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in: Antje Bultmann (Hg.): "Vergiftet und alleingelassen. Die Opfer von Giftstoffen in den Mühlen von Wissenschaft und Justiz", München: Knaur Verlag 1996, S. 119-138

Marc Rufer

Zu Tode "behandelt". Der Fall Franz Schnyder und die Psychiatrie

Der bekannte Filmregisseur starb 1993 mit grosser Wahrscheinlichkeit an den Folgen der Psychopharmaka, die er gegen seinen Willen in der psychiatrischen Anstalt einnehmen musste (1)

Franz Schnyder war prominent, er war der erfolgreichste Filmregisseur, den die Schweiz je hatte. Seine Filme waren grosse Erfolge und spielten viel Geld ein. Noch immer werden sie regelmässig auf der ganzen Welt im Fernsehen gezeigt, als Videokassetten verkauft und sind als Reprisen im Kino zu sehen. Bis heute ist der Name Franz Schnyder den meisten Schweizern wohlbekannt.

17. Dezember 1992:

Gestern habe ich erfahren, dass Franz Schnyder seit einem halben Jahr gegen seinen Willen in der psychiatrischen Anstalt Münsingen in der Nähe von Bern hospitalisiert ist. Kurz entschlossen fuhr ich nach Münsingen, um mir ein Bild von der Situation zu machen. Ich wusste nicht einmal, ob man mich überhaupt hineinlassen würde.

Die Station 27 ist ein älteres niedriges, längliches Gebäude am Rande des Anstaltskomplexes. Ich läute bei der Station 27 und werde sofort durch den langen Gang zu Schnyder geführt. Schnyder befindet sich in seinem kleinen Zweierzimmer. Das zweite Bett benützt er als Ablage für seine Schreibarbeiten. Auf dem kleinen Tisch steht eine Schreibmaschine. Wie die meisten psychiatrischen Anstalten der Schweiz ist auch diejenige von Münsigen schön gelegen. Durch eine Gruppe von Tannen hindurch sieht Schnyder von seinem Arbeitsplatz aufs freie Feld. Dahinter befindet sich die Bahnlinie Thun-Bern. Offensichtlich hatte "Patient" Schnyder die Möglichkeit gehabt, sich sein Zimmer mit den spärlichen Mitteln, die ihm zur Verfügung standen, nach eigenem Geschmack einzurichten: Ein Hauch Privatsphäre mitten in der Anstalt! Der grosse und wache alte Mann empfängt mich freudig und verwickelt mich sofort in ein langes Gespräch. Auf seine missliche Situation als unfreiwilliger Insasse der Anstalt geht er kaum ein. Es geht ihm um mehr – es geht ihm um viele Millionen. Er weiss, dass seine Filme nach wie vor in den Kinos der ganzen Welt gespielt und im Fernsehen gezeigt werden. Er weiss auch, dass sogar in Japan in vielen Läden Videokassetten seiner Werke zu kaufen sind. Dennoch hat er seit Jahrzehnten keinen Rappen mehr kassiert. Er ist überzeugt, das Opfer eines Komplotts zu sein. Sogar Regierungsmitglieder würden in der Schweiz zu seinen Gegnern zählen. Seine Einschliessung in der Anstalt ist für ihn nur ein kleiner Teil des grossen Unrechts, das ihm seit vielen Jahren angetan wird. Selbstverständlich ist seiner Meinung nach auch sein Beistand, der seit einiger Zeit für seine Finanzen verantwortlich ist, in das Komplott verwickelt. Da spielen seine Filme noch täglich auf der ganzen Welt viel Geld ein, und es wird behauptet, dass er, Franz Schnyder, verschuldet sei. Sein Ärger ist gross.

Schnyder erzählt mir auch von seinem Zwillingsbruder Felix – ab 1947 Schweizer Botschafter in Moskau, 1961 bis 1965 UN-Hochkommissar für Flüchtlinge, 1966 bis 1975 Schweizer Botschafter in Washington –, der im vergangenen November gestorben ist. Er findet es unerhört, dass man ihn nicht rechtzeitig über dessen Krankheit informiert hat. Einen letzten Brief von Felix hat man ihm erst mit grosser Verspätung ausgehändigt. Dass er deshalb nicht mehr in der Lage war, seinen Bruder vor dessen Ableben zu besuchen, belastet ihn sehr.

