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des Antipsychiatrieverlags
in: Peter Lehmann: Schöne neue Psychiatrie, Band 2:
Wie
Psychopharmaka den Körper verändern, Antipsychiatrieverlag
Berlin 1996, S. 92-96 / eBook 2022
Zusätzliche Elektroschocks nach lebensbedrohlichen
Neuroleptika-Auswirkungen wie febriler Hyperthermie und Malignem
Neuroleptischem Syndrom
Dass es sich hier (gemeint: dem sog. katatonen Dilemma, P.L.)
nicht um belanglose theoretische Probleme handelt, zeigen Versuche
von Psychiatern wie Folkerts (447), in dieser Situation
ausgerechnet die Verabreichung von Elektroschocks mit ihren (zusätzlich
zu den Hirnschädigungen) zu erwartenden extremen vegetativen
Belastungen für den Organismus nahezulegen. Während
die Betroffenen an der Schwelle zum Tod stehen, stehen Psychiater,
festgelegt durch ihre Lehrmeinung, vor dem erwähnten Problem,
dem »katatonen Dilemma« (164): eine zu niedrige
oder unterbrochene Neuroleptikadosierung bei Febriler Katatonie
könne ebenso schnell zum Tod führen wie die Fortsetzung
dieser Behandlung beim Malignen Neuroleptischen Syndrom. Während
nun die einen Psychiater aufgrund der Ähnlichkeit von jeweils
tödlich verlaufendem Malignem Neuroleptischem Syndrom und
neuroleptikabedingter Febriler Katatonie meinen, beide Erkrankungsformen
repräsentierten ein Spektