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in: Peter Lehmann (Hg.): Psychopharmaka absetzen, Berlin: Antipsychiatrieverlag 1998, 1. Auflage, S. 21-30 / English translation

Ilse Gold

Nach der Entlassung

Heute, Freitag, 8. Februar 1991, wurde ich aus der Irrenanstalt entlassen. Die davorliegenden 14 Tage waren die schrecklichsten meines Lebens, und auch jetzt geht es mir gar nicht gut. Ich freue mich überhaupt nicht über die wiedergewonnene Freiheit. Zittrig bin ich, schwammig, unruhig, gefühllos und schwer, müde und auch wieder nicht müde zugleich.

Meine deutlichste, aber trotzdem nicht genau definierbare Empfindung ist wohl am ehesten mit Verwunderung und Erstaunen vergleichbar, aber dieses Empfinden bleibt auf halbem Wege stecken, erstirbt, bevor es mir richtig bewusst wird. Nur ganz kurz wundere ich mich über das halbfertige Bild in meiner Staffelei, und noch flüchtiger ist der ungläubige Gedanke daran, dass ich noch vor wenigen Wochen etwas aus Vergnügen getan habe, wie zum Beispiel ein Bild malen.

Die Gegenwart von Gerda ist mir unangenehm. Ihre Anwesenheit empfinde ich als notwendiges Übel, aber seltsamerweise schäme ich mich nicht, dass ich so fühle, obwohl sie ja immerhin meine Schwester ist. Auch wenn ich ihr aus früheren Zeiten zu Dank verpflichtet sein sollte, jetzt steht im Vordergrund, dass ich es schließlich vor allem ihr zu verdanken habe, zwei lange Wochen gegen meinen Willen eingesperrt gewesen und mit allen möglichen Medikamenten vollgestopft worden zu sein.

Und dieses Haldol muss ich jetzt auch noch weiternehmen. Die Anstaltsärztin hat mir für die nächsten Tage, bis zu dem Termin mit diesem Psychiater, jede Menge Tabletten mitgegeben. Und sie hat mich eindringlich davor gewarnt, sie etwa nicht zu nehmen, denn dies sei sehr gefährlich. Die Dosis müsse ganz langsam reduziert werden, und ich dürfe auch nicht erwarten, dass es mir allzu schnell besser gehe. Mir geht es tatsächlich ziemlich übel, und fast bekomme ich im nachhinein so etwas wie Vertrauen zu dieser Frau Dr. Hollmann, weil sie bis jetzt Recht behalten hat mit dieser Prognose. Ich beschließe also – wenn auch mit Widerwillen –, ihre Anweisungen bezüglich der Tabletten vorerst zu befolgen.

Meine Schwester habe ich gebeten, mir aus der Apotheke ein Abführmittel zu besorgen. Ich hatte kaum Verdauung gehabt während des Anstaltsaufenthalts und schiebe plötzlich mein ganzes Unwohlsein darauf. Es wird alles viel besser sein, wenn ich erreiche, dass mein Gedärm wieder leer ist, sage ich mir. Und dann, das heißt am Sonntagabend, wird Gerda abreisen, endlich! Sie muss am Montag wieder arbeiten, und Gott sei Dank wohnt sie in einigermaßen sicherer Distanz, so dass ich wenigstens bis zum nächsten Wochenende meine Ruhe vor ihr haben dürfte. Aber heute ist erst Freitag, grässlich ungeduldig und unruhig fühle ich mich und laufe ohne Sinn und Zweck in meiner Wohnung hin und her. Es ist mir nicht möglich, ruhig sitzenzubleiben und zum Beispiel zu lesen, bis Gerda mit den rettenden Pillen eintrifft.

