Ursula Zingler
»Vom Streit um die Ursachen seelischen Leidens zum integrativen Krankheitsverständnis«
Sehr
geehrte Damen und Herren, liebe Mitstreiterinnen und Mitstreiter für eine
subjektorientierte Psychiatrie,
bevor ich Ihnen meine Ausführungen
zum vorgegebenen Thema »Vom Streit um die Ursachen seelischen Leidens zum
integrativen Krankheitsverständnis« unterbreite, stelle ich mich kurz
vor. Ich bin 61 Jahre alt, seit 37 Jahren verheiratet, Mutter und Großmutter.
Seit fast 26 Jahren bei einem großen medizinischen Verlag als Redakteurin
und Korrektorin angestellt, jedoch hauptsächlich betriebsrätlich tätig
bis vor kurzem als Vorsitzende. In meiner Freizeit engagiere ich mich auf
vielfältige Weise als Mitglied des geschäftsführenden Vorstandes
des BPE, als Vorsitzende der Landesarbeitsgemeinschaft Baden-Württemberg
und Sprecherin der Stuttgarter Gruppe.
Vor 19 Jahren musste ich mich in
psychiatrische Behandlung begeben. Im Entlassbericht aus klinischer Behandlung
vom 2.3.1982 steht als Diagnose »Monopolare endogene Depression (ICD 296.1)«.
Fast ein Jahr fehlte ich damals am Arbeitsplatz. Die Prognose war schon allein
aufgrund meines Alters ungünstig. Nach Überwindung der seelisch bedingten
Störung schwor ich mir, alles zu tun, um nie wieder in ein solch »Schwarzes
Loch« wie ich den Zustand der Depression nenne zu geraten.
Viele glückliche Umstände halfen mir, ein neues seelisches Gleichgewicht
zu erlangen, so dass ich bis heute weder psychiatrische noch psychotherapeutische
Unterstützung benötige. Als Expertin in eigener Sache will ich Ihnen
von meinem Weg berichten. Ich bin der Überzeugung, damit der Bitte von Herrn
Prof. Saß gerecht zu werden. Seine Empfehlung lautete, darüber zu berichten,
»wie aus (meiner) Sicht seelische Leiden entstehen und wie sie umfassend
verstanden werden können«. Zudem ist es ihm wichtig, »die Gesichtspunkte
der Beziehung zwischen den Kranken und ihrer sozialen Umgebung« zu beleuchten.
Im Frühjahr 1981 war ich 41 Jahre alt, seit 18 Jahren verheiratet und voll
berufstätig. Unsere Tochter hatte ihr 17. Lebensjahr vollendet. Als Folge
eines Vorgesetztenwechsels war meine Arbeit immer unbefriedigender geworden. Als
ich damals nach einem dieser unsinnigen Dienstgespräche an meinen Arbeitsplatz
zurückkehrte, spürte ich, dass in mir etwas kaputtging. Eine große
Hoffnungslosigkeit machte sich breit, und ich murmelte vor mich hin: »Wozu
das Ganze noch? Nur für Wandern und Fernsehen?« Eine Kollegin, die das
Geschehen seit geraumer Zeit beobachtete, sagte: »Frau Zingler, Sie sind
krank. Gehen Sie zum Arzt.« Was sie damit meinte, wusste ich nicht, jedoch
nahm ich eine kleine Erkältung zum Anlass und ließ mich arbeitsunfähig
schreiben. In der darauffolgenden Nacht wachte ich nach ca. 1 1/2 Stunden auf
und dachte: »O Gott, o Gott, vierzehn Tage zu Hause! Was machst du denn da
nur?« Damit begann meine Schlaflosigkeit. Nach drei Wochen wurde ich zum
Facharzt für Neurologie und Psychiatrie überwiesen mit den Worten: »Wenn
überhaupt einer helfen kann, dann Dr. St...« Jener hörte sich meine
Geschichte an, schrieb mich krank, verordnete Limbatril und Dalmadorm und sagte
sinngemäß: »Ich verschreibe Ihnen dies und das, jenes und welches.
