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des Antipsychiatrieverlags
Referat zum Thema »Zeit in der Psychiatrie«
in der Arbeitsgruppe 16: »Psychopharmaka: Dauermedikation oder
befristeter Einsatz« auf dem Symposium »10 Jahre Sozialpsychiatrische
Universitätsklinik«, Bern, 8. bis 10. September 1988
/ PDF
Peter
Lehmann
Gestohlene Lebenszeit in der Psychiatrie. Eine an den
Interessen der Betroffenen orientierte Kritik psychiatrischer
Psychopharmaka (speziell Neuroleptika)
Neuroleptika haben immer Risiken, ob kurz- oder langfristig angewandt.
Nicht nur die körperlichen, geistigen und psychischen Schäden
fallen negativ ins Gewicht, sondern auch die fehlenden psycho-
und anderen therapeutischen Möglichkeiten. Berichte verantwortungsvoller
Mediziner und Psychiater, die sich an Werten wie Gesundheit, Selbstbestimmung
und Kreativität orientieren, decken sich mit der Kritik von
geschädigten Betroffenen.
1. Nutzen von Neuroleptika
Einen Nutzen bringen Neuroleptika den Aktionären der Herstellerfirmen;
reichhaltiger psychiatrischer Gebrauch von Psychopharmaka erhöht
die jährliche Dividende. Einen vordergründigen materiellen
Nutzen bringen sie den Beschäftigten in den Psychiatrischen
Anstalten und den Chemieunternehmen, indem sie Arbeitsplätze
schaffen und erhalten. Einen Nutzen bringen sie makro- und mikropolitischen
Machthabern, die störende und unbequeme Menschen als psychisch
Kranke und Behinderte abstempeln und ob in Diktaturen,
patriarchalischen oder sonstwie autoritären Strukturen
chemisch, psychiatrisch-psychopharmakologisch ruhigstellen und
Widerstandsäußerungen so unbewusst und verzerrt
sie sein mögen als wahnhaft und krank
entwerten wollen. Nicht von ungefähr den Begriff der »Vergewaltigung«
verwendet der Psychiater Ernst, um nach einer Versuchsreihe mit
dem Neuroleptika-Prototyp Chlorpromazin die Wirkung beim zwangsweisen
Einsatz des Psychopharmakons zu charakterisieren (Ernst 1954).
Neuroleptika werden gebraucht zu neuroleptanalgetischen Zwecken
im humanmedizinischen Bereich: zur Stoffwechsel- und Schmerz-Reduzierung
während chirurgischer Eingriffe. Einen Nutzen bringen Neuroleptika
schließlich im Bereich der Tiermedizin, wo sie aufgrund
ihrer anti-psychotischen Wirkung angewendet werden zur Ruhigstellung
aggressiver Schweine und Ziegen oder widersetzlicher und unleidlicher
Zootiere etwa beim Beschlagen, Scheren oder bei Ausstellungen,
oder zur Ausschaltung natürlicher Abwehrbewegungen bei diagnostischen
und therapeutischen Eingriffen an Pferden, Rindern und Hunden
so das »Lexikon der Tierarzneimittel« (Petrausch
1987).
2. Schäden von Neuroleptika
Wie der schwedische Mediziner Martensson 1984 auf der Konferenz
der World Federation for Mental Health (WFMH) überzeugend
ausführte, ist die Diskussion um einen kurz- oder langfristigen
von Neuroleptika trügerisch: »Die Erfahrung zeigt, dass,
wenn ein neuroleptisches Medikament einem jungen Menschen in einer
schizophrenen Krise zum ersten Male gegeben wird, er fast immer
fortfahren wird, das Medikament für lange Zeiträume
oder das ganze Leben zu erhalten.« (Martensson 1984) Der
zeitweise Gebrauch von Neuroleptika sei eine Falle: Er beraubt
den Menschen der Hoffnung und des Selbstvertrauens, eine Krise
auch ohne Drogen zu bewältigen, und bringt ihn auf den Weg
steigender Medikamentenabhängigkeit.