Kaum ist sie zurück, nervt sie mich auch schon wieder. Pausenlos redet sie und gibt ungebetene Ratschläge: meine Verdauungsstörungen kämen von dem Haldol, klärt sie mich auf, warum ich im Krankenhaus nichts dagegen unternommen hätte, will sie wissen. Ich denke nur: Krankenhaus! Welches Krankenhaus? Ich war im Irrenhaus, du Arschloch! Auf keinen Fall dürfe ich das Haldol jetzt eigenmächtig absetzen, das solle ich mir aus dem Kopf schlagen, schärft sie mir ein, obwohl ich nichts dergleichen gesagt habe. Nun wiederholt sie, was ich am Morgen bereits von Frau Dr. Hollmann gehört hatte. Wenn Gerda wüsste, wie sehr ich sie für ihr blödsinniges Geschwätz hassen würde, wäre ich nicht so seltsam emotionslos. Ihre endlose Leier wäre dann allein schon Grund genug, ihr diese verdammten Tabletten aus Protest und Wut vor die Füße zu schmeißen. Wieder ein leiser Anflug von Verwunderung, dass ich das nicht wirklich tue, dass ich nicht explodiere und mir ihre Tirade auch noch gefallen lasse. Aber das, was ich empfinde, reicht nicht aus für wirkliche Wut, Widerspruch und Protest, ist viel zu wenig, um die Angst vor dem, »was passieren könnte, wenn...« zu unterdrücken. Ich nehme also die Pillen, vor Gerdas Augen schlucke ich sie. Ich verzichte sogar darauf, ihr mit gehässiger Großzügigkeit auch welche zur Kostprobe anzubieten.

Inzwischen ist es Abend, und wir schauen fern. Ich stricke an einer Decke weiter, eigentlich eine für mich gewohnte und übliche TV-Nebentätigkeit, aber ich bin furchtbar unbeholfen und stelle mich an, als würde ich gerade erst stricken lernen. Und dann sitze ich auch so unbequem und rutsche unablässig auf meinem Sessel herum. Dauernd muss ich die Position meines Körpers verändern, vor allem die Beine fühlen sich nie dort wohl, wo sie gerade sind. Gerda beobachtet mich – unauffällig!, so denkt sie wohl –, traut sich aber nicht, etwas zu sagen. Ich stehe auf und gehe in die Küche, weil ich nicht mehr sitzen kann. Als ich gleich darauf wieder zurückkomme, werde ich doch gefragt:

»Was ist?«

»Was soll denn sein?«, ist meine gereizte Antwort, und wieder rutsche ich hin und her, dass das Leder des Sessels nur so quietscht. Ich weiß ja wirklich selbst auch nicht, was los ist, und hätte eigentlich ganz gerne, dass es mir irgend jemand erklärt.

»Warum schwitzt du denn so?«, ist nach einer Weile die nächste Frage meiner Schwester, »du hast ja eine ganz nasse Stirn.«

»Ich schwitze nicht«, fahre ich sie an, »du weißt doch, dass ich schon immer eine fettige Haut habe.« Sie besteht darauf, dass dies nicht normal sei, wie ich aussehe, und dass ich schwitzen würde. Mir ist es egal, soll sie denken, was sie will. Ich fand ja vorhin auch, als ich in den Spiegel sah, dass ich fürchterlich aussehe, aber im Moment quält mich die Tatsache, dass ich nicht ruhig sitzen kann, viel mehr. Dazu kommt noch dieses permanente Beobachtetwerden durch Gerda, zum Kotzen ist das. Und wie wichtig sie sich vorkommt in ihrer Rolle als meine Krankenschwester. Ich kann das nicht mehr ertragen, ob die Unruhe oder Gerdas Anwesenheit, weiß ich nicht so genau, aber darauf kommt's sowieso nicht an. Ich ziehe die Konsequenz und gehe zu Bett. Dass ich nicht antworte, als mir Gerda besorgt hinterherfragt, ob mir nicht gut sei, weil ich schon schlafen gehe, ist eine kleine Genugtuung für mich und wohl das einzige einigermaßen angenehme Gefühl, das mir dieser Tag brachte.

