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in: Psychosoziale Umschau, 15. Jg. (2000), Nr. 7, S. 5-7

Rede von Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer anlässlich der am 11.3.2000 in Pirna-Sonnenstein stattfindenden Nationalen Gedenkfeier für die Opfer des Nationalsozialismus unter den psychisch Kranken und Behinderten

Sehr geehrter Herr Prof. Weig
sehr geehrter Herr Staatsminister Geisler,
sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Bohrig,
meine Damen und Herren,

mehr als 60 Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkrieges, der nicht nur ein Vernichtungskrieg nach außen, sondern auch ein Krieg nach innen war, haben wir uns heute zur ersten Nationalen Gedenkfeier für die Opfer des Nationalsozialismus unter den psychisch Kranken und Behinderten versammelt, die von der Bundesdirektorenkonferenz Psychiatrischer Krankenhäuser durchgeführt wird. Dafür möchte ich Ihnen, Herr Prof. Weig, und allen anderen, die sich dafür eingesetzt haben, danken.

Dass diese Gedenkveranstaltung stattfindet, ist richtig und wichtig, aber dass sie erst heute in dieser Form stattfindet, muss uns alle mit Scham erfüllen. Wir schämen uns dafür, dass psychisch Kranke und Behinderte bis heute zu den häufig vergessenen Opfergruppen gehören.

Lange Jahre des Schweigens haben dieser Opfergruppe in der Nachkriegszeit noch einmal Unrecht zugefügt. Erst in den 70er Jahren wurde mit einer kritischen Aufarbeitung der nationalsozialistischen Untaten im Bereich der Psychiatrie begonnen, zunächst im Westen, in den Jahren nach der Wende auch in Ostdeutschland, vor allem hier in Sachsen.
Inzwischen gibt es vielfältige Versuche, das Geschehen historisch aufzubereiten und zum Verstehen beizutragen. Dies ist erst im Gefolge der 68er Bewegung begonnen worden, die die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus eingefordert hatte.

In mühevoller Arbeit sind seither auch die Geschehnisse in den Einrichtungen für psychisch Kranke erforscht und aufgearbeitet worden. Der Opfer wurde gedacht sowohl durch die Auseinandersetzung mit dem Verbrechen als auch durch einzelne Gedenkveranstaltungen. Aber zu einer breiten gesellschaftlichen Diskussion hat dies nicht geführt. So hat Dorothea Buck vom Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener recht, wenn sie feststellt: »Die psychiatrischen Patientenmorde werden bis heute verdrängt«.

Das Euthanasieprogramm

Es fällt uns Nachgeborenen noch immer schwer zu verstehen, wie die Tötungsaktionen in Gang gesetzt werden konnten und dass bei den meisten Täter kein Unrechtsbewusstsein für ihre Taten bestand.

Die Forschungsarbeiten zur Psychiatrie im Nationalsozialismus haben gezeigt, dass der Medizin nationalsozialistisches Gedankengut – wie die Selektion des sog. »lebensunwerten Lebens« – nicht von außen aufgezwungen werden musste. Schon in den Jahren davor war ein geistiges Fundament entstanden – gerade durch die Arbeit jüngerer, reformorientierter Mediziner – auf dem die Vorstellungen der Nationalsozialisten aufsetzen konnte. Lange vor der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten gab es weit über die Grenzen Deutschlands hinaus einen theoretischen Diskurs der Rassenbiologie und der Erblehre, in dem Selektion als etwas Selbstverständliches betrachtet wurde.

Pirna Sonnenstein als ein Beispiel

Die Geschichte der Einrichtung Pirna-Sonnenstein, in der wir uns heute versammelt haben, steht stellvertretend für andere psychiatrische Einrichtungen. Zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts wirkten hier Menschen mit progressiven Reformabsichten, die sächsische Psychiatrie galt insgesamt als vorbildlich.

Ein Beispiel für die reformorientierte Einstellung der Euthanasiepsychiater ist Paul Hermann Nitsche, der zunächst Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Sonnenstein war, und mit der Institutionalisierung der T4-Zentraldienststelle schließlich einer der Leiter der medizinischen Abteilung wurde. Nitsche, ein anerkannter auch bei Patienten angesehener Psychiatriereformer, hatte sich in den zwanziger Jahren für ein Konzept der den Anstalten vorgelagerten »offenen Fürsorge« eingesetzt. In einem 1929 erschienenen »Handbuch der Geisteskrankheiten« hatte er dafür geworben, dass in den Fürsorgestellen der Arzt in vielen Fällen beratend und helfend eingreifen könne, ohne dass die Patienten einer Anstaltsbehandlung unterzogen werden müssen. Auch innerhalb der Heil- und Pflegeanstalten setzte er sich gegen Zwangsbehandlung und für ein verändertes Verhältnis zum Patienten ein.

