Peter
Lehmann
»Atypische« Neuroleptika: Typische Unwahrheiten
für schlichte Gemüter
Kurzfristigen Erleichterungen durch »atypische« Substanzen
steht die mögliche langfristige Verstärkung psychotischer
Symptome gegenüber. Die ersten neuen Neuroleptika sind wegen
tödlicher vegetativer Zwischenfälle bereits vom Markt
genommen. Mit Hunderte von Millionen US-Dollar werden Geschädigte
in den USA bereits finanziell abgefunden. Nichtsdestotrotz macht
man »Atypische« den Betroffenen schmackhaft. Und wer
hilft ihnen beim Absetzen?
Wundermeldungen
»Das neue Waschmittel Wasch wäscht so weiß
wie nie zuvor.« Wer kennt sie nicht, diese Werbung, die uns
aufklärt darüber, dass die früher als blütenweiß
angepriesene Wäsche eigentlich grau war. Fatal an solche
Reklamemechanismen erinnert die Anpreisung der modernen Neuroleptika
(z.B. Abilify, Belivon, Invega, Leponex, Nipolept, Quetiapin,
Risperdal, Seroquel, Solian, Serdolect, Zeldox, Zyprexa), die
mit neuen und teuren Patenten geschützt sind. Plötzlich
sind die herkömmlichen Neuroleptika verpönt. Sie werden
mit häufigem Zahnausfall, chronischen Muskelstörungen
und massiver Einbuße von Lebensqualität in Verbindung
gebracht siehe der Spiegel-Artikel von Beate Lakotta
im deutschen Nachrichtenmagazin Spiegel, ein wahllos herausgegriffenes
Exemplar mutmaßlicher verdeckter Werbung. Herkömmliche
Neuroleptika würden mit ihren Folgeschäden unnötigerweise
zu Berentung und Pflegekosten führen, noch keine Fälle
von Arztregress, d.h. Schadenersatzklagen gegen Ärzte, seien
wegen der Verordnung »atypischer« Neuroleptika bekannt
geworden. Nur teilweise groteske Gewichtszunahme, Herzrhythmusstörungen,
Knochenmarks- und Blutbildstörungen könnten als Nebenwirkungen
auftreten Risiken, die mit regelmäßigen Laborkontrollen
zu begrenzen seien. Die »atypischen« Neuroleptika würden
gezielter auf jene Botenstoffe einwirken, die Stimmenhören
oder Verfolgungswahn auslösen (Lakotta 2002). Beate Lakotta
ist Preisträgerin des »Lilly Schizophrenia Reintegration
Awards«, gestiftet vom Pharmahersteller Lilly Pharma Holding
GmbH. Lilly ist der Hersteller des weit verbreiteten Zyprexa.
Der kleine Unterschied
Den
modernen Neuroleptika werden diejenigen Neuroleptika zugeordnet, die in ihrer
Wirkung dem in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts eingeführten Prototyp
Clozapin entsprechen (im deutschsprachigen Handel auch als Elcrit, Froidir, Lanolept,
Leponex und Olansek; weltweit im Handel auch als Alemoxan, Azoleptin, Clocinol,
Clopine, Clopsine, Clozaril, Denzapine, Klozapol, Lapenax, Laponex, Lepotex, Lozapin,
Sizopin). Worin sich die Wirkung der modernen clozapinartigen Neuroleptika prinzipiell
von derjenigen herkömmlicher Neuroleptika unterscheidet, zeigten Bart Ellenbroek
und Kollegen von der Psychoneuropharmakologischen Forschungsabteilung der niederländischen
Catholic University Nijmegen in ihrem Aufsatz »Der Pfotentest: ein Verhaltensparadigma
zum Unterscheiden von herkömmlichen und atypischen neuroleptischen Medikamenten«.
Während Ratten unter dem Einfluss herkömmlicher Neuroleptika wie Haloperidol
oder Chlorpromazin ihre Vorder- und Hinterpfoten nur sehr langsam aus Löchern
zurückzogen, in die man die Pfoten zu Versuchszwecken hineingesteckt hatte,
war unter Clozapin nur die Rückziehzeit der Hinterpfoten verlängert.
Erfreut berichteten die Forscher:
»Die Ergebnisse zeigen,
dass der Pfotentest ein nützliches Modell zum Aufspüren atypischer neuroleptischer
Medikamente darstellt.« (Ellenbroek u.a. 1987, S. 343)
  |
Abb.: Pfotentest zum wissenschaftlichen Unterscheiden von
herkömmlichen und »atypischen« Neuroleptika
A: Moderner Plastikständer
B: Haloperidolbehandelte Ratte mit verzögerter Zurückziehzeit
von Hinter- und Vorderpfoten (Ellenbroek u.a. 1987,
S. 344)
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Angesichts solcher Unterscheidungskriterien
bedarf es zum Glauben an das Märchen vom gezielten Einwirken auf z.B.
Stimmen hervorrufende Botenstoffe sicher einer speziellen Aufnahmebereitschaft.
Clozapinartige Neuroleptika produzieren grobmotorische Muskelstörungen
seltener oder gar nicht, was sie vielen Betroffenen subjektiv verträglicher
erscheinen lässt. Der deutsche Psychiater Hans-Joachim Haase warnte allerdings
davor, darin eine Besonderheit zu sehen, und erklärte,
»...
dass Clozapin zunächst, wie auch die anderen Neuroleptika, extrapyramidale
feinmotorische Symptome auslöst, wobei mit steigender Dosierung die zunehmend
stärkeren anticholinergen sowie muskarinartigen (der Wirkung des Pilzgiftes
Muskaridin gleichkommenden und ebenfalls anticholinergen) Wirkungen dazu führen,
dass es nur in Einzelfällen zu grobmotorischem Parkinsonismus kommt. Gleichzeitig
bleibt aber der eigentliche Effekt der neuroleptischen Wirkung weitgehend aus,
so dass paranoid-halluzinatorische Psychosen mit Clozapin zwar affektiv durchaus
positiv beeinflusst, insbesondere auch entängstigt werden, dass jedoch zur
Behandlung dieser Symptomatik im allgemeinen Neuroleptika hinzugegeben werden,
mit denen dann die neuroleptische Schwelle eindeutig überschritten werden
muss. Clozapin verhält sich also ähnlich wie andere Neuroleptika, denen
man eine zunehmend hohe Dosis eines Antiparkinsonmittels hinzugibt.« (Haase
1988, S. 143)
Walter Müller, Professor am Biozentrum der
Uni Frankfurt/Main, kam in seinem Artikel über Wirkungsmechanismen älterer
und neuerer Neuroleptika zum Schluss, bei den Neuroleptika habe die Entwicklung
moderner Substanzen mit nur noch einem für die primäre klinische Wirkung
verantwortlichen Wirkungsmechanismus (D2-Antagonismus) nicht in seinen
Augen alle Probleme gelöst. Man habe Substanzen mit einer dirty, d.h.
unreinen Mischwirkung entwickelt und sei daher
»... im Prinzip wieder einen Schritt zurückgegangen
und hat in der letzten Zeit wieder Substanzen entwickelt, die
neben dem primär für die Wirkung relevanten Mechanismus
noch zusätzliche Mechanismen beeinflussen. Im Gegensatz
zu den Altsubstanzen hat man aber hier versucht, gezielt nur
noch solche Mechanismen in die Molekülstruktur einzubauen,
die bestimmte Nebenwirkungsqualitäten (besonders EPS [extrapyramidale,
d.h. bei Bewegungsabläufen im Muskelsystem auftretende
Störungen]) abdämpfen. Damit sind die Substanzen
aus der neuesten Generation der Neuroleptika im pharmakologischen
Sinne dirty drugs, also Substanzen mit mehr als
einem Wirkungsmechanismus.« (Müller 2003, S. 54)
Schäden
Eine Vielzahl erprobter clozapinartiger Substanzen kam
gar nicht erst auf den psychiatrischen Markt, z.B. Fluperlapin. Nichtsdestotrotz
werden Neuroleptika dieser Art als nebenwirkungsarm angepriesen, wobei hauptsächlich
auf die vermeintlich verminderte Fähigkeit dieser Substanzen, Dyskinesien
(Muskel- und Bewegungsstörungen) zu bewirken, Bezug genommen wird. Das clozapinartige
Neuroleptikum Remoxiprid (Roxiam) war 1991 als »Rose ohne Dornen« angekündigt
worden, als gut verträgliches Medikament ohne Nebenwirkungen. Drei Jahre
später wurde es von der Herstellerfirma wieder vom Markt genommen: wegen
einer Reihe von lebensgefährlichen Fällen aplastischer Anämie
Blutarmut mit Verminderung der roten und weißen Blutkörperchen, beruhend
auf einem Defekt im blutbildenden System (vgl. Lehmann 1996b, S. 133). Ein anderes
Beispiel ist Sertindol (Serdolect), das lange als nebenwirkungsarm galt. Im November
1998 fand sich im Internet in medizinischen Datenbanken noch der Begriff nebenwirkungsfrei.