Wenn alles nicht hilft, wird Ihnen sicherlich Lithium helfen; einer Studentin,
der ich es gerade verschrieb, hat es sehr geholfen.« Er meinte noch: »Kümmern
Sie sich um Ihre Familie, und suchen Sie sich einen anderen Arbeitsplatz.«
Seine Diagnose: »endogene Depression, ausgelöst durch exogene Depression.«
All das machte mich nicht froh, sondern hinterließ bei mir ein Gefühl
der Unbehaglichkeit. Ich war jedoch erleichtert, vorläufig nicht an den Arbeitsplatz
zurück zu müssen. Brav schluckte ich die Medikamente und konnte endlich
wieder schlafen allerdings 12 Stunden im Stück, was mich in Panik
versetzte. Erzählte ich dem Arzt von meinen Ängsten im Zusammenhang
mit den Medikamenten, drohte er mit Einweisung in eine Klinik, falls ich nicht
täte, was er anordnete. Nach dem Grund meiner Angst fragte er nicht. Sie
war real; hatte ich mich doch längst mit Wirkungen und Nebenwirkungen der
Psychopharmaka befasst. Mein Unwohlsein, meine Probleme das war mir bald
klar konnten sie nicht beheben.
Allein gelassen, dachte ich nach,
was mich so kaputt gemacht haben könnte und kam zu dem Schluss, dass es das
berufliche Dilemma allein kaum gewesen sein konnte. Mir gingen meine Sätze
und Gedanken, die den Zusammenbruch begleiteten, nicht mehr aus dem Sinn, ebensowenig
die Gefühle, die ich bei den Hinweisen des Psychiaters empfand. Seine Hinweise
verwarf ich bald. Ich hatte mich neben der Berufstätigkeit stets um meine
Familie gekümmert, meine Arbeit machte ich gern. Mir fiel auf, dass ich mit
mir nichts anfangen konnte. Die Hausarbeit erledigte ich immer widerwilliger und
unkonzentrierter. Ich erkannte, dass Wandern und Fernsehen in der praktizierten
Art nicht meine Hobbys waren. Ein Gespräch, das ich mit einer alleinstehenden
Kollegin geführt hatte, fiel mir ein. Sie war gerade aus Moskau gekommen,
als ich mich bei ihr über mein eintöniges Leben beklagte. Sie sagte
damals: »Frau Zingler, Sie müssen etwas für sich haben.« »Du
hast gut reden«, dachte ich, »wie soll denn das gehen? Schließlich
bin ich verheiratet.« Ihr Hinweis nagte an mir. Mir fiel nichts ein, wie
ich die Angelegenheit lösen könne. Ich musste zum Familienunterhalt
beitragen, zudem durfte ich so hatte ich das gelernt die Familie
nicht vernachlässigen. Nur, wie war das alles unter einen Hut zu bringen?
Meine Verzweiflung wuchs, einen kompetenten Berater hatte ich nicht. Auf Hinweis
von Kollegen vereinbarte ich einen Termin bei einer niedergelassenen Psychotherapeutin,
sagte ihn ab; begann eine Familientherapie, brach sie ab; ging zur Psychologischen
Beratungsstelle und war bei einer Verhaltenstherapeutin. Alles brach ich
als nicht hilfreich erkannt ab. Letztere meinte: »Sie tun mir leid«
und empfahl »Stricken Sie jeden Tag eine Viertelstunde«. Dafür
kassierte sie 80 DM. Ein Kollege riet mir kurz nach Ausbruch der Krise, in eine
Universitätsnervenklinik zu gehen. Sein Hinweis: »Gehen Sie hin
egal, was daraus wird.« Der Gedanke, meine Familie allein zu lassen, löste
Angst aus. Irgendwann wechselte ich, da ich nicht länger Versuchskaninchen
sein wollte, den Arzt. Seine Nachfolgerin war lieb und nett, ließ mich gewähren,
tröstete meine Familie mit den Worten: »Jede Depression geht vorbei,
behandelt oder unbehandelt, es dauert manchmal allerdings 3 bis 4 Jahre.«
In den folgenden Monaten setzte sich bei mir der Gedanke fest, das Beste sei,
mir das Leben zu nehmen. Aber, zur Ausführung fehlte mir der Mut. War es
denn sicher, dass ich falls ich vom achten Stock unserer Wohnung in die
Tiefe springen würde wirklich tot bin? Der Baum, der darunter stand,
hätte meinen Sturz mildern können. Querschnittgelähmt wollte ich
nicht sein. Dann dachte ich daran, mich mit Tabletten zu vergiften. Aber wem
Tochter oder Mann sollte ich es zumuten, mich zu finden? Um sie herauszuhalten,
entwickelte ich die Idee, mich scheiden zu lassen und mir dann das Leben zu nehmen.
Der Hinweis auf die Universitätsnervenklinik kam erneut. Jene bereits erwähnte
Kollegin nahm sich Urlaub, fuhr mich zum Aufnahmegespräch. Ließ ich
den ersten Aufnahmetermin platzen die Ärztin war mir unsympathisch
-, so klappte es doch mit dem zweiten drei Wochen später.
Sehr sorgfältig
bereitete ich meine Abwesenheit vor. Ich wollte kein Chaos hinterlassen. Das alles
tat ich in der Überzeugung, dass mein Leben mit dem Gang in die Klinik nie
wieder in Freiheit stattfinden würde. Ich hatte Angst. Alle rieten mir, mich
in klinische Behandlung zu begeben, aber keiner sagte mir, was mich dort erwartet.
Am Aufnahmetag ca. 9 Monate nach Beginn der ambulanten Behandlung
wollte mich die Bürodame in der Aufnahme trösten und sagte: » Es
ist nicht schlimm hier. Sie werden sehen. Viele kommen immer wieder, um sich einstellen
zu lassen.« »O, Gott,« dachte ich, »bin ich eine Maschine?«
Der sympathische Stationsarzt meinte: »Das Beste ist, Sie bleiben erst einmal
hier. Wir können Ihnen zwar Ihre Probleme nicht nehmen; wir können jedoch
versuchen, Ihnen zu helfen, dass Sie damit umgehen können.« Eine
Aussage, die mich ansprach.
Die wenigen Psychopharmaka wurden abgesetzt.
Der Arzt nahm sich viel Zeit für mich. Er ließ mich reden, reden, reden.
Ich breitete vor ihm alle »Kümmernisse« der letzten zwei Jahre
aus also alles, was mir seit dem Vorgesetztenwechsel zu schaffen gemacht
hatte. Ich redete über berufliche, private Probleme. Als ich einmal das Verhalten
meines Mannes gegenüber Menschen und Tieren bemängelte, sagte der Arzt,
er mein Mann solle sich in Behandlung begeben. Sofort nahm ich meinen
Dieter in Schutz.
Drei Tage nach meinem Gang in die Klinik entschlossen
sich meine Ärzte zum Schlafentzug. In dieser Nacht machte ich eine merkwürdige
Entdeckung: Immer wenn ich an meinen Mann dachte, ging es mir gut; jedoch wenn
ich an Trennung dachte, ging es mir schlecht. Mein Verstand und mein Gefühl
stimmten nicht überein.
Alles nahm ich wahr so z.B. Kneippen,
Sauna, Bewegungstherapie. In der Sauna war ich bis dahin noch nie. Sie bekam mir
gut, ich entwickelte ein neues Körpergefühl. Zur Bewegungstherapie fällt
mir das Folgende ein: Balken und Seile wurden aufgestellt, ausgelegt; jeweils
zwei Patientinnen fassten sich an, mal gab die eine nach Musik Figuren an, mal
die andere. Mir fiel es sehr schwer, die Bewegungen meiner Partnerin nachzuahmen.