Nitsche wurde später zu einem der zentralen medizinischen Organisatoren der Euthanasieaktion, offenbar weil er sich wie viele andere davon Impulse für eine Modernisierung der Psychiatrie erhoffte. Die Reformvorstellungen trugen jedoch von Anfang an die Idee der Selektion in sich. Die behandlungs- und arbeitsfähigen Patientinnen und Patienten sollten nach modernsten Methoden behandelt werden. Hier wollte man Erfolge vorweisen können. Die Kehrseite dieser Reformüberlegungen war jedoch, dass alle diejenigen, die nicht therapierbar erschienen, beseitigt werden sollten. Dabei spielten auch – aber nicht nur – finanzielle Überlegungen eine Rolle. Die vorhandenen Mittel für die Betreuung psychisch Kranker, die im Zuge der Weltwirtschaftskrise stark reduziert worden waren, sollten auf die Behandlungsfähigen konzentriert werden. Entscheidend ist, dass die reformorientierten Ärzte und Psychiater für sich in Anspruch nahmen, die Entscheidung treffen zu können, wer behandelbar sein sollte und wer nicht. Mit der Vorstellung, schweres Leid und Krankheit sei auszurotten, machten sie sich zum Herren über Leben und Tod. Und deshalb waren sie offen für, wenn nicht gar aktiv beteiligt an dem industrialisierten Vernichtungsprogramm.

Opfer

Die Folgen dieser Ideologie waren grausam:
  • 400.000 gedemütigte, sterilisierte Menschen,

  • 180.000 in den Gaskammern getötete chronisch kranke und behinderte Menschen,

  • 70.000 ermordete psychisch Kranke in der berüchtigten »Aktion T4«,

  • 10.000 ermordete Kinder und Jugendliche und 90.000 durch bewusste sog. »Hungerkost« getötete psychisch Kranke, chronisch Kranke und Behinderte.

Die Techniken des Ermordens durch Gas wurden in den psychiatrischen Einrichtungen erprobt und kamen dann in den Vernichtungslagern im Osten zum Einsatz. Im weiteren Verlauf des Krieges nach dem offiziellen Ende der Aktion T 4 ging das Morden in den psychiatrischen Anstalten und wissenschaftlichen Institutionen weiter. Es kam zur sog. wilden Euthanasie mit Todesspritzen und Experimenten an sog. »lebensunwerten Menschen«. Auch nicht einsatzfähige Zwangsarbeiter wurden in den Einrichtungen getötet.

Wie war es möglich, die vielen Menschen, die man benötigte, um so etwas durchzuführen, unter dem medizinischen und pflegerischen Personal zu finden? Wie konnten Menschen, die sich dem Heilen und Helfen verpflichtet hatten, zu Mördern werden? Antworten auf diese Fragen zu finden, ist schwer, trotz aller Erkenntnisse, die wir inzwischen haben.
Dass massiver Zwang gegenüber dem Personal ausgeübt werden musste, ist inzwischen ebenso widerlegt wie die Vorstellung, dass es sich dabei um besonders aktive Nazis gehandelt habe.

Schon vor Beginn der Aktion T 4 waren in verschiedenen Anstalten eine große Anzahl Menschen getötet worden. Auch dies ein Hinweis darauf, dass der Befehl von oben nicht der entscheidende Auslöser war.

Die offizielle Basis für die Euthanasie war der auf den Kriegsbeginn zurückdatierte Tötungserlass vom Oktober 39 zum sog. »Gnadentod«. Der Erlass zeichnete sich dadurch aus, dass er sehr unbestimmt blieb. Die Ausführung des konkreten Falles wurde in das Ermessen der Ärzte gelegt, ein Befehl zum Töten wurde nicht erteilt.

Diejenigen, die die Verbrechen ausführen sollten, wurden mit Macht ausgestattet, damit sie das von ihnen Erwartete aus eigenem Entschluss tun konnten, sei es aus Überzeugung, so dem gesellschaftlichen Fortschritt dienen zu können, oder sei es aus Gründen der eigenen Karriere. Dieses System bezog die einzelnen Täter offenbar sehr viel stärker persönlich ein, als dies Befehle allein hätten erreichen können. Sie wurden zu Komplizen der Macht. Sie erhielten die Legitimation für Handlungen, über die sie selbst zuvor bereits nachgedacht hatten.
Psychisch Kranken und Menschen mit Behinderungen die Menschenwürde abzusprechen, sofern sie nicht behandelbar sind, dies bildete die geistige Grundlage für das Morden in den vormaligen Heil- und Pflegeanstalten. Es kann jedoch alleine die Verbrechen, die während der nationalsozialistischen Herrschaft begangen wurden, nicht erklären.

Nicht nur in Deutschland gab es die Tendenz, diejenigen auszugrenzen, die nicht für die Gesellschaft nützlich waren, ich denke nur an das Beispiel Schweden, wo auch noch in den 50er Jahren Zwangssterilisationen in großem Umfang durchgeführt wurden und erst 1975 die Zwangssterilisierung verboten wurde. Auch in anderen Ländern gab es autoritäre Regime, ohne dass dies zu denselben Ereignissen wie in Deutschland geführt hätte.

Offenbar war in Deutschland das notwendige ethische Minimum für das Zusammenleben in einer Gesellschaft nicht mehr vorhanden. Der geplante, auf Effizienz bedachte Vernichtungskrieg gegen Schwache, Behinderte, psychisch Kranke war in dieser Form Ausdruck der nationalsozialistischen Durchdringung der Gesellschaft mit ihrer elitären, rassistischen und verrohten Ideologie. Hans Asbeck und Matthias Hamann haben es so formuliert. »Einfachste Mitmenschlichkeit war als kollektive Selbstverständlichkeit verlorengegangen, sie fehlte als Bestandteil einer Öffentlichkeit einschließenden republikanischen Kultur«.

Widerstand gegen das Morden in den Heil- und Pflegeanstalten gab es nur sehr vereinzelt. Am wichtigsten waren sicherlich die Predigten von Kardinal Graf von Galen, die schließlich zum offiziellen Ende der Aktion T 4 führten.

Kontinuitäten in der Nachkriegszeit

Der Umgang mit den Verbrechen an psychisch Kranken und Behinderten nach dem Ende des zweiten Weltkrieges widerlegt den Mythos, dass nach 1945 das Unheil schlagartig vorbei war. Und es zwingt uns zu Auseinandersetzung mit den weltanschaulichen Grundlagen, die die Basis für das Vernichtungsprogramm waren und weiter bestanden. Die wenigsten der Täter in den psychiatrischen Anstalten wurden hart bestraft oder wie Nitsche zum Tode verurteilt. Die weitaus größte Zahl konnte ihre Tätigkeit in Medizin und Psychiatrie fortsetzen.

Schon wenige Jahre nach dem Krieg wurde in vielen Fällen nur auf Beihilfe zu Mord oder gar nur Totschlag erkannt, mildernde Umstände wurden geltend gemacht. Auch die Opfer, die zwangssterilisiert worden waren, wurden nicht als Verfolgte anerkannt. Eine Distanzierung von den Taten erfolgte nicht, die Opfer wurden erneut diskriminiert.

Es kann kein Zufall sein, dass es gerade die psychisch Kranken und die Menschen mit Behinderung waren, deren Schicksal im Nationalsozialismus ebenso wie das der Sinti und Roma erst sehr spät in das öffentliche Bewusstsein gedrungen ist. Es sind die Gruppen die der Mehrheitsgesellschaft fremd waren und blieben.

Konsequenzen für heute

Deshalb ist es aus meiner Sicht die wichtigste Aufgabe für heute und für die Zukunft, sich intensiv mit den Leitgedanken auseinander zu setzen, die die Basis für das Morden bildeten und zu prüfen, in welcher Kontinuität aktuelle Debatten stehen.

Dabei wende ich mich jedoch gegen den Versuch, in der Diskussion allzu schnell Parallelen zum Nationalsozialismus zu ziehen. Denn es besteht die Gefahr, dass wir durch den Vergleich den Opfern der nationalsozialistischen Herrschaft nicht gerecht werden. Grundlage für die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung ebenso wie für die Morde an den psychisch Kranken waren politische Entscheidungen. Die Verfahren waren geplant und organisiert, wir können von einer industriellen Tötungsmaschinerie sprechen. Diese Besonderheiten sind bislang beispiellos in der Geschichte. Dies sollten wir nicht vergessen, auch wenn wir uns mit dem ideologischen Fundament beschäftigen, das hinter dem Morden stand.

Die Ermordung von psychisch Kranken und Behinderten wurde im Namen der Gesundheit des Volkes durchgeführt. Die nationalsozialistische Ideologie verstand ihre Gesundheitspolitik als Unterstützung der Starken, die Schwachen zu stärken erschien so als nutzlos. Dieser Punkt gehört für mich zu den schrecklichsten in der Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nationalsozialismus. Er zeigt, dass man sich im Namen der Gesundheit auch zutiefst an menschlichen Werten vergehen kann. Das sollte uns immer Mahnung sein.