Am 2. Dezember 1998 meldete die Ärzte Zeitung:
»Vertrieb
von Serdolect(R) gestoppt Anlass sind schwere kardiale (das Herz betreffende)
Nebenwirkungen und Todesfälle«
Risperidon (Risperdal)
ist ein weiteres 'atypisches' Neuroleptikum, das die Lebensqualität
erhöhen und die Reintegration ins gesellschaftliche Leben
erleichtern soll. »Zurück ins Leben«, »Anna
ist wieder da«, so oder ähnlich lauten die Werbesprüche.
In der Medical Tribune vom 26. Mai 2000 lobte der Hamburger
Psychiater Dieter Naber Risperidon als »gut verträgliches
Medikament« (Naber 2000). Just am gleichen 26. Mai 2000 wurden
in Philadelphia der Psychiatriebetroffenen Elizabeth Liss 6,7
Millionen US-Dollar Schmerzensgeld zugesprochen, zahlbar vom behandelnden
Psychiater. Frau Liss war nach vierzehnmonatiger Verabreichung
von Risperdal an tardiver Dyskinesie erkrankt, Unterform tardive
Dystonie in Form von Krämpfen der Gesichts- und Nackenmuskulatur
(vgl. Breggin 2000).
Im
November 2003 tauchte der Name Dieter Naber allerdings mit einer anderen
Tönung wieder in den Medien auf; die Brunsbütteler Zeitung
meldete:
»Zwei Professoren des Hamburger Universitätsklinikums
Eppendorf (UKE) sollen eine sechsstellige Summe von einer Pharmafirma kassiert
haben, deren Präparate später im UKE verwendet wurden. Die Hamburger Staatsanwaltschaft
ermittelt gegen den designierten Berliner Wissenschaftsstaatssekretär, Professor
Michael Krausz, und den Leiter der UKE-Psychiatrie, Professor Dieter Naber, wegen
des Verdachts der Vorteilsannahme.« (Geld 2003)
Clozapinartige Neuroleptika stehen generell unter Verdacht, insbesondere
vegetative Störungen wie Neuroleptische Maligne Syndrome,
Bauchspeicheldrüsen- und Leberstörungen zu produzieren.
Wie die amerikanische Zeitschrift USA today am 10. Juni 2005 unter
Verweis auf eine Meldung der US-amerikanischen Zyprexa-Herstellerfima
Eli Lilly vom Vortag (Eli Lilly 2005) meldete, stellte diese $
690.000.000 (in Worten: sechshundertneunzigmillionen US-Dollar
zur Verfügung, um unter Zyprexa an Diabetes Erkrankte finanziell
abzugelten, die Klagen auf Schmerzensgeld eingereicht hatten;
Eli Lilly hatte im Zyprexa-Beipackzettel nicht deutlich genug
auf das durchaus nicht unbekannte Risiko aufmerksam gemacht ("Lilly"
2005).
Agranulozytosen (abruptes Absterben der weißen Blutkörperchen
mit lebensbedrohlichen Folgen) sind ebenso publik geworden wie
die unübersehbare und rasche Zunahme des Körpergewichts
mit seiner für Herz und Kreislauf immensen Gefahren, was
zumindest Internisten wissen. Speziell Bauchfett gilt unter Medizinern
als hochschädlich fürs Herz. Bauchspeck setzt sich nämlich
um die inneren Organe herum fest. Solches Fettgewebe produziert
besonders viele gefäßschädigende Substanzen, zum Beispiel freie
Fettsäuren, die Entzündungen beschleunigen können.