Über die gesetzmäßig auftretenden Schäden
der Neuroleptika liegt mit dem Buch »Der chemische Knebel«
(Lehmann 1986) eine umfangreiche Zusammenstellung von Berichten
über körperliche, geistige und psychische Neuroleptika-Auswirkungen
vor; das tatsächliche Vorliegen eines ernstzunehmenden Krebsrisikos
ist hier ebenso nachgewiesen wie die unter Neuroleptika signifikant
erhöhte Zahl von Chromosomenbrüchen und -rissen als
Ursachen von Missbildungen. Dass sich unter Neuroleptika dieselben
Missbildungen entwickeln wie unter Thalidomid (Contergan), belegt
eine Abbildung in Obstetrics and Gynecology: Eine
20jährige Frau war wegen Schwangerschaftserbrechen mit Chlorpromazin
behandelt worden; bei dem im 7. Schwangerschaftsmonat totgeborenen
Fötus (siehe Abbildung) wurde eine Ektromelie festgestellt,
es war nur ein Bein entwickelt (O'Leary / O'Leary 1964). Jede
psychiatrische Fachzeitschrift ist eine Sammlung von Dokumenten
über Neuroleptika-verursachte Schäden, handelt es sich
um harmlosen Haarwuchs auf der Zunge (Paganini / Zlotlow
1959) oder um Erweiterung des 3. Ventrikels (Tanaka u.a. 1981).
Und auch die offiziellen Herstellerinformationen nordamerikanischer
Pharmafirmen beinhalten zwecks Vermeidung von Regressansprüchen
die Warnung vor Neuroleptikaschäden wie Geschwulstbildung,
Parkinson-Erkrankung, dystonischer und dyskinetischer Krankheitssymptome,
Leberschädigung, Impotenz, Ausbleiben der Menstruation, Agranulozytose,
Haarausfall, Depression, Lethargie, Neuroleptisches Malignes Syndrom
und Sudden Death (McNeil Pharmaceutical 1988).
Über Langzeitschäden als Folge der Neuroleptika wird
zunehmend berichtet (Breggin 1984, Martensson 1984, Lehmann 1986,
McNeil Pharmaceutical 1988). Hervorzuheben ist dabei die tardive
Dyskinesie, die als irreversible Muskelerkrankung nach Schätzungen
des englischen Psychologen Hill weltweit in einer Größenzahl
von ca. 3O Millionen vorkommt (Hill, 1985, Lehmann / Hill 1988).
Besonders beängstigend sind hierbei die Untersuchungsergebnisse
einer Forschergruppe aus den U.S.A., nach denen Patienten und
Patientinnen, die unter Neuroleptika-bedingter tardiver Dyskinesie
litten, signifikant früher als Kontrollpatienten und -patientinnen
starben (Mehta / Mallya / Volavka 1978). Ob die bleibenden Schäden
auf Rezeptorenveränderungen (Mackay u.a. 1982), auf erhöhte
Phenantrolin-Kupfer-Konzentration (Pall u.a. 1987b), wie sie auch
bei nicht durch Neuroleptika verursachter Parkinson-Krankheit
auftritt (Pall u.a. 1987a), auf eine mit der Zeit sich potenzierende
und somit in der Schädlichkeit sich steigernde Wirkung (Kolata
1988) oder auf noch unbekannte oder verschwiegene Ursachen zurückzuführen
ist, dürfte hier für die Betroffenen von sekundärer
Bedeutung sein. An alarmierenden Obduktionsbefunden sind vor allem
atrophische Zustände des Gehirns, Schädigungen der Bauchspeicheldrüse,
des Herzmuskels, der Leber und Pigmentablagerungen in allen Organen
zu nennen (Lehmann 1986).