War jedoch ich am Zug, ging es mir ausgezeichnet. Im anschließenden interpretierenden
Gespräch erarbeitete ich, dass ich wohl lieber den Ton angebe als mich unterzuordnen:
keine günstige Konstellation für eine Angestellte, deren Vorgesetzter
es sich zum Ziel gemacht hatte, ihr jedes Mitspracherecht zu nehmen.
Eines
Tages sagte eine Pflegerin so in den Raum hinein: »Leute gibt es, die wollen
sich scheiden lassen, sich eine neue Wohnung suchen, einen neuen Bekanntenkreis
aufbauen und die Arbeitsstelle wechseln. Alles auf einmal, dabei ist jeder Punkt
für sich ein volles Programm.« Ich hörte das und dachte: »Die
meint ja dich. Recht hat sie.« Ich nahm mir vor, nichts aufzugeben, verwarf
gemäß der Erkenntnis der Schlafentzugsnacht zuerst den Gedanken an
Scheidung, dachte über eine neue Basis für unsere Ehe nach.
Folgende
Begebenheit half mir weiter: Die Ärzte wollten mich »als Fallbeispiel«
für eine Vorlesung an der Universität gewinnen: Auf diese Weise könne
ich anderen Menschen sicherlich helfen so ihr Hinweis. Ich war darüber
so erschrocken, dass ich das »Angebot« heftig schluchzend ablehnte.
Meine Mitpatienten bestärkten mich in meinem Entschluss. Ich bekam trotz
dieser Unterstützung ein schlechtes Gewissen, ging zum Arzt zurück und
bot mich für die Vorlesung an. Seine Art zu reagieren, war eine große
Überraschung für mich. Er legte den Arm um mich und erwiderte: »Frau
Zingler, Sie müssen Nein sagen lernen. Ihre Reaktion war richtig,
und schauen Sie mal, wir sind Ihnen auch gar nicht böse.« Vor allem,
dass man mir nicht böse war, tröstete mich sehr.
Mein erstes
»Nein« versuchte ich ein wenig später. Richard, ein Mitpatient,
wollte mit mir wie so oft in die Stadt gehen. Ich hatte diesmal keine Lust. Erst
nach langem Zögern an das »Nein« denkend, aber ihm nicht
»weh« tun wollend nahm ich allen Mut zusammen und gestand ihm
meine Lustlosigkeit ein. Ich hatte wahnsinnige Angst, er würde sich zurückziehen.
Seine Reaktion »Macht nichts, gehen wir ein anderes Mal. Ja?« gab mir
Mut, diesen Schwachpunkt anzugehen.
Bei der Entlassung gab mein Arzt mir
auf den Weg: » Machen Sie kleine und keine großen Schritte, und denken
Sie daran, selbst wenn Sie etwas für sich tun, Sie verlieren die Liebe Ihrer
Familie nicht.« Ich freute mich auf mein neues Leben, nutzte die Zeit bis
zur Arbeitsaufnahme für einen Urlaub mit meinem Mann, war neugierig, wie
es weitergeht.
Als ich aus der Klinik entlassen wurde, war ich stabilisiert,
aber nicht stabil. Mir war bekannt, wo ich an mir zu arbeiten hatte. Hilfe erhielt
ich dazu nicht. Ich nahm mir vor, mein Leben neu einzurichten, suchte zuerst neben
Familie und der unbefriedigend gewordenen Berufstätigkeit eine eigene Freizeitaufgabe.
Ich wusste, dass dies auf Kosten meiner Familie ging. Da ich aber nicht mehr bereit
war, wie vor der Krise, meine Freizeit im ewigen Einerlei zu verbringen, stand
mein Entschluss fest, eher die Ehe aufzugeben, als das Ziel, ein anderes Leben
zu leben. Ich hoffte, mein Mann würde für die Änderung meiner Lebensweise
Verständnis aufbringen.
Laienhelfer für psychisch kranke Menschen
wurden gesucht. Ich fand meinen Freizeitklub, stand als Laien-/Bürgerhelferin
vor allem chronisch psychisch kranken Menschen als Gesprächspartnerin zur
Verfügung. Bald wurde ich Vorstandsmitglied des Trägervereins, übernahm
die Öffentlichkeitsarbeit, kam in die verschiedensten Gremien hinein. Da
ich bemerkte, wie viel am wirklichen Bedürfnis der seelisch kranken Menschen
vorbei geplant wird, besuchte ich Tagungen, meldete mich zu Wort, fing an, Referate
zu halten. Nach vielen Jahren als Einzelkämpferin gründete ich 1991
die »Initiative Psychiatrie-Erfahrener« in Stuttgart, setzte mich für
den Zusammenschluss auf Bundes- und Landesebene ein. So wurde mit der Zeit diese
Tätigkeit nicht nur zu einem Stück Freiheit, was ich mir während
der Krise bereits erträumte, sondern sie gab meinem Leben auch einen neuen
Sinn.
Durch Zufall bekam ich »Grundformen der Angst« von Fritz
Riemann (1) in die Hände. Ein Glücksfall, denn nun konnte ich für
mich erarbeiten, weshalb der Auslöser für meine Krise der Vorgesetztenwechsel
und die damit verbundenen schikanösen Maßnahmen zum Auslöser
werden konnte. Mit Hilfe dieses Buches lernte ich, meine »Fehlentwicklung«
nachzuvollziehen. Ich begriff, weshalb ich mir während des Jahres der Krankheit
meinen Problemlösungsgedanken im Weg stand, mich nicht traute sie umzusetzen
und statt dessen als einzigen Ausweg Scheidung und Selbstmord sah.
Nach
der Beschreibung von Riemann war mein zentrales Problem »die nicht geglückte
Eigendrehung, die mangelnde Entwicklung des Subjekt-Seins ...«
Aus der gleichen »Ich-Schwäche« kam ich »weder dazu, starke
eigene Impulse, Wünsche, Zielsetzungen zu haben, noch« gelang es mir,
»in reifer Form die Überforderungen abzulehnen, ja sie überhaupt
als solche zu erkennen.« »... depressive Menschen«, so steht dort,
»können schwer nein sagen, aus Verlustangst und aus Schuldgefühlen...
Ihnen bleibt nur die Depression oder der unbewußte Streik, wenn ihre Toleranzgrenze
überschritten wird, was sie aber nicht von ihren Schuldgefühlen befreit
... solange sie versuchen, die Angst vor der Ich-Werdung dadurch zu vermeiden,
daß sie immer mehr auf ihr Eigen-Sein verzichten, ist die Situation unlösbar.
Was hier helfen kann, ist nur das Wagnis, ein eigenständiges Individuum zu
werden«.
Ich las heraus, dass das Verhalten meiner Mutter die »Entwicklung
des Subjekt-Seins« verhindert hatte. Es steht dort: »Wenn das Kind in
den Augen seiner Mutter ungezogen war was meist nur hieß, daß
es nicht sofort gehorchte, oder etwas tat, was ihr nicht paßte legte
sie sich auf das Sofa und starb ...« Meine Mutter »starb«
zwar nicht, sie sagte damals: »Dann ist die Mutti ganz traurig.« Das
genügte, um mich von meinem Tun abzuhalten. Auch hatte ich nicht gelernt,
zuzugreifen. Laut Riemann ist das Kind »so daran gewohnt, sich zurückzustellen,
keine Ansprüche zu haben, daß es auch später immer auf andere
ausgerichtet ist und deren Forderungen und Erwartungen zu erfüllen bemüht
ist«.
Mir fiel ein, dass ich stets bemüht war, die Menschen um
mich herum zufriedenzustellen. Ich erfüllte ihre Wünsche, Anliegen,
Bitten an mich zuverlässig, häufig mich dabei selbst überfordernd.