Die Gesundheit der Menschen zu erhalten und wiederherzustellen ist und bleibt ein wichtiges Ziel. Dahinter darf jedoch nicht das Versprechen einer Gesellschaft stehen, in der es kein Leid mehr gibt. Auch wenn wir immer besser über die Ursachen von Krankheiten Bescheid wissen, Krankheit, Leid und am Ende der Tod werden immer zum Leben der Menschen gehören.

Gerade in einer Gesellschaft, in der das Leitbild »jung und gesund« immer dominanter wird, und in der die Möglichkeiten zur Prävention von Krankheiten steigen, müssen wir uns der Gefahr sehr bewusst sein, die dies für unser Denken hat. Die Idealvorstellung von einer Gesellschaft ohne Leid führt sehr schnell dazu, dass Kranke und Menschen mit Behinderungen ausgegrenzt werden.

Wir stehen vor schwierigen ethischen Fragen in der Medizin, ich nenne beispielhaft die Auseinandersetzungen um die Präimplantationsdiagnostik oder die Bio-Ethik-Konvention. Es geht um die Frage, was darf für andere entschieden werden? Die Versprechen sind groß. Sie lauten in der Debatte um die Bio-Ethik-Konvention: Wenn wir nur schnell genug auch an Nichteinwilligungsfähigen forschen dürfen, dann werden wir Demenz und Alzheimer in absehbarer Zeit besiegen können. Bei der Präimplantationsdiagnostik wird versprochen, dass mit Erbkrankheiten belastete Eltern gesunde Kinder zur Welt bringen können. Die Frage ist für mich persönlich nicht, ob diese Versprechungen jemals erfüllt werden können. Die Frage ist vielmehr, was bedeutet dies für eine Gesellschaft, für das Zusammenleben mit Menschen, die krank oder behindert sind. Meine Lehre aus der Geschichte ist, dass kein Heilsversprechen die Entscheidung über das Leben eines anderen Menschen rechtfertigt. Angesichts der neuen Möglichkeiten in der Medizin erfordert dies von uns allen Selbstbeschränkung.

Ob diese Position in unserer Gesellschaft mehrheitsfähig ist, weiß ich nicht, aber ich werde mich dafür einsetzen. Hoffnungsvoll stimmt mich, dass wir in den letzten Jahren einen beispielhaften Emanzipationsprozess von psychisch Kranken ebenso wie von Menschen mit Behinderung erlebt haben. Dies war auch der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus geschuldet. Psychisch Kranke und Behinderte werden heute in viel geringerem Maße in geschlossenen Anstalten untergebracht, als dies früher der Fall war. Auch wenn wir nicht sagen können, dass wir auf dem Gebiet der Integration schon alles erreicht hätten, es sind deutliche Fortschritte erkennbar. Dies ist vor allem dem Engagement der Betroffenen und ihrer Angehörigen zu verdanken und hat das politische Klima in unserem Land grundlegend verändert.

Skeptisch stimmt mich, dass genau in dieser Situation nun erneut eine Diskussion darüber beginnt, wie bestimmte Formen von Krankheiten auf Dauer verhindert werden können. Und wir müssen feststellen, dass die Angst vor Abweichung offenbar sehr tief sitzt. In uns allen können wir unbewusste Phänomene der Angst und Abwehr gegen fremdes, nicht verständliches Verhalten anderer Menschen feststellen.

Wir brauchen deshalb eine breite gesellschaftlich Debatte über die Frage, welche der medizinischen Anwendungsmöglichkeiten der Biomedizin von einem gesellschaftlichen ethischen Konsens getragen werden und wo wir Grenzen setzen wollen und müssen.

Wir müssen weiterhin daran arbeiten, die Vorurteile gegenüber psychisch Kranken zu überwinden, das Verständnis für andere zu fördern und integrative Lebensformen unterstützen. Die vom Weltkongress Psychiatrie ausgehenden regionalen Aktionen der Anti-Stigma-Kampagne unter dem Stichwort »Open the doors« sind dafür ein richtiger Ansatz. Denn vor allem persönliche Kontakte können Vorurteile überwinden helfen.

Wenn wir heute mehr wollen, als mit dem Gedenken einer lange vernachlässigten Pflicht nachzukommen, dann sollten wir uns selbst auf Grundsätze verständigen, für die wir eintreten. Eine menschliche Gesellschaft ist nur so stark wie ihre schwächsten Glieder! Lassen Sie uns eintreten für mehr Respekt vor dem Leben in seiner Unvollkommenheit, für das Recht auf Verschiedenheit und für Respekt vor dem Leben in jeder Form.