Ich bin im Wartezimmer des Psychiaters, und es ist mir sehr recht, dass ich alleine bin, denn ich fürchte, man merkt mir an, wie quälend diese Warterei für mich ist. Unzählige Male habe ich die wenigen Bilder an den Wänden abgeschritten und bestimmt schon jede der ausliegenden Zeitschriften mehrmals in den Händen gehabt. Aber ich bin nicht nervös und unruhig aus Angst vor dem Psychiater und dessen Behandlung, im Gegenteil, ich sehne sein Erscheinen wie eine Erlösung herbei. Alle paar Sekunden schaue ich auf die Uhr. Die halbe Stunde, die ich nun schon warte, kommt mir wie eine Ewigkeit vor, und während ich noch denke, »jetzt ist es genug, ich halte das nicht mehr aus«, geht endlich die Tür auf, und ich werde ins Behandlungszimmer gebeten.

Wie es mir gehe, werde ich gefragt. »Ganz gut« antworte ich, und dass ich froh bin, meine Schwester erst einmal loszuhaben, weil sie nun doch in die Skiferien gefahren ist, denn sie wollte ja tatsächlich ihre Buchung rückgängig machen und sich statt dessen für die Dauer ihres Urlaubs bei mir einquartieren. Ganz stolz erzähle ich Dr. Niederländer, dass es mir gelungen ist, dies zu verhindern. Er scheint weniger begeistert und interessiert sich für meinen Geschmack etwas zu sehr dafür, wo die liebe Gerda skifährt. Ich kann seine Neugier nicht ausreichend befriedigen, weil ich mir den Ort nicht gemerkt habe, den sie mir nannte, und überhaupt, warum sollte es mich auch interessieren. Außerdem bin ich ganz sicher, dass schon jetzt eine Karte von Gerda mit ihrer Adresse und Telefonnummer an mich unterwegs ist oder bereits in meinem Briefkasten steckt. Trotzdem werde ich nicht im Traum daran denken, mich etwa bei ihr zu melden. Höchstens daran, mein Telefon sparsam abzunehmen, falls sie anruft oder die anderen Verwandten und Freunde, die zweifellos beauftragt sind, sich und Gerda über mein Befinden auf dem laufenden zu halten.

Widerlich war das vorgestern, als – ich hatte kaum den Telefonhörer nach einem längeren Ortsgespräch aufgelegt – mich eine Dame vom Telefonservice anrief und wissen wollte, ob es mir gutgehe, denn meine Schwester und mein Bruder hätten aus Sorge, es könne etwas passiert sein, bei der Störungsstelle angerufen, weil mein Telefonanschluss längere Zeit besetzt gewesen sei. Dr. Niederländer stört meine Gedanken, indem er mich fragt, ob ich inzwischen schon etwas Abstand habe zu den Ereignissen, die zu meiner »Psychose« geführt hätten. Ich gebe ihm zu verstehen, dass ich vor meiner Zwangseinweisung nicht krank gewesen war, auch wenn dies gewisse Leute behauptet hätten, dass ich aber jetzt sehr große Probleme habe, mit der durch meine Schwester und die Ärzte erfahrenen Vergewaltigung fertig zu werden. Dr. Niederländer ignoriert, was ich sage, woraufhin ich von ihm wissen will, ob er darüber informiert ist, auf welch brutale Weise mich die Polizei aus meiner Wohnung in die Irrenanstalt befördert hat. Ob er denn auch wisse, dass die mir Handschellen angelegt hatten und dass ich ansonsten vollkommen nackt abtransportiert wurde. (Dies deshalb, weil man, während ich duschte, in meine Wohnung eingebrochen war, und ich die Aufforderung, mich anzuziehen und mitzukommen, nicht befolgt hatte.)

Dr. Niederländer scheint nicht beeindruckt und gibt sich ziemlich desinteressiert. Ja, er habe gehört, es sei etwas turbulent zugegangen, murmelt er vor sich hin und beschäftigt sich mit dem Brief seiner Kollegin Dr. Hollmann, den ich ihm zuvor übergeben hatte. Ich weiß, dass außer der Höhe der Haldol-Dosis, mit der ich entlassen wurde, nur noch drin steht, dass ich voraussichtlich mehrere Wochen lang arbeitsunfähig sein werde, denn selbstverständlich hatte ich diesen Brief zu Hause geöffnet und gelesen.

»Ja, dann werde ich Ihnen am besten Tropfen aufschreiben statt der Tabletten, die Sie jetzt nehmen. So lässt sich die Dosis nach und nach elegant reduzieren.« Das leuchtet mir ein – und dass Dr. Niederländer ganz selbstverständlich vom Reduzieren spricht, macht ihn mir plötzlich richtig sympathisch, denn Reduzieren bedeutet für mich automatisch, dass ich in absehbarer Zeit nichts mehr nehmen werde. Ungeduldig und unruhig warte ich darauf, dass er endlich damit fertig wird auszurechnen, wie viele Tropfen ich von dem Medikament, für das er mir ein Rezept gibt, nehmen soll. Er braucht ewig, Rechnen scheint nicht seine Stärke zu sein. Und dass er mir überhaupt nichts weiter sagt, mich mit keinem Ton in seine Überlegungen mit einbezieht, lässt die Sympathie, die vorhin bei mir für ihn aufgekommen war, rasch wieder verfliegen. Schließlich ist er fertig, und ich bekomme noch die Krankmeldung und einen neuen Termin bei ihm. Ich bin enttäuscht, dass ich schon in wenigen Tagen wiederkommen muss und die Krankmeldung auch nur bis dahin gilt. So bin ich gezwungen, die ganze unangenehme Prozedur schon sehr bald zu wiederholen.

Nun, wenigstens ist er nicht allzu neugierig, was meine Person angeht, denke ich beim Verlassen der Praxis und gehe mit dem Rezept in die nächste Apotheke. Als ich bezahlen will, fällt mir das ganze Kleingeld aus dem Portemonnaie und verstreut sich vor mir auf dem Boden. Peinlich, wie auffällig mir beim Einsammeln der Münzen (einige umstehende Kunden helfen mir auflesen) die Hände zittern und wie ungeschickt ich mich anstelle. Gestern zu Hause, als ich an dem angefangenen Bild, dem halbfertigen Baum, weitermalen wollte, ging es mir ähnlich, und ich konnte den Pinsel nicht ruhig halten, so dass ich ziemlich schnell aufgab und nach einer anderen Beschäftigung suchte, um diese mich fortwährend quälende Unruhe nicht mehr zu spüren. Aber es gab nichts, wobei ich mich wohl fühlte, so dass ich schließlich die Zeit vom frühen Nachmittag bis zum frühen Ins-Bett-gehen damit zugebracht hatte, leise und hilflos vor mich hin zu heulen. So war ich dann auch eingeschlafen und in genau demselben Zustand heute früh wieder aufgewacht. Es ist überhaupt komisch, ich schlafe immer ziemlich schnell ein. Diese Unruhe, die mir fast alles vergällt und unmöglich macht: Am Einschlafen hindert sie mich seltsamerweise nicht. Und wenn ich aufwache, dann geschieht das immer völlig übergangslos, und ich bin genauso unruhig und kribbelig wie am Abend zuvor. Ich vermisse die Halbschlafphasen, die mir in so angenehmer Erinnerung sind. Das sanfte Sich-in-den-Schlaf-träumen und das wohlige zögernde Aufwachen, das ich immer so lange wie möglich auszudehnen versuchte. Jetzt wache ich ständig schlagartig auf, und es ist genauso qualvoll für mich, ruhig liegen zu bleiben, wie dann später das Stillsitzen. Aber es ist nicht etwa so, dass ich mitten in der Nacht aufwache, nicht genug schlafe und deshalb nervös bin. Pünktlich kurz vor sieben jeden Tag bin ich wach – und dies nach rund neun Stunden traumlosem Schlaf, weshalb ich eigentlich nicht verstehe, warum ich mich jeden Morgen wie gerädert fühle. Ich müsste mich doch wohl fühlen, denn nichts beschäftigt und berührt mich so, dass ich am Einschlafen gehindert würde. Aber genauso wenig beschäftigt und berührt mich irgend etwas, wenn ich wach bin, ich bin sozusagen unfähig, mich zu beschäftigen. Rein mechanische Dinge gehen noch am besten, einmal davon abgesehen, dass ich fürchterlich schwerfällig und langsam dabei bin und alles als sehr anstrengend empfinde.