Beim Menschen senkt die neuroleptikabedingte
Blockade von Dopamin die natürliche, hemmende Wirkung auf die Absonderung
des Hormons Prolaktin, so dass dessen Konzentration im Blut ansteigt. Eine wichtige
Rolle bei der Prolaktinfreisetzung spielen Dopaminrezeptoren. Deren Beeinflussung
gilt so manchem Psychiater als kleinster gemeinsamer Nenner aller Neuroleptika.
Eine Studie an der Gynäkologischen Abteilung der State University of New
York in Buffalo ergab bei Psychiatriepatientinnen ein 9,5mal höheres Brustkrebsvorkommen
als bei der Durchschnittsbevölkerung, so die Ärzte im American Journal
of Psychiatry:
»Falls bestätigt, könnte das
befürchtete höhere Brustkrebsvorkommen unter den psychiatrischen Patientinnen
den Medikamenten geschuldet sein...« (Halbreich / Shen / Panaro 1996, S.
559)
Auch clozapinartige Neuroleptika erhöhen den Prolaktinspiegel.
Anders als in den USA muss im deutschsprachigen Raum über das erhöhte
Risiko der Geschwulstbildung in den Brustdrüsen nicht aufmerksam gemacht
werden. Generell ist davon auszugehen, dass mit fortdauernder Zulassung
clozapinartiger Neuroleptika die Liste der bekannt gewordenen Risiken und Schäden
länger wird. Hierzu bedarf es allerdings einer ausreichenden Zahl von Betroffenen,
die sich die Substanzen einverleiben lassen. Zum Thema »Risiken und Schäden
sogenannter atypischer Neuroleptika« ließ Gerhard Ebner, Präsident
der Schweizerischen Vereinigung Psychiatrischer Chefärzte und Mitglied des
Advisory Board bei Janssen Cilag zur Einführung des Risperdal Consta, allerdings
schon 2003 wissen:
»Es handelt sich nicht um weniger Nebenwirkungen,
sondern um andere, die aber ebenfalls sehr einschneidend sein können, auch
wenn sie von den Patienten nicht unmittelbar wahrgenommen werden, weswegen die
Patienten leichter zur Einnahme dieser Antipsychotika motiviert werden können,
da die quälenden Frühdyskinesien/extrapyramidalen Nebenwirkungen nicht
oder nicht so stark auftreten.« (Ebner 2003, S. 30)
Folgerichtig sind Meldungen diverser Ärztezeitungen oder
anderer Medien, siehe z.B. das Deutsche Ärzteblatt
vom 20. September 2005 oder die Washington Post vom 3.
Oktober 2006, wonach gemäß den Ergebnissen einer
auf Veranlassung der britischen Regierung groß angelegten Studie
herkömmliche Neuroleptika selbst nach psychiatrischen
Maßstäben nicht besser wirken als die 10 mal so teuren
neuen "atypischen". In den Vergleichsstudien schnitten
letztere unter dem Gesichtspunkt Lebensqualität sogar noch
etwas schlechter ab als herkömmliche Neuroleptika und mindestens
so viele unerwünschte Wirkungen wie diese auf (Vedantam 2006).
Depressionen und Suizidalität
Depressionen und Suizidalität sind weitere
Risiken, über die Psychiater eher reden, wenn sie unter ihresgleichen sind,
obwohl sie laut internen Berichten bei zwei Drittel der Betroffenen behandlungsbedingt
auftreten. Suizidale Auswirkungen haben auch moderne Neuroleptika wie Leponex,
wie der Bericht der Österreicherin Ursula Fröhlich in »Schöne
neue Psychiatrie« zeigt:
»Mein Leben, das einst so leicht
und schön gewesen ist, so abwechslungsreich und interessant, lebenswert und
vollgeladen mit Aktivitäten, ist zur Hölle geworden. Seit Beginn der
Leponex-Einnahme habe ich keine Lust mehr auf Sex, keine Lust an der Bewegung
und keine Freude am Leben. Ein Leben ohne Freude ist jedoch ärger als der
Tod. Alles, war mir geblieben ist, ist das Fernsehen, wo ich seit sieben Jahren
anderen zusehe, wie sie leben. Ich bin zwar biologisch noch am Leben, doch meine
Sinne sind schon längst tot, alles, was mir früher Freude gemacht hat,
kann ich nicht mehr machen. Mein Leben existiert eigentlich gar nicht mehr, ich
komme mir so leer und so unbedeutend vor. Am schlimmsten ist es am Morgen. Jeden
Tag nehme ich mir vor, am nächsten Tag mit einem gesunden Leben zu beginnen,
die Medikamente wegzuschmeißen, viele Vitamine und Fruchtsäfte zu trinken
und mit einer täglichen Fitnessroutine zu beginnen. Durch die Neuroleptika
entsteht ein Gefühl, als ob es mir gelingen würde, am nächsten
Tag mit einem ganz anderen, einem neuen Leben zu beginnen. Wenn ich dann aber
in der Früh aufwache, bin ich wie zerschlagen und komme vor 9 Uhr nie aus
dem Bett, meine Depressionen sind so arg, dass ich jeden Tag an Selbstmord denke.«
(zit.n. Lehmann 1996a, S. 70f.)