Nach zwei Stunden muss ich gehen. Schnyder ist betrübt, gerne hätte er weiterdiskutiert. Dennoch lässt er es sich nicht nehmen, mich durch den Gang bis zur Türe der Station zu begleiten. Der Schwester, die mich herauslassen muss, erklärt er, ich sei ein Freund.

Die Diskussion mit Schnyder verlief angeregt. Verständlich sein Ärger darüber, dass andere mit seinem Lebenswerk das grosse Geld machen. Es war schwierig für mich, seine Geschichte zu beurteilen. Gut möglich, dass er völlig legal von gerissenen Geschäftemachern übervorteilt worden war. Genauso gut möglich, dass man ihn auf verbrecherische Weise um sein Geld gebracht hatte. Doch auch in diesem Fall wäre es für Schnyder wohl schwierig gewesen, mit Unterstützung der Gerichte sich das entgangene Einkommen zurückzuholen. Schliesslich handelte es sich um Filme, die zwischen 1940 und 1968 enstanden waren. Dennoch versuchte ich ihm mit Hilfe eines Anwalts in dieser Sache behilflich zu sein; doch leider konnte bis zu Schnyders Tod am 8. Februar 1993 nichts Wesentliches erreicht werden.

Schnyder war eine widersprüchliche Person. Gleich sein erster Spielfilm über Gilberte de Courgenay, 1940/41 gedreht, wird zum durchschlagenden Publikumserfolg. Gilberte ist die legendäre "Soldatenmutter" im Ersten Weltkrieg, der Film Schnyders Beitrag zur "geistigen Landesverteidigung" gegen Faschismus und Nationalismus. Doch Schnyder war kein Angepasster, immer wieder eckte er an, brach Tabus und erntete dementsprechend auch Misserfolg: Typisch dafür ist bereits sein zweiter Film Wilder Urlaub (1943), der am Beispiel eines klassenbewussten Proletariers mitten im Zweiten Weltkrieg einfühlsam die Geschichte eines Fahnenflüchtigen schildert. Diesen Fehltritt musste Schnyder teuer bezahlen: Erst elf Jahre später konnte er seinen nächsten Spielfilm drehen. Seine Filme zu Büchern von Jeremias Gotthelf trafen erneut den Geschmack des grossen Publikums: Kaum ein Schweizer, der Uli der Knecht und Uli der Pächter nicht gesehen hat. Auch Heidi und Peter nach Johanna Spyri wird ein Grosserfolg. Doch bereits 1956 macht Schnyder einen zweiten Fehler. Sein Film Der zehnte Mai zeigt wiederum ein Geschehen, das ein Grossteil der SchweizerInnen nicht wahrhaben will. Schnyder wird erneut zum Nestbeschmutzer. Es wird einerseits die prekäre Situation eines deutschen Flüchtlings 1940 in der Schweiz gezeigt, andererseits viele vollbeladene Autos, in denen sich wohlhabende Schweizer nachts – aus Angst vor einem Einmarsch Hitlers – in die Berge in Sicherheit zu bringen versuchen.

So pendelt Schnyders Leben zwischen Erfolg und Misserfolg hin und her. Mit zunehmendem Alter wird seine Position immer ungemütlicher. 1968 war für ihn ein unglückliches Jahr. Gross wird sein neuer Film Die sechs Kummerbuben lanciert, sogar der schweizerische Bundespräsident erscheint zur Premiere in einem Berner Nobelhotel. Doch die Zeiten haben sich geändert. Während des Kriegs eckte er mit seiner Gesellschaftskritik an, nun wird sein "Heimatkino" zum Stein des Anstosses. In der Zwischenzeit hatten, unterstützt von der Presse, junge Filmemacher Ansehen gewonnen. Schnyder wird zum "goldenen Kalb" des alten Schweizerfilms und ohne viel Aufhebens vom Sockel gestossen. Sein Film sei kitschiges Antikino, war beispielsweise im Berner Bund zu lesen. Schnyder versteht die Welt nicht mehr. Dass sein letzter Film über 475 000 Franken einspielt und die 13teilige Fernsehfassung hohe Einschaltquoten erzielt, vermag den in seiner Ehre verletzten Schnyder nicht zu trösten.

Dennoch gibt er noch nicht auf. Er plant einen grossen Film über den Schweizer Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi. 1974 hat er das Drehbuch beendet. Es ist bis ins kleinste Detail ausgearbeitet: 190 Sequenzen, gegliedert in 906 Einstellungen, sind darin ausführlich beschrieben. Doch obwohl er verschiedene Anläufe unternimmt, gelingt es Schnyder nicht, den Film zu realisieren.

Der alternde Schnyder wird zunehmend verbittert. Er ist davon überzeugt, dass er hintergangen worden ist. Er sieht, dass seine Filme in der ganzen Welt gespielt werden. Es ist ihm unverständlich, wieso andere als er selbst damit das grosse Geld machen können. Er lebt, unterstützt von einer Mitarbeiterin der Betagtenhilfe, allein im Haus in Burgdorf, das er von seinen Eltern geerbt hat. Im Mai 1992 kann sich der inzwischen 82jährige Schnyder nicht mehr zurückhalten. Er fühlt sich von der ganzen Welt, insbesondere auch von seiner Heimatgemeinde, finanziell ausgenützt. Mit einer Pistole bewaffnet fordert er in einem Ladenlokal einen grösseren Geldbetrag. Kurze Zeit später erscheint die Polizei. Klar, dass es sich nicht um einen ernsthaften Raubüberfall handeln konnte. Aber um was denn sonst? Als "altersparanoid" werden solche Menschen von den Psychiatern bezeichnet. Schnyder war, so sahen es die Experten, offensichtlich unzurechnungsfähig und gefährlich. So wurde er zwangsweise in die psychiatrische Anstalt in Münsingen in der Nähe von Bern gebracht. Zwangseinweisungen werden in der Schweiz "fürsorgerische Freiheitsentziehung" genannt. Das Geschehen erhält so einen wohlklingenderen Namen, am üblen Sachverhalt jedoch ändert sich dadurch nicht das Geringste.

Schnyder ist ein "schwieriger Patient". Er weiss, dass die "Irren" nach Münsingen gebracht werden. Gross ist sein Zorn. Er wehrt sich, so gut er kann. Er, der erfolgreichste Filmregisseur, den die Schweiz je hatte, in der "Spinnwinde". Das ist doch wirklich eine Unverschämtheit. Vom "Medikamenten-Plunder" will er von Anfang an nichts wissen. Er bezeichnet die Assistenzärzte als Lehrlinge und schickt sie einfach weg. FRS, wie sich Schnyder in den letzten Jahren nannte, will auch vom medizinischen Leiter der Anstalt nichts wissen. Was wollen die denn von ihm? Von diesen läppischen Ärztlein lässt sich FRS überhaupt nichts sagen. Schliesslich ist er ja gesund.

Mit "PatientInnen", die sich verhalten wie Schnyder, geht die Psychiatrie üblicherweise nicht zimperlich um. Unruhige, Widerstand leistende "PatientInnen" werden praktisch immer mit Neuroleptika "behandelt". Neuroleptika sind das Allheilmittel in der heutigen Psychiatrie. Wer als "schizophren" oder "manisch" gilt oder sonstwie erregt ist, erhält routinemässig Neuroleptika (2). Wenn ein "Patient" die verschriebenen "Medikamente" nicht brav und freiwillig zu sich nimmt, werden sie ihm mit Gewalt injiziert. Danach ist seine Widerstandskraft gebrochen. Mit Recht werden diese Psychopharmaka als chemischer Knebel oder chemische Keule bezeichnet. Wer Neuroleptika zu sich nimmt, ist nicht mehr der, der er zuvor war. Seine gefühlsmässige Wahrnehmung seiner selbst und anderer ist gedämpft, seine intellektuelle Leistungsfähigkeit, sein Gedächtnis, seine Kreativität gestört. Resigniert und apathisch, ohne Lust und Potenz, lebt er dahin. Verbunden mit diesen psychischen Wirkungen sind zum Teil irreversible, das heisst bleibende Bewegungsstörungen, die diese Menschen als behindert und "irr" erscheinen lassen. Typisch sind, wie jeder Anstaltsbesucher bestätigen kann: Zittern, der kurzschrittige, trippelnde Gang ohne Mitbewegungen der Arme, das starre Gesicht. Zu den "Nebenwirkungen" der Neuroleptika gehören auch gefährliche körperliche Komplikationen, die tödlich enden können.