Das »Nein-Sagen« hatte ich nicht gelernt. Zeigte der Hinweis des Arztes
mir meine Schwachstelle, so wies Riemann mich auf die Ursache derselben hin. Ich
erkannte, dass ich ein Recht auf das »Nein« habe. Die Besucher des Kontaktklubs
boten mir reichlich Gelegenheit, es zu üben. Und als ich dann eines Tages
hörte » Es heißt, liebe deinen Nächsten wie dich selbst.
Es heißt nicht, lieb ihn mehr«, war endgültig der Knoten geplatzt.
Nach Riemann ist mein Mann vor allem den zwanghaften Persönlichkeiten zuzuordnen.
Er hat es schwer, einmal gefasste Entschlüsse und Entscheidungen umzuwerfen.
Seine Art, an vielen Dingen herumzunörgeln, nennt Riemann die »Aggressionsform
Zwanghafter«.
Meine Güte, dachte ich, was habe ich mich abgestrampelt,
damit er zufrieden ist. Sogar unsere Tochter habe ich eingespannt, als ich sagte:
»Räume auf, Papi kommt gleich heim, damit er nicht schimpft.« Welch
ein unsinniger Kraftaufwand. Mir wurde klar, dass ich mich noch so anstrengen
kann, sein Herumnörgeln kann ich nicht abstellen. Hier kann nur er selbst
tätig werden. Immer und immer wieder wies ich ihn in den folgenden Jahren
darauf hin, wie sinnlos es ist, sich an so vielen Dingen zu reiben. Es dauerte
lange, bis er anfing, umzudenken. Seine damalige Art, das Leben zu bewältigen,
also das Festhalten an Regeln sowie Prinzipien und Nörgeln, in Kombination
mit meinem Bedürfnis, vor allem ihn zufriedenzustellen, erschwerte die Lösung
aus der symbiotischen Beziehung. Umgehend fing ich an, meine Bedürfnisse
gegen seine abzugrenzen, überhörte seine »Nörgelei« oder
nahm sie lieber in Kauf, als weiterhin zu versuchen, sie zu vermeiden.
Auch die Verhaltensweise meines damaligen Vorgesetzten ist dem zwanghaften Typ
zuzuordnen. Laut Riemann haben diese Menschen »immer die Angst, daß
alles sofort unsicher, ja chaotisch würde, wenn sie auch nur ein wenig lockerer
ließen, dem Andersartigen sich öffneten und nur etwas nachgäben,
..., ... sie sind daher immer darauf bedacht, durch immer mehr Macht, Wissen und
Übung dahin zu kommen, daß nicht Ungewolltes und Unvorhergesehenes
passiert...« Ihre »Aggression ... dient der Macht, und die
Macht dient wieder der Aggression.«
Als ich erkrankte, war ich bereits
seit 6 Jahren als Verlagsangestellte tätig und in den ersten 3 Jahren zweimal
befördert worden. Aufgrund einer Umstrukturierung war ein ehemaliger Kollege
seit zwei Jahren mein Vorgesetzter. Er lebte nach dem Motto »Was schert mich
mein Geschwätz von gestern« und war erkennbar machtbesessen, brauchte
stets ein Opfer. Ich war sein drittes. Er begann, uns die Selbständigkeit
systematisch zu nehmen, ließ sich Briefe zur Zensur vorlegen, unterschlug
Korrespondenz, schrieb vor, in welcher Reihenfolge und wie die Arbeit zu erledigen
sei, führte Zeitvorgaben ein. Die totale Kontrolle! Fortbildungsmöglichkeiten,
z.B. Fachzeitschriften, gab es für uns nicht mehr. Ich setzte mich lange
zur Wehr, wandte mich an die Geschäftsleitung und mit einer Beschwerde an
den Betriebsrat. Als ich dann müde geworden meine Abwehrmaßnahmen
einstellte, seinen Weisungen unwidersprochen Folge leistete, kam es zu meinem
seelisch bedingten Zusammenbruch.