Einer lebhaften Diskussion um die Indikation der verschiedenen
Neuroleptika steht ein auffälliges Verschweigen der Abhängigkeits-
und Entzugserscheinungen gegenüber. Betroffene und ihre Angehörige
werden mit ihren Ängsten beim Absetzen alleine gelassen (Stöckle
1983); Berichte über verbessertes Abschneiden unter Placebos
(Quote der erneuten Psychiatrisierung: 18 %) versus Neuroleptika
(Quote der erneuten Psychiatrisierung: 73 %) (Perry 1977) werden
von Psychiatern ignoriert. Psychische Langzeitschäden wie
das bezeichnende »Syndrom der gebrochenen Feder« (Helmchen
/ Hippius 1964) finden weder in der psychiatrischen noch in der
öffentlichen Diskussion wesentliche Beachtung, ebenso Folgeschäden
wie Zahnausfall als Konsequenz Apathie-bedingter mangelnder Zahnhygiene
und Austrocknung der Mundschleimhäute (Rydgren 1976) oder
Oberschenkelhalsbrüche als Konsequenz Kreislaufschwäche-bedingter
Stürze (Ray u.a. 1987).
Katastrophal sind die unmittelbaren psychischen Auswirkungen
der Neuroleptika, seien diese Veränderungen nun vorübergehend
oder bleibend. Apathie und emotionale Vereisung, von Klein und
Mitarbeitern treffend als Neuroleptika-bedingtes »Zombie-Syndrom«
charakterisiert (Klein / Feldman / Honigfeld 1970, Klein / Rosen
/ Oaks 1973), drücken das subjektive Erleben des Zeitstillstandes
aus; physiologisch dürfte diesem Erleben die funktionelle
Blockade der Dopamin-Rezeptoren und der herabgesetzte Sauerstoffwechsel
im Gehirn zugrunde liegen. Den Berichten von Betroffenen (Stöckle
1983, Cierpka 1988) über diese depressiv machenden Neuroleptika-Wirkungen,
die nicht selten im Selbstmord enden (Lehmann 1986), entsprechen
die Erfahrungen, die von Psychiatern bei ihren vielfältigen
Selbstversuchen mit Neuroleptika gemacht wurden. Während
Ernst an einen hölzernen, niedergedrückten Greis denken
lässt, der stimmungsmäßig mit seinem Leben bereits
abgeschlossen hat (Ernst 1954), stellen Heimann und Witt ebenfalls
nach Selbstversuchen das quälende Erlebnis in den Vordergrund,
»dass man überhaupt so elend und preisgegeben sein kann,
so leer und überflüssig, weder von Wünschen noch
anderem erfüllt ... Das Erlebnis eines ganz passiven Existierens
bei klarer Kenntnis der sonstigen Möglichkeiten« (Heimann
/ Witt 1955) ist auch bei Betroffenen oft genug die Erfahrung,
die sie Folge der Neuroleptika-Behandlung in den
Tod treibt.
3. Diskussion über Schäden und Nutzen von Neuroleptika
Stimmen gegen den Einsatz von Neuroleptika im Bereich de rSchmerzlinderung
wurden bisher noch nicht laut, handelt es sich zudem um kleinste
Dosen, die zeitlich eng begrenzt, unter strenger ärztlicher
Aufsicht und unter Vorhandensein von notfallmedizinischen Einrichtungen
verabreicht werden. Inwieweit Tierschutzverbände den Einsatz
von Neuroleptika zu Beruhigungszwecken artwidrig gehaltener Tiere
kritisieren, wird zu prüfen sein. Dass politische Zwecke
(etwa bei Foltermaßnahmen), Profitgründe oder aber
der Erhalt von Arbeitsplätzen in der Chemieindustrie kaum
ausreichende Beweggründe für den Einsatz von Neuroleptika
gar im psychiatrischen Bereich liefern können,
sollte unter demokratisch gesonnenen Menschen unstreitig sein.
Dass die Bewertung der psychiatrischen Neuroleptika-Behandlung
nicht von der Tatsache abhängt, ob der bzw. die Wertende
Anwender oder Objekt der Behandlung ist, zeigen die Veröffentlichungen
kritischer Professioneller (Szasz 1980, Breggin 1984, Martensson
1984, Hill 1985, Mazenauer 1986, Szasz 1987), deren Standpunkt
an der Wahrung der Menschenrechte und an den existentiellen Interessen
der Betroffenen orientiert ist; neben dem Erhalt der körperlichen
und geistigen Fähigkeiten stehen hier eine unabhängige
Lebensführung, Kreativität und Erlernen einer Verarbeitung
emotionaler Konflikte im Vordergrund. Martensson schließt
aufgrund der Einwirkung der Neuroleptika auf das limbische System
eine Psychotherapie unter Neuroleptika aus (Martensson 1984).