Die psychiatrische Zwangsmedikation spielt sich in der Schweiz in einer juristischen Grauzone ab. Dazu kommt, dass die rechtliche Situation nicht in allen Kantonen dieselbe ist (3). So schreibt die Justizdirektion des Kantons Bern (4) – und Münsingen liegt im Kanton Bern –, dass für Zwangs-"Behandlungen", wie sie in psychiatrischen Anstalten durchgeführt werden, die rechtliche Grundlage fehle. Doch diese Feststellung bleibt leider praktisch ohne jede Folge, müssten doch sonst täglich Anstaltspsychiater vor Gericht erscheinen und bestraft werden.

Von FRS liessen sich die Anstaltspsychiater erstaunlicherweise einschüchtern. Ganz offensichtlich war Schnyders Auftreten für die Ärzte ungewohnt. Seine Selbstsicherheit, sein Ton, der keinen Zweifel daran liess, wie sehr er diese "Lehrlinge" und "Ärztlein" verachtete, zeigten Wirkung. Üblicherweise ist jemand, der frisch in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen wurde, ängstlich, verunsichert. Er hat eine Niederlage erlitten, seine engsten Kontaktpersonen haben sich von ihm abgewandt und die Hospitalisierung eingeleitet. Er fühlt sich erniedrigt, ist isoliert. Kaum einer, der in dieser Situation die Kraft hat, der Meinung der Experten seine eigene Sicht der Dinge entgegenzuhalten. Die allermeisten lassen sich vom Wissen der Psychiater beeindrucken und akzeptieren ihre "Diagnose" und die angeordnete "Behandlung", auch wenn sie damit in keiner Weise einverstanden sind. Es ist eine oft zu beobachtende Tatsache, dass Menschen, die im Besitz von viel Macht sind, sich durch selbstsicheres und autoritäres Auftreten sehr schnell beeindrucken lassen. Sie, die üblicherweise ausschliesslich mit freiwilliger Unterwerfung konfrontiert sind, sind leicht zu verunsichern. Offensichtlich traf dies auf Schnyders Ärzte in Münsingen zu. Doch diese Erklärung allein reicht noch nicht aus. Zu leicht ist es für Psychiater, den Widerstand von schwierigen "PatientInnen" zu brechen. Es kommt nicht nur darauf an, wie sich ein Insasse benimmt, sondern auch darauf, wer er ist. Ein Unterschichts-"Patient", der sich wehrt, wirkt anders, als ein Mann aus besseren Kreisen, der sich auszudrücken weiss. Und FRS war nicht nur ein Oberschichts-"Patient", sondern er war auch prominent. Kein Schweizer, der nicht seinen Namen kennt, und der nicht einige seiner Filme gesehen hat. Ein prominenter Schweizer also, der Widerstand gegen die "Behandlung" leistete: Da wussten die Anstaltspsychiater nicht mehr weiter. Und der prominente "Patient" war einerseits gross und schwer und andererseits 82 Jahre alt. Die Anordnung, dass die Zwangs-"Behandlung" durchgeführt werden soll, floss ihnen in dieser Situation nicht spontan und problemlos über die Lippen. FRS, die Ikone des Schweizerfilms, mit brachialer Gewalt zu Boden zu drücken, ihm den Hintern zu entblössen, und ein stark wirkendes Neuroleptikum reinzujagen, war für sie ganz offensichtlich ein zu starkes Stück. So schlugen sie den vorsichtigeren Weg ein. Der Kantonsarzt wird hinzugezogen. Er soll in dieser heiklen Situation entscheiden.

Der Kantonsarzt erscheint und unterhält sich angeregt und interessiert mit Schnyder. Doch es wird gar kein diagnostisches Gespräch. Die beiden vergessen, dass sie sich in einer psychiatrischen Anstalt befinden. Der Arzt ist glücklich, sich mit dem berühmten Schnyder unterhalten zu können, und FRS ist glücklich, dass er endlich wieder einmal einem vernünftigen Menschen gegenüber sitzt, der sich für seine Filme und seine Pläne interessiert. Einem gebildeten Bewunderer gegenüber zeigt sich Schnyder selbstverständlich von seiner besten Seite. Das Resultat der Unterredung war für die Anstaltsärzte ernüchternd. Der Kantonsarzt kam zum Schluss, dass eine Zwangs-"Behandlung" nicht angezeigt sei. Damit waren den Psychiatern die Hände gebunden.

Diese Situation gibt es kaum einmal in einer psychiatrischen Anstalt. Das Wissen, dass jederzeit einem widerspenstigen "Patienten" zwangsweise ein Neuroleptikum injiziert werden kann, ist Teil der Identität der PsychiaterInnen. Ohne diese Möglichkeit sind sie in einer Situation, die sie nicht kennen; da können sie sich nicht mehr auf gewohnte und verinnerlichte Verhaltensmuster stützen. Erst eine deutliche Änderung des Befindens von FRS hätte jetzt noch eine Zwangs-"Medikation" rechtfertigen können.