Ich beschloss, ihm nicht nochmals die
Macht einzuräumen, mich in die Arme der Psychiater zu treiben. Und da er
ohnehin nur verliehene Macht besaß, war er künftig in meinen Augen
ein Nichts. Ich änderte meine Einstellung ihm gegenüber und erzählte
mir: »Wenn mich einer ärgern will und ich ärgere mich über
ihn, so tue ich ihm einen Gefallen und nicht mir. Also ärgere ich mich nicht,
und so ist der Ärger dort, wo er hingehört, nämlich beim Verursacher.«
Es dauerte Jahre, bis ich mich ihm gegenüber unverletzlich gemacht hatte.
Es lohnte sich. Ich überstand ohne Rückfall und weitere Behandlung das
Jahr nach der Krise, eine darauffolgende fristlose Kündigung, gewann den
Kündigungsschutzprozess in zwei Instanzen und habe danach mit Hilfe einer
Einigungsstelle den Arbeitsplatz im Verlag gewechselt. Befriedigend ist die Arbeit,
für die ich Gehalt beziehe, bis heute nicht. Für mich ist sie nur noch
eine Gelderwerbsmöglichkeit.
Die Sätze »Wozu das Ganze noch?
Nur für Wandern und Fernsehen?« und die Gedanken »O Gott, o Gott,
vierzehn Tage zu Hause! Was machst du denn da nur ?« waren die Ausgangspunkte
für meine Umorientierung. Hinter diesen Sätzen so wusste ich
es bereits während des Jahres der Suche nach Hilfe steckte das ganze
Elend meines bis dahin gelebten Lebens. Die Freizeitgestaltung war die meines
Mannes. Sie engte mein Leben ein, machte es arm, ja langweilig. Ich traute mich
nicht, mich davon abzuseilen oder mich gar zur Wehr zu setzen. Und da ich einen
zufriedenen Mann haben wollte, überließ ich ihm die Planung der Freizeit.
Ich sagte damals: »Wenn du zufrieden bist, bin ich das auch.« Die Gedanken
meiner ersten schlaflosen Nacht bedeuteten, dass Arbeit mein Teil der Lebensgestaltung
war. Hier konnte ich mich selbst verwirklichen. Als dann mein Vorgesetzter meine
Arbeit sinnlos werden ließ, hatte auch mein Leben logischerweise seinen
Sinn verloren. Lebte ich bis zur Krise, um zu arbeiten, so arbeite ich nun, um
zu leben.
Es ist mir gelungen, ein neues seelisches Gleichgewicht zu erarbeiten.
Das war möglich, da ich mir einen Platz außerhalb von Beruf und Familie
erobern konnte. Je mehr mir das gelang, umso leichter konnte ich den Anspruch,
Erfolg und Erfüllung im Arbeitsleben finden zu wollen, aufgeben.
Appell
Wie mir gelingt es nur etwa einem Drittel der erstmals psychiatrische Behandlung
erfahrenden Menschen, keine Rückfälle zu erleiden und damit eine fortführende
oder erneute Behandlung zu vermeiden. Bei dem großen Heer der professionellen
Helfer und Helferinnen ist das eigentlich nicht zu verstehen. Ich bitte Sie, haben
Sie Geduld und helfen Sie alle mit, dass auch andere die Möglichkeit erhalten,
ihren Weg zu finden. Geben Sie diesen Menschen die Chance, sie selbst zu werden.
Die Angehörigen bitte ich, die Veränderung mit zu tragen. Denken Sie
daran, jeder hat das Recht, sein Leben zu leben.
Und bitte (!) sagen Sie
nicht: Frau Zingler hatte ja nur eine Depression. Bei Stimmenhörern usw.
kann das so nicht funktionieren. Eine derartige Aussage ist sicherlich nicht richtig.
