer eine Sache war, die friedlich und innerhalb von zehn Minuten über die Bühne ging. Jetzt muss die Versammlung mehrmals neu angesetzt werden, da permanent herumgebrüllt wird und Tassen durch die Gegend fliegen. Dabei hat sich der Kontostand gar nicht geändert. Die Million ist nur versprochen, nicht der Irren-Offensive, sondern der Weglaufhausgruppe, und auch nicht als Bargeld, sondern zur Bezahlung eines noch zu suchenden Hauses. Doch diese Feinheiten interessieren nicht mehr. Ist die Million nicht auf dem Konto, kann sie nur gestohlen sein – so der jetzt geäußerte Vorwurf. Der Spender soll mit Name und Adresse benannt werden, damit Mitglieder der Verrücktenhausfraktion zu ihm gehen und ihm klarmachen können, dass ihnen die Spende mit mehr Recht zu vermachen ist als uns: sie brauchten ja nur ein Haus und könnten sofort beginnen. Die Schlammschlacht beginnt.

Eine ganze Reihe schwebender Konflikte macht eine Einigung in Frieden unmöglich. Die Weglaufhausgruppe, obwohl inzwischen mehr oder weniger autonom, ist aufgrund ihrer Entstehungsgeschichte, aber auch wegen der Gemeinnützigkeit und der vermeintlich in Bälde anstehenden finanziellen Unterstützung durch den Senat noch mit der Irren-Offensive liiert. Einige Psychiatriebetroffene der Weglaufhausgruppe glauben weiterhin an eine gütliche Lösung und setzen sich dafür ein, wodurch sie gleichzeitig eine rasche Trennung der beiden unmöglich machen. Der Trennungsprozess zweier langjähriger Mitglieder der Irren-Offensive, gelegentlich mitten in Versammlungen ausgetragen, führt zu einer zusätzlichen Belastung. Die Abneigung vieler Mitglieder der Irren-Offensive gegen PsychologInnen, oft Ergebnis eigener unangenehmer Erfahrungen in Anstalten und Therapien, kann leicht gegen einzelne Mitglieder der Weglaufhausgruppe gelenkt werden.

1989 erfolgt die Gründung des Vereins zum Schutz vor psychiatrischer Gewalt e.V. Die vereinsrechtliche Verflechtung mit der Irren-Offensive hatte sich als Hemmschuh erwiesen, und außerdem sollen Nichtbetroffene die Möglichkeit erhalten, Vereinsfunktionen zu übernehmen. Doch es treten auch Mitglieder der Verrücktenhausgruppe in den neuen Verein ein. Langjährige Weglaufhaus-Aktive treten genervt aus, der Streit dominiert und blockiert die Sache bis hin zu öffentlichen Angriffen und einer von drei Mitgliedern der Irren-Offensive an die Senatsverwaltung für Gesundheit gestellten Forderung, dem geplanten Weglaufhaus keine Mittel zur Verfügung zu stellen. Doch all dies schadet nicht mehr, denn der Senat sagt sowieso nein zum Finanzierungsantrag.

In der Folgezeit, zu Beginn der 90er-Jahre, verlassen nach und nach weitere Mitglieder die Irren-Offensive, teilweise wechseln sie zum Verein zum Schutz vor psychiatrischer Gewalt. Sämtliche Mitglieder der Verrücktenhausfraktion verlieren ebenfalls das Interesse an der Irren-Offensive, hinterlassen aber in deren Zeitschrift (August 1991) ihre Art der Abrechnung mit dem Weglaufhausprojekt. Diese Schriften kursieren nach wie vor und schüren ein Feuer, das so nie brannte.

Noch lähmt das Schreckgespenst endloser und vor allem nutzloser Diskussionen und die verbliebene Sprachlosigkeit, die unselige Spaltung der psychiatriekritischen Psychiatriebetroffenen in Berlin besteht noch immer.

Literatur

Coyright 1998 by Peter Lehmann, Berlin