Eines hingegen ist klar. Schnyder muss in der Anstalt bleiben. So weit, dass Schnyder entlassen würde, geht das Entgegenkommen des Kantonsarztes denn doch nicht. So nimmt der rüstige Schnyder die Sache selbst in die Hand und kehrt von einem Spaziergang nicht mehr zurück. Er nahm den Zug und fuhr nach Burgdorf. Doch kurz darauf wurde er von Polizisten wieder auf der Akutstation der Anstalt in Münsingen abgeliefert.

In der Anstalt kann Schnyder schalten und walten, wie er will. Er richtet sich in der Station 27 ein. Dass man in seinem Zimmer das zweite Bett belegen will, ist für ihn inakzeptabel. Wer in seinem Zimmer auch immer plaziert wird, wird alsbald hinauskomplimentiert. FRS führt eine weltumspannende Korrespondenz. Das Pflegepersonal bringt seine Briefe brav zur Post.

Im November 1992 erfährt Schnyder vom Tod seines Zwillingsbruders. Schnyder verliert langsam seinen Biss, seine Widerstandskraft erlahmt. Auch wenn er in der Anstalt einen Sonderstatus hat, ist doch sehr klar, in was für einer Umgebung er sich befindet. Er, der erfolgreichste Filmregisseur der Schweiz, in der "Klapsmühle", und er hat keine Möglichkeit, diesen Ort des Schreckens zu verlassen. Und nun ist auch noch sein Bruder gestorben, der engste Angehörige des unverheirateten FRS. Auch sein wichtigstes Anliegen, an das viele Geld heranzukommen, das ihm seiner Meinung nach vorenthalten wurde, scheint zu misslingen. Schnyder wähnt sich als Opfer eines Komplotts, fühlt sich von allen Seiten verraten. Ein letztes Aufflackern seines Widerstands: Er schreibt einem Bekannten einen Brief mit der Bitte, an den eben abgewählten amerikanischen Präsidenten George Bush ein Telegramm zu schicken. Bush solle doch bitte die Militärpolizei nach Münsigen schicken, denn er – Schnyder – befinde sich in Todesgefahr.

Am 31. Januar 1993 ritzt sich Schnyder mit einer Schere die Haut am rechten Unterarm: nicht gefährlich, genäht werden muss nicht, nur einige oberflächliche Kratzer sind zu sehen. Doch damit hat sich für die Psychiater die Situation sehr deutlich verändert. Für sie handelt es sich nicht um harmlose Kratzer, sondern um einen ernstzunehmenden Suizidversuch. Diese Kratzer zeigten sicher an, dass Schnyder mit seiner Situation nicht zufrieden war. Doch um einen ernsthaften Selbstmordversuch handelte es sich keinesfalls. Schnyder war noch rüstig. Mit sicherem, schnellem Schritt durchquerte der grosse, kräftige und wache Mann täglich den Antstaltsgang. Er wäre zweifellos in der Lage gewesen, sich weitaus schwerwiegendere Verletzungen zuzufügen. Es bleibt auch unklar, ob Schnyders Kratzer am Unterarm als harmloser Suizidversuch oder eher als Protest gegen die monatelange Zwangshospitalisation zu verstehen ist.

Nun gab es für die Anstaltspsychiater kein Halten mehr. Jetzt war eine Indikation für die "Behandlung" mit Neuroleptika gefunden. Der Abteilungsarzt verordnet einen "Cocktail": Haldol und Nozinan (Neurocil). Zwei der wirksamsten Neuroleptika überhaupt, in der Kombination besonders effektvoll. Schnyders Widerstand ist gebrochen, er mag nicht mehr kämpfen. Die Drohung, dass nötigenfalls die Neuroleptika auch zwangsweise gespritzt werden könnten, wirkt sofort. So trinkt FRS, der sich von Anfang an gegen eine "medikamentöse Behandlung" gewehrt hatte, "freiwillig" den bitteren Saft.