Tardive Psychosen
Eine
besondere Stellung unter Neuroleptika nimmt Leponex schon seit seiner Zulassung
ein. Nach Bekanntwerden einer leponexbedingten Todesserie in Finnland galt die
Substanz lange Zeit zu giftig, um ohne spezielle Auflagen und Genehmigungsprozeduren
in der Psychiatrie eingesetzt zu werden. Erst bei Arzthaftungsklagen unübersehbar
gewordene Langzeitschäden durch herkömmliche Neuroleptika machten den
Einsatz akzeptabel. Mit Störungen, die außerhalb der bekannten Blutbildrisiken
lagen, verfuhr man allerdings wie gehabt. Man veröffentlichte sie in internen
Fachschriften, um sie anschließend zu ignorieren und insbesondere den Betroffenen
vorzuenthalten. Tardive Psychosen sind hierfür ein Beispiel. Dies sind
Psychosen, die im Lauf der Verabreichung von Neuroleptika, beim Absetzen oder
danach auftreten behandlungsbedingt. Die genannte Störung, die als
besonderes Risiko bei clozapinartigen Neuroleptika gilt, geht wie ihr Gegenstück
tardive Dyskinesie zurück auf behandlungsbedingte Veränderungen
des Rezeptorensystems. Als Ursache vermutet man Veränderungen von Dopamin-D1-
und -D4-Rezeptoren, speziellen Dopaminrezeptoren-Subtypen. Durch die herkömmlichen
Neuroleptika werden speziell Dopamin-D2-Rezeptoren beeinträchtigt, was als
mittel- und langfristiges Risiko eher eine tardive Dyskinesie bewirkt (vgl. Lehmann
1996a, S. 100). Urban Ungerstedt und Tomas Ljungberg, Mitarbeiter der Histologischen
Abteilung des Karolinska Instituts in Stockholm, stellten fest, dass Clozapin
bei Versuchsratten besonders stark auf die limbischen Dopaminrezeptoren wirkt:
»Klinische
Erfahrung lässt erkennen, dass Clozapin spezifischer als Haloperidol
bei der Behandlung der Psychose sein kann. Unsere Verhaltensdaten zeigen, dass
diese Besonderheit des Clozapin auf seine vergleichsweise stärkere
Hemmung von limbischen Dopaminrezeptoren zurückzuführen ist. Diese Rezeptoren
können somit am ehesten etwas mit der Entwicklung der Supersensitivität
nach chronischer Clozapinbehandlung zu tun haben. Das Gegenstück zu tardiven
Dyskinesien nach chronischem Haloperidol kann somit die Potenzierung von psychotischem
Verhalten nach chronischem Clozapin sein! Diese Ergebnisse werfen augenfällig
ernste Fragen auf hinsichtlich der Strategie für den Versuch, neue, wirksame
antipsychotische Medikamente zu finden. Wird ein Medikament, das spezifische
Rezeptoren blockiert, eine spezifische Rezeptorensupersensibilität
und somit spezifische Nebenwirkungen verursachen, d.h. die Krankheit
selbst potenzieren?« (Ungerstedt / Ljungberg 1977, S. 199)
In Schweden, wo man Clozapin intensiv einsetzte, wurden denn
auch bei einer ganzen Reihe von Betroffenen nach dem Absetzen
von Clozapin psychotische Symptome in einer Stärke festgestellt,
die vorher nicht vorhanden war. Auch bei 1988 publizierten Forschungen
in den USA wurde auf die Verschlechterung des psychischen Zustands
nach dem Absetzen von Clozapin hingewiesen, was auf eine behandlungsbedingte
erhöhte Sensibilität der Neurotransmitter zurückgeführt
wurde. Mit dem Entstehungsverlauf neuroleptikabedingter Supersensitivitätspsychosen
hatten sich der Pharmakologe Guy Chouinard und Kollegen der Uni-Anstalt
Montreal befasst (vgl. Lehmann 1996a, S. 100):
-
Im ersten Stadium bilde sich entsprechend der Entzugsdyskinesie
bei herkömmlichen Neuroleptika eine kurz andauernde
Supersensitivitätspsychose, die sich spontan zurückbilde.