Ähnliche Erfahrungen machten Anwender körperorientierter
Therapien (Matussek 1979). Dies ist bei vernünftiger Betrachtung
wenig verwunderlich, gelten andere psychotrope Substanzen wie
z.B. Marihuana, Alkohol oder Heroin bei Psychotherapien ebenfalls
als kontraindiziert. Wenn selbst schon unter Laien bekannt ist,
dass soziale und psychische Probleme mit Drogen wie Heroin, Kokain,
Alkohol oder Barbituraten nicht zu lösen sind, so erhebt
sich an dieser Stelle die Frage, welchen vernünftigen Grund
es geben sollte, angesichts der beschriebenen Wirkungen ausgerechnet
Neuroleptika einen problemlösenden Effekt zuzuschreiben.
In keinem Gegensatz zu diesen Aussagen steht die Tatsache, dass
wie mithilfe anderer Drogen auch kurz- und mittelfristige
Anpassungsleistungen unter Neuroleptika durchaus anzutreffen sind,
worüber die psychiatrische Literatur in großem Umfang
berichtet allerdings, wie wir gesehen haben, werden diese
Anpassungsleistungen erzielt unter Preisgabe der körperlichen
Gesundheit, verbunden mit der (mit dem Begriff des »chemischen
Knebels« beschriebenen) Unterdrückung existentieller
Gefühle, Ängste und Wünsche, der unterbundenen
psychischen Entwicklung, der erhöhten Repsychiatrisierungsgefahr
(»Drehtürpsychiatrie«) und der verhinderten sozialen
Auseinandersetzung. Erfolgt nicht bald ein Umdenken in der Neuroleptika-Frage,
besteht die Gefahr, dass in einem Jahrzehnt kritische Veröffentlichungen
über die Gleichgültigkeit erscheinen werden, mit der
Neuroleptika-Anwender der offensichtlichen Schädlichkeit
ihres eigenen Tuns gegenüberstehen Veröffentlichungen,
wie sie bereits über Lobotomie (Valenstein 1986) und Elektroschock
(Breggin 1980) vorliegen, den unmittelbaren Vorgängern der
Neuroleptika.
Neben den massiven körperlichen, geistigen und psychischen
Schäden dürfte die Unterschlagung echter Hilfeleistung
durch den Hilfe vorgebenden Einsatz von psychiatrischen
Psychopharmaka den größten Schaden für die Betroffenen
darstellen. Angesichts der massiven Schäden, die Neuroleptika
verursachen, liegt die Forderung nach Verbot dieser neurotoxischen
Stoffe nahe. Dadurch würde der Blick auf tatsächlich
notwendige Hilfseinrichtungen frei, der bisher noch durch die
gefährliche Illusion verstellt ist, psychische und soziale
Probleme mit chemischen Psychodrogen lösen zu können.
Aktive Psychiatrie-Betroffene fordern schon lange eine schrittweise
Umwidmung der Finanzmittel, um im Interesse aller Betroffenen
selbstverwalteten Wohnraum, selbstverwaltete Arbeitskooperativen,
repressionsfreie Therapieeinrichtungen und Kommunikationszentren
zu schaffen (Lehmann 1986, Anhang B). Erinnert werden soll zuletzt
an die Tatsache, dass die psychiatrisch Tätigen durch die
Arbeit mit Neuroleptika auch keine Befriedigung erlangen; wie
anders ist sonst ihr Unglück zu erklären, das sich in
der höchsten Selbstmordrate unter allen Berufsgruppen (Blachly
/ Disher / Roduner 1968) niederschlägt?
Literatur
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rise and decline of psychosurgery and other radical treatments
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Copyright by Peter Lehmann 1988
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