Dies ist ein Geschehen, wie es sich in der Anstalt regelmässig abspielt. Als Insasse einer geschlossenen Station musste Schnyder viele unschöne Szenen miterleben. Immer wieder nahm er den Aufruhr, der mit einer Zwangs-"Behandlung" verbunden ist, wahr: Bis zu acht Pfleger stürzen sich jeweils auf unbotmässige Insassen, die die "Medikation" verweigern. Für die Mit-"PatientInnen" bedeutet dies immer eine schwere Belastung. Derartige Szenen sind laut, es wird geschrien und geflucht, Schläge sind zu hören. So wissen alle Anstaltsinsassen, dass sie keine Chance haben. Sobald einmal die Zwangs-"Behandlung" angeordnet ist, ist der Ausgang des Geschehens klar. Einer derartigen Übermacht gegenüber ist auch der stärkste Mann machtlos.

Es war also sicher vernünftig, dass sich Schnyder dem Druck beugte. Er hätte den Gang der Dinge nicht mehr aufhalten können. Doch Schnyder konnte natürlich nicht wissen, was sein Nachgeben für Folgen haben würde. Sein Widerstand gegen Psychopharmaka war rein instinktiv. Er war davon überzeugt, dass er gesund war; also brauchte er auch keine Medikamente. Selbstverständlich hatte er sich nicht mit den Wirkungen der Neuroleptika und der anderen Psychopharmaka auseinandergesetzt. Wer macht das denn schon, ohne einen ganz bestimmten Anlass dafür zu haben?

Die chemische Keule wirkt. Der rüstige, wache und lebhafte Schnyder wird in kurzer Zeit zum bettlägrigen und inkontinenten Pflegefall. Wie üblich in solchen Fällen, wird FRS in Windeln gelegt. Seit dem 1. Februar 1993 erhält Schnyder täglich dreimal seinen Neuroleptika-Cocktail. Am 3. Febraur schreibt er auf ein Blatt Papier: "Bringt mich sofort nach Hause. FRS." Am 8. Februar findet man ihn leblos in seinem Bett. Der zuständige Arzt ordnet die Verlegung ins Bezirksspital Münsingen an. Doch dort kann nur noch Schnyders Tod festgestellt werden. Bei der Autopsie wird ein Blutgerinnsel in den Lungen entdeckt: Todesursache also Lungenembolie.

Bis zum 31. Januar 1993 war Schnyder gesund und rüstig. Was war der Grund für sein schnelles Ableben?

Ohne die Verabreichung der beiden Neuroleptika Haldol und Nozinan wäre Schnyder am 8. Februar mit grösster Wahrscheinlichkeit nicht gestorben. Verschiedene Gründe sprechen dafür: Sowohl die psychische wie auch die körperliche Wirkung der Neuroleptika bedeuten für "Patienten" wie Schnyder eine grosse Gefahr. Neuroleptika brechen die Widerstandskraft, machen müde, dösig, apathisch, resigniert und depressiv. Sie beeinträchtigen die intellektuelle Leistungsfähigkeit und das Gedächtnis und führen – besonders bei älteren Menschen – zu Desorientiertheit und Verwirrung. So verlor Schnyder durch die psychischen Effekte von Haldol und Nozinan endgültig seinen Lebenswillen. Und der Lebenswille ist bei einem bald 83jährigen Mann ein Faktor, der sein Überleben wesentlich mitbestimmt. Die psychischen Auswirkungen der "Medikation" verhindern, dass sich der Betroffene mit seiner Situation auseinandersetzt und auf diese Weise aus eigener Kraft einen Ausweg aus seiner misslichen Situation suchen könnte. Durch die "Medikation" wird er zum hilflosen "Patienten", der dem Druck des Personals, das ihn als "krank" einstuft, mit Sicherheit keine eigene Sicht der Dinge entgegenzustellen vermag.

Doch eine Wirkung der Neuroleptika ist hier besonders bedeutungsvoll: Neuroleptika vergrössern die Selbstmordgefahr. An anderer Stelle zeige ich ausführlich (5), wie schwer sich die Psychiatrie mit dem Selbstmordproblem tut. Seit den fünfziger Jahren steigt die Zahl der "Patienten"-Suizide, das heisst die Zahl der Insassen, die sich in der Anstalt oder kurz nach der Entlassung umbringen, stärker an als die Zahl der Selbstmorde in der Gesamtbevölkerung. Dies hängt zweifellos damit zusammen, dass seit Beginn der fünfziger Jahre Neuroleptika und seit Ende der fünfziger Jahre Antidepressiva bei immer mehr "PatientInnen" und in zunehmender Dosierung eingesetzt wurden. Denn sowohl Neuroleptika wie auch Antidepressiva sind bekannt dafür, dass sie die Selbstmordtendenz vergrössern. Völlig absurd: Da wurde Schnyder, der als suizidal galt, genötigt, "Medikamente" zu sich zu nehmen, die die Selbstmordgefahr vergrössern.