Für ein Referat, das ich 1992 hielt, interviewte ich eine Bekannte. Hier
ein kurzer Auszug: »Plötzlich, ich war 29 Jahre alt und Studentin der
Medizin, hörte ich Stimmen, die mein Verhalten kommentierten und mir sagten,
was ich zu tun habe. Die Stimmen verboten mir den Kontakt zu anderen. Sie waren
für mich real, und ich kommunizierte mit ihnen. Ich wurde immer unkonzentrierter,
bekam Angstzustände und entwickelte ein großes Mißtrauen gegen
die Bewohner meiner Wohngemeinschaft ... Schlafstörungen stellten sich ein,
mein Zustand wurde immer schlimmer. Ich ging in einen Park (abweichend vom Original),
wo mir die Stimmen befahlen, mich auszuziehen und in den winterlich eisigen Bach
zu steigen. Ich fühlte mich wie eine Ente und ließ mich einfach treiben,
ich litt an totalem Realitätsverlust. Passanten holten die Polizei, die mich
aus dem Wasser herausholte und wegtrug. Erst am nächsten Tag wachte ich in
der Klinik auf, mir fehlt ein ganzer Tag...Ich war schrecklich unruhig. Trotz
allem war die Klinik eine Hilfe, ich war gezwungen zu erzählen, was ich erlebt
hatte und konnte den Hinweis, daß ich krank sei, annehmen. Ich empfand es
allerdings nicht als hilfreich, daß ... niemand sich dafür interessierte,
was ich vorher erlebt hatte und was die Stimmen mir sagen wollten. Die Auskunft,
daß diese Krankheit unheilbar sei, macht mich nicht froh... mit meinen Ängsten
alleingelassen, wurde ich entlassen...Mein Studium schaffte ich nicht mehr, Existenzängste
stellten sich ein... und kam bald über den Notarzt (erneut) in die Klinik...
Fragebögen über Persönliches und meine Befindlichkeit füllte
ich weisungsgemäß aus, eine Rückmeldung erfolgte nicht... Jedoch
erkannte ich während des Klinkaufenthaltes, daß ich wie bisher nicht
weitermachen konnte, das Studium über meine Kräfte ging. Ich fing nach
der Entlassung an, meine Kräfte zum Gesunden einzusetzen, entwickelte ein
neues Bewußtsein, entledigte mich der bis dahin angesammelten Lebensschlacken
und bin seit nunmehr 7 Jahren ohne Rückfall. Hilfe bei der Aufarbeitung hatte
ich nicht. Ich machte mich allein auf die Suche, wobei meine medizinischen Kenntnisse
von Nutzen waren...« (2) Sie, ich und viele andere unseres Verbandes sind
der Überzeugung, dass es hilfreich ist, nach dem Sinn der Erkrankung zu fahnden,
die Gedanken/Gefühle/Stimmen zu interpretieren und die gewonnenen Erkenntnisse
zur Umorientierung zu nutzen.
Prof. Dr. med. Eliot Sorel, Präsident
der WASP, sagte im letzten Jahr während einer Pressekonferenz in Berlin:
» Wir müssen weltweit forschen, wie Heilungsgeschichten funktionieren«.
Ein lobenswerter Gedanke! Denn es darf nicht weiterhin hauptsächlich von
glücklichen Umständen abhängen, dass jemand dauerhaft sein Leben
in den Griff bekommt. Darum bitte ich u.a. den neben mir sitzenden Herrn Prof.
Hinderk Emrich: Setzen Sie doch diesen Gedanken umgehend mit uns, den Psychiatrie-Erfahrenen,
in die Tat um. Machen Sie gemäß Ihrer vorherigen Aussage
Tatsachen, von denen wir berichten, zu wissenschaftlichen Faktoren.
Zitate
(1) Riemann, Fritz (1981). Grundformen der Angst: eine tiefenpsychologische
Studie. Ernst Reinhardt Verlag München
(2) Zingler, Ursula (1993). In:
Hilfe wider Willen / Der psychiatrische Notfall. Beiträge sozialer Arbeit
der Diakonie, Bd. 8, S. 47f.