-
Im zweiten Stadium, wenn sie erneut auftrete, könne
man die psychopharmakabedingte Psychose noch mit Neuroleptika
kontrollieren.
-
Im dritten Stadium schließlich würden Neuroleptika
überhaupt nichts mehr bewirken, die entstandene Psychose
sei irreversibel.
Hilfen beim Absetzen?Die
meisten Betroffenen werden von Psychiatern mit der Drohung »Beim Absetzen
kommt der nächste Rückfall sofort« völlig verunsichert, auch
wenn längst
-
eine Vielzahl von Studien ergeben hat, dass die Gefahr, ohne
Neuroleptika wieder verrückt zu werden, eher geringer
ist als mit Neuroleptika
-
Berichte von Betroffenen darüber vorliegen, wie sie
Psychopharmaka abgesetzt haben, ohne sofort wieder im Behandlungszimmer
des Arztes zu landen
- professionell Tätige publizieren, wie sie Absetzprozesse
erfolgreich unterstützen (Lehmann 2008).
Dass weniger schädlichen oder risikobehafteten
Medikamenten und Psychopharmaka der Vorzug gegenüber riskanteren zu geben
ist, ist eine Binsenweisheit. Wenn jedoch Risiken neuer Substanzen übergangen
oder bagatellisiert werden, so lassen sich mit solchen Strategien vielleicht einfache
Gemüter übertölpeln. Körperliche und psychische Schäden
durch clozapinartige Neuroleptika können lebensbedrohliche Ausmaße
annehmen. Besonders beachtenswert ist das »atypisch« hohe Risiko einer
tardiven Psychose und der sich daraus ergebende Teufelskreis aus Entzugspsychose,
steigender Dosierung und gesundheitlichem Niedergang.
Wie in den meisten Bereichen des Lebens lassen sich durch den Einsatz
synthetischer persönlichkeitsverändernder Substanzen auch
im Problemfeld clozapinartiger Neuroleptika kurzfristige Erfolge
erkaufen. Doch bevor man sich entschließt, diese Substanzen
in den eigenen Körper einzuverleiben, sollte man an den mittel-
und langfristigen Preis denken, den dieser Körper zu zahlen
hat. Und man sollte sich überlegen, wo die Hilfen sein werden,
die man später benötigt, um den Körper wieder frei
von synthetischer Chemie zu bekommen. Schon beim Absetzen herkömmlicher
Neuroleptika beklagen sich Betroffene und Angehörige weltweit
über das völlige Fehlen jeglicher institutioneller Absetzhilfen.
Die Psychologin Pirkko Lahti, von 2001 bis 2003 Präsidentin
der World Federation for Mental Health (Dachverband nichtstaatlicher
psychosozialer Hilfsvereinigungen), klagte jüngst:
»Welche Bedingungen können zu einem schnellen
Rückfall nach dem Absetzen führen? Hörten wir nicht
schon von psychopharmakabedingten Absetzproblemen, von Rezeptorenveränderungen,
Supersensitivitäts- und Absetzpsychosen? Wer kann Rückfälle
von verdeckten Entzugsproblemen unterscheiden? Welche Bedingungen
unterstützen ein erfolgreiches Absetzen erfolgreich
in dem Sinn, dass die PatientInnen danach nicht sofort wieder im
Behandlungszimmer des Arztes sitzen, sondern frei und gesund leben,
so wie wir uns das alle wünschen? Lassen wir unsere PatientInnen
nicht allein mit ihren Sorgen und Problemen, wenn sie sich
aus welchem Grund auch immer selbst entscheiden, ihre Psychopharmaka
absetzen zu wollen? Wo können sie Unterstützung, Verständnis
und positive Vorbilder finden, wenn sie sich enttäuscht von
uns abwenden (und wir uns von ihnen)?« (Lahti 2008, S. 11)
Wo? Wer moderne clozapinartige Neuroleptika
(wie auch herkömmliche) empfiehlt, sollte zuerst einmal diese Frage beantworten.