Selbstverständlich war Schnyders plötzliche Bettlägrigkeit eine direkte Folge der Wirkung der beiden "Medikamente": Als erstes ist hier die Dämpfung zu nennen; das Neuroleptikum Nozinan (Neurocil) ist ein "Medikament", das in der Psychiatrie oft als äusserst starkes Schlafmittel eingesetzt wird. Hinzu kommt, dass ein depressiver, resignierter und apathischer alter Mann kaum mehr aufstehen wird, auch wenn er körperlich dazu noch in der Lage wäre. Sehr oft führen Neuroleptika zu einer Senkung des Blutdrucks, die verbunden ist mit Schwindel und Ohnmacht beim Aufstehen. Schon dies allein kann Bettlägrigkeit eines alten Menschen bedingen. Diese Kreislaufschwierigkeiten können zu einer Mangeldurchblutung des Herzens und des Gehirns führen. Es kommt auch zu Herzarrhythmien. Weiter sind auch die durch Neuroleptika ausgelösten Bewegungsstörungen sehr unangenehm. Die Koordination, die Beweglichkeit, das Gleichgewicht sind gestört, was um so schwerwiegendere Folgen hat, je älter der "Patient" ist. Dabei darf nicht vergessen werden, dass der Betroffene selbst natürlich nicht wissen kann, dass die Verschlechterung seines Zustands durch die "Medikation" ausgelöst ist. Er fühlt sich "krank" und behindert und ergibt sich in sein Schicksal.

Weitere mögliche "Nebenwirkungen" bedeuten für alte Menschen eine besondere Belastung und eine grosse Gefahr, da die körperliche Widerstandskraft bei ihnen geringer ist, wodurch sich das Risiko einer fatalen Entwicklung erhöht. Dazu gehört unter anderem: Erschwerung des Wasserlassens (problematisch vor allem bei älteren Männern, die oft eine Vergrösserung der Prostata aufweisen), Störungen der Leberfunktion, Entzündungen der Schleimhaut von Magen und Darm wie auch die Agranulozytose (bei der Agranulozytose fehlt eine Form der weissen Blutkörperchen; in 30 bis 40 Prozent der Fälle kommt es zu tödlichen Infektionen).

Im Falle Schnyder muss eine weitere "Nebenwirkung" der Neuroleptika ganz speziell beachtet werden: Neuroleptika können Thrombosen (Blutgerinnsel) und Embolien (Verschleppung eines Blutgerinnsels verbunden mit der Verstopfung von Blutgefässen, die zum Tode führen kann) bewirken. Es ist erwiesen, dass der Konsum von Neuroleptika – unabhängig vom Alter und auch bei nichtbettlägrigen Menschen – die Thrombose- und Embolieneigung erhöht. Und Schnyder ist an einer Lungenembolie gestorben.

Hinzu kommt, dass auch Bettlägrigkeit immer mit Thrombose- und Emboliegefahr verbunden ist. Das ist der Grund, wieso frisch Operierte wann immer möglich noch am Tage des Eingriffs auf die Beine gestellt werden. Auch der durch die Neuroleptika ausgelöste Blutdruckabfall und allfällige Herzarrhythmien steigern die Thrombose- und Emboliegefahr.