Auf dem Weg zur Bushaltestelle mache ich noch einen Abstecher in einen Bäckerladen. Dreimal fragt die Verkäuferin zurück, bevor sie mir das Sonnenblumenkernbrot gibt, das ich verlangt habe. Es fällt mir nicht zum erstenmal auf, dass ich schlecht verstanden werde, wenn ich spreche. Auch mir selbst kommt meine Stimme fremd und unnatürlich vor. Ich bin erleichtert, aus dem Laden zu sein. Wenigstens hat sich das Malheur von vorhin bei der Zahlerei in der Apotheke nicht wiederholt. Fast stoße ich mit einer Arbeitskollegin zusammen. Ich merke ihr Erschrecken und Befremden, als sie mich ansieht, während wir uns begrüßen und einander die Hand geben. Verlegenheit und Hemmung auf beiden Seiten und dann als Rettung vorgeschützte Eile: Ihr Mann wartet auf sie am Auto, und ich darf den Bus nicht versäumen.

Achtundzwanzig Tropfen soll ich jeden Abend nehmen. Sigaperidol heißt das neue Medikament, es hat aber denselben Wirkstoff wie Haldol. Nach dem Lesen des Beipackzettels (jeden Tag mehrmals lese ich ihn!) weiß ich endlich, wie mein aktueller physischer Zustand von Ärzten und Wissenschaftlern bezeichnet wird. Da steht doch tatsächlich – und mir geht ein Licht auf! –, dass es zu Sitzunruhe, Sehstörungen und Muskelsteife kommen kann. Auftretende Dyskinesien (Störungen von Bewegungsabläufen) und parkinsonähnliche Symptome könnten durch Dosisverringerung behoben werden (lasse ich mir nicht zweimal sagen), und für ausführlichere Informationen wird auf einen wissenschaftlichen Prospekt verwiesen. Nun, den wird mir Dr. Niederländer sicherlich geben können, wenn ich ihn das nächste Mal aufsuche.

Ich werde auf jeden Fall schon einmal mit der Dosisverminderung beginnen. Mehr als zwanzig Tropfen kommen nicht in Frage, das ist zwar weniger als von Dr. Niederländer angeordnet, aber immer noch das Doppelte der Menge, die im Beipackzettel als übliche therapeutische Dosis bezeichnet wird. Trotzdem flößt mir mein eigenmächtiges Handeln Furcht ein, denn mir liegen ja noch die ärztlichen Warnungen in den Ohren, von Gerda immer und immer wieder mit äußerster Zuverlässigkeit wiederholt, so lange, dass mir der Text automatisch bzw. fast zwangsweise in Fleisch und Blut übergegangen ist.

Sehr ängstlich beobachte ich mich in diesen Tagen, merke aber keinen Unterschied, es geht mir weder schlechter noch besser, aber nach wie vor fühle ich mich alles andere als wohl.

Auch Dr. Niederländer, dem ich bei der nächsten Sitzung nichts davon sage, dass ich inzwischen nur noch rund ein Drittel der von ihm verordneten Menge nehme, scheint keine Veränderung an mir wahrzunehmen, er gibt sich in keinster Weise misstrauisch. Die Möglichkeit, dass jemand die Richtigkeit seiner Therapie anzweifeln und ihm nicht blind vertrauen könnte, existiert für ihn nicht. Ich erzähle ihm aber jetzt von meinen Beschwerden, der Unruhe, dem Zittern und erwarte, dass er meine eigene, heimliche Entscheidung bestätigt, indem er nun zur Verbesserung meines Befindens seinerseits vorschlägt, die Dosis zu reduzieren. Weit gefehlt, Dr. Niederländer reagiert ganz anders: an eine Reduzierung sei noch lange nicht zu denken, und es handele sich ja bei mir sowieso nur um eine Kleinkinderdosis. Er erklärt mir, dass mein Zittern wie die übrigen Beschwerden lediglich auf meine Übersensibilität zurückzuführen seien. Meine Befürchtungen, als Sekretärin meinem Job nicht mehr gewachsen zu sein, weil ich sowohl beim Schreiben von Hand wie auch mit der Schreibmaschine furchtbar unbeholfen bin und viel zu lange brauche, wischt er einfach damit weg, dass er anführt, jemand mit einem anderen Beruf – zum Beispiel ein Holzfäller – würde diese Nebenwirkungen überhaupt nicht wahrnehmen. Es fällt mir schwer, den Gedankengängen von Dr. Niederländer zu folgen – soll ich mich denn nun zur Waldarbeiterin umschulen lassen? Da fällt mir ein, dass ich ihn fragen wollte, ob er mir einen wissenschaftlichen Prospekt über Haloperidol geben kann.

Meine Bitte war vermutlich etwas ungehörig, denn noch mitten in meinem Satz unterbricht mich dieser kleine, schmächtige Mann, der seine besten Jahre wohl schon etwas überschritten hat, und fährt mich äußerst wütend an. Er schimpft auf die Arzneimittelhersteller, die mit ihren Informationen die Patienten lediglich verunsichern würden und damit den Ärzten die Arbeit erschweren. Keinerlei Kompetenz und Verantwortungsgefühl hätten diese Leute. Und dann, ob ich denn im Ernst glauben würde, ich wäre in der Lage, eine wissenschaftliche Information zu verstehen. Seine ohnehin heisere Stimme droht vor Empörung zu versagen. »Haben Sie vielleicht studiert? Wozu habe ich denn wohl so viele Jahre Medizin studiert, da könnte ja jeder kommen ...?!«

»Ja, wozu?« geht es mir durch den Kopf. »Vielleicht, damit du Klugscheißer mir erklären kannst, was ich Deiner Meinung nach nicht verstehe«, denke ich, aber natürlich bin ich weit davon entfernt, es zu sagen. Mit Haldol im Blut denkt man (so etwas) kaum, geschweige denn spricht es aus. Dass ich es überhaupt denke und gleichzeitig beschließe, diesen Quacksalber nie wieder aufzusuchen, ist wohl das Resultat davon, dass ich – zwar ohne Wissen meines Gegenübers – jetzt wirklich schon seit einigen Tagen so gut wie kein Haldol mehr nehme.

Ich warte schweigend, bis er mir die neue Krankmeldung gibt, und widerspreche auch nicht, als er mir ein neues Rezept für Haloperidol schreibt (ich brauche es ja nicht einzulösen), sage nicht, dass ich noch jede Menge von dem Zeug zu Hause habe. Ich fühle mich diesem Mann auf einmal überlegen, mit ihm werde ich fertig, der wird mir keine Spritze reinjagen, der nicht, dieser mickrige Zwerg. Fast habe ich Mitleid mit ihm, nicht zuletzt deshalb, weil er wegen seines vorherigen Wutausbruchs und seiner schwachsinnigen Argumentation nun jegliche Autorität für mich verloren hat. Vorige Woche hatte ich bereits seine Praxis sehr verärgert verlassen und mir vorgenommen, ihm keinerlei persönliche Dinge anzuvertrauen.

Hatte mir dieser Mensch doch tatsächlich Begebenheiten aus meiner Kindheit und meinem Privatleben wiedererzählt und kommentiert, die ich ihm gegenüber mit keinem Wort je erwähnt hatte. Zum Beispiel gab er sein Urteil ab über meine Beziehungen zu meinen Geschwistern und eröffnete mir, dass ich mich im Gegensatz zu diesen als einzige mit meinem Vater verstanden hätte, weshalb ich wohl seinen Tod im vergangenen Herbst nicht verkraften konnte.

Dies und auch einige Kleinigkeiten, bei denen ich ab zu schon vorher stutzig geworden war, ließen mich folgern, dass er Kontakt zu meiner Schwester hatte oder gehabt haben musste. Als ich ihn zur Rede stellte und fragte, woher er das zuvor Gesagte denn wisse, was sich im übrigen aus meiner Sicht etwas anders darstelle, reagierte er sichtlich ertappt, behauptete aber steif und fest, er hätte diese Informationen von niemand anderem als von mir. Ich verzichtete darauf, zu widersprechen und ihm zu sagen, dass er log und dass meiner Erinnerung nach die Gespräche mit ihm sich bisher jeweils auf ein paar Floskeln und die Verabredung des nächsten Besuchstermins beschränkt hatten, wobei letzteres in der Regel die meiste Zeit in Anspruch zu nehmen pflegte, da er hierzu immer sehr genau und ausführlich seinen (leeren) Terminkalender studierte.

Auf dem Nachhauseweg festigt sich der Gedanke, dass dies mein letzter Besuch bei Dr. Niederländer war.

Und dann fasse ich den Entschluss, keinen einzigen Topfen Haloperidol oder Ähnliches mehr freiwillig zu schlucken, komme, was da wolle. Bis einschließlich Freitag wurde meine Krankmeldung verlängert, das heißt, wenn ich nicht wieder hingehe oder einen anderen Arzt aufsuche, dann muss ich in ein paar Tagen ins Büro. Ich kann nicht riskieren, dass man mich erneut einsperrt, weil ich ohne ärztliches Attest meiner Arbeit fernbleibe, das wäre ein gefundenes Fressen für die. Ein glücklicher Zufall ist, dass ich vorerst nur eine Woche werde arbeiten müssen, denn bald habe ich Urlaub, fast fünf Wochen lang, den ganzen Monat April.

Seit langem sehne ich mich danach, einmal wieder in meiner zweiten Heimat in Südspanien Ferien zu machen. In den letzten Jahren war immer etwas anderes dazwischen gekommen, aber dieses Jahr schien alles wunderbar zu klappen – bis jetzt. Ich muss den Freunden, deren Wohnung ich benutzen kann, unbedingt noch heute abschreiben, denn ich bin ja kaum in der Lage, den alltäglichen Kleinkram hier zu bewältigen, geschweige denn die Vorkehrungen für eine längere Reise zu treffen. Und außerdem, wozu verreisen, wenn ich mich nicht einmal mehr darauf freuen kann. Auch möchte ich keinesfalls, dass mich meine spanischen Freunde und früheren Arbeitskollegen nach nun mehr als zehn Jahren in meinem jetzigen Zustand wiedersehen. Ein wenig Wut und vor allem viel Selbstmitleid kommt bei mir auf, sogar meinen Urlaub muss ich wegen dieser Idioten (und damit meine ich keine Psychiatriepatienten) opfern. Schon wieder bin ich am Heulen, auch deshalb, weil ich so gar nicht weiß, wie es weitergeht, und weil ich Angst habe.


Über die Autorin

Ilse Gold, Jahrgang 1949. 1991 durch einen Internisten in eine psychiatrische Anstalt zwangseingewiesen und dort vierzehn Tage lang mit Neuroleptika zwangsbehandelt. Seit dem heimlichen und eigenmächtigen Absetzen von Haldol kurz nach der Entlassung keinerlei ›Genuss‹ von Psychopharmaka mehr. (Ilse Gold starb am 7. September 1998 an Brustkrebs.)


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