Literatur
-
Breggin,
Peter: $ 6.7 million awarded in Risperdal tardive dyskinesia
case, www.breggin.com/6_7million.html (2000)
-
Ebner, Gerhard: »Aktuelles aus der Psychopharmakologie.
Das Wichtigste vom ECNP-Kongress«, in: Psychiatrie (Schweiz),
2003, Nr. 1, S. 29-32
-
Eli Lilly and Company, Lilly Corporate Center Indianapolis:
"Lilly and Plaintiffs' Attorneys Enter Into an Agreement
in Principle to Settle Majority of Zyprexa' Product Liability
Litigation", Pressemeldung vom 9. Juni 2005
-
Ellenbroek, Bart A. u.a.: »The paw test: a behavioural
paradigm for differentiating between classical and atypical
neuroleptic drugs«, in: Psychopharmacology, Vol. 93 (1987),
S. 343-348
-
»Geld von Pharmafirma kassiert? Klinik-Professoren unter
Korruptionsverdacht«, in: Brunsbütteler Zeitung vom
1. November 2003, S. 4
-
Haase, Hans-Joachim: »Neuroleptika: Fakten und Erlebnisse«,
in: Ofried K. Linde (Hg.): »Pharmakopsychiatrie im Wandel
der Zeit«, Klingenmünster 1988, S. 137-154
-
Halbreich, Uriel / Shen, Jianhua / Panaro, Victor: »Are
chronic psychiatric patients at increased risk for developing
breast cancer?«, in: American Journal of Psychiatry, Vol.
153 (1996), S. 559-560
-
Lahti,
Pirkko: Vorwort zu: Peter
Lehmann (Hg.): Psychopharmaka absetzen Erfolgreiches
Absetzen von Neuroleptika, Antidepressiva, Phasenprophylaktika,
Ritalin und Tranquilizern, 3., aktualisierte und erweiterte
Auflage, Berlin 2008, S. 10-12 (E-Book
2022)
-
Lakotta, Beate: »Abschied vom Kettenhemd«, in: Spiegel,
56. Jg. (2002), Nr. 52, S. 132-133
-
Lehmann,
Peter (Hg.): Psychopharmaka absetzen Erfolgreiches Absetzen
von Neuroleptika, Antidepressiva, Phasenprophylaktika, Ritalin
und Tranquilizern, 3., aktualisierte und erweiterte Auflage,
Berlin 2008 (E-Book
2022)
-
Lehmann, Peter: »Schöne neue Psychiatrie«, Band
1: »Wie
Chemie und Strom auf Geist und Psyche wirken«, Berlin
1996a (E-Book 2022)
-
Lehmann, Peter: »Schöne neue Psychiatrie«, Band
2: »Wie
Psychopharmaka den Körper verändern«, Berlin
1996b (E-Book 2022)
-
»Lilly to pay nearly $700M to settle Zyprexa claims«,
in: USA Today vom 6. Juni 2005
-
Müller, Walter E.: »Wirkungsmechanismen älterer
und neuerer Neuroleptika«, in: Frank König / Wolfgang
P. Kaschka (Hg.): Interaktionen und Wirkmechanismen ausgewählter
Psychopharmaka, Stuttgart / New York, 2., überarbeitete
und erweiterte Auflage 2003, S. 37-54
-
Naber, Dieter: »Schizophrene in Deutschland Per
Rezeptblock ausgegrenzt?«, in: Medical Tribune, 35. Jg.
(2000), Nr. 21
-
Ungerstedt, Urban / Ljungberg, Tomas: »Behavioral patterns
related to dopamine neurotransmission«, in: Advances in
Biochemical Psychopharmacology, Vol. 16 (1977), S. 193-199
- Vedantam, Shankar: "In Antipsychotics, Newer Isn't Better
Drug", in: Washington Post vom 3. Oktober 2006, S. A01
Die Übersetzung der englischsprachigen Zitate stammt von Peter
Lehmann.
Copyright by Peter Lehmann 2003. Alle Rechte vorbehalten
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