Dass Neuroleptika Thrombosen und Embolien bewirken können, und dass Bettlägrigkeit diese Gefahr massiv vergrössert, wissen die Psychiater genau. Sie kennen auch die mit Suizidalität verbundene "pharmakogene Depression" als Komplikation dieser "Behandlung". Und dennoch nötigten sie FRS zur "Behandlung" seiner Suizidalität gegen seinen erklärten Willen Neuroleptika auf. Es hätte wahrlich bessere Möglichkeiten gegeben, um weitere Suizidversuche zu verhindern. Schnyder war Insasse einer geschlossenen Abteilung in der psychiatrischen Anstalt. Man hätte ihm Messer, Scheren und weitere gefährliche Instrumente abnehmen können. Auf diese Weise wäre die Wiederholung des "Suizidversuchs" ganz einfach zu verhindern gewesen. Doch derart einfache Eingriffe genügen den Psychiatern offensichtlich nicht. Sie wollen "behandeln". Und im Zentrum der psychiatrischen "Therapie" stehen seit längerer Zeit die Psychopharmaka, insbesondere die Neuroleptika. Das Selbstverständnis der PsychiaterInnen sieht vor, wann immer möglich aktiv einzugreifen, zu "behandeln". An anderem Ort (6) stelle ich eine richtiggehende "Behandlungs"-Wut oder "Behandlungs"-Sucht der PsychiaterInnen fest. Dabei berücksichtigen sie die Gefahren, die mit ihren Eingriffen verbunden sind, viel zu wenig. Alle Insassen psychiatrischer Anstalten laufen Gefahr, schwerwiegende Komplikationen zu erleiden. Am grössten ist diese Gefahr für ältere Menschen. Bei ihnen können "Behandlungen" mit Psychopharmaka leicht fatal enden. Üblicherweise werden in der Medizin Behandlungen mit grossen Risiken nur bei schwersten Krankheiten, die tödlich enden können, durchgeführt. Viele Psychopharmaka – Neuroleptika, Antidepressiva, Lithium und Carbamazepin (Tegretol, Tegretal) – sind nachgewiesenermassen gefährliche "Medikamente". Und in der Psychiatrie werden regelmässig körperlich gesunde Menschen gezwungen, sie einzunehmen.

Der Blick der PsychiaterInnen ist dermassen auf "Krankheitssymptome" ausgerichtet, und sie sind dermassen von der Notwendigkeit und Nützlichkeit ihrer Psychopharmaka-"Behandlungen" überzeugt, dass sie die durch diese "Medikamente" ausgelösten Schädigungen meist übersehen. Man findet nur, wonach man sucht. So ist denn klar, dass bezüglich der psychopharmakabedingten Todesfälle eine grosse Dunkelziffer bestehen muss. Dass Schnyder autopsiert wurde, muss als grosse Ausnahme bezeichnet werden. Wen interessiert normalerweise schon die genaue Todesursache bei einem über achtzigjährigen Psychiatrie-"Patienten"? Dass überhaupt eine Autopsie durchgeführt wurde, hängt sehr wahrscheinlich damit zusammen, dass es sich da um einen prominenten Toten handelte. Und nur auf Grund dieser Autopsie wurde der Zusammenhang von Schnyders Tod mit der "Behandlung" so klar.

Es wäre an der Zeit, dass regelmässig und systematisch abgeklärt wird, ob Todesfälle von Psychiatrie-"PatientInnen" eine Folge der "Behandlung" dieser Menschen mit Psychopharmaka sind.

Anmerkungen

  1. Ich hatte Schnyder am 17. Dezember 1992 in der psychiatrischen Anstalt Münsingen besucht. Weitere Informationen beziehe ich aus dem Artikel von Fredi Lerch: "Ich bin einsam der erfolgreichste Filmproduzent unseres Landes", in: Die Wochenzeitung, 8/1993, S.28f. Im übrigen habe ich selbst bereits einen kurzen Artikel zu diesem Fall geschrieben: "Neuroleptika gegen den eigenen Willen", in: Die Wochenzeitung, 12/1993, S. 24 Pfeil

  2. Mehr über Neuroleptika und die weiteren Psychopharmaka findet sich in: Marc Rufer: Irrsinn Psychiatrie, Zytglogge Verlag, Bern 1988, und ganz ausführlich in: Marc Rufer: "Psychiatrie – Täter, Opfer, Methoden" (in Vorbereitung). Sehr informativ ist auch Peter Lehmann: Der chemische Knebel, Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag, Berlin 1986 (PDF E-Book 2022)Pfeil

  3. In meinem Buch "Psychiatrie – Täter, Opfer, Methoden" (in Vorbereitung) gehe ich ausführlich auf diese Frage ein. Pfeil

  4. Diese Meinung vertritt die Justizdirektion des Kantons Bern in ihrem Brief vom 26.9.1989. Pfeil

  5. Marc Rufer: "Glückspillen – Ecstasy, Prozac und das Comeback der Psychopharmaka", Knaur-Taschenbuch, München 1995, S.129f., und Marc Rufer: "Psychiatrie – Täter, Opfer, Methoden" (in Vorbereitung) Pfeil

  6. "Psychiatrie – Täter, Opfer, Methoden" (in Vorbereitung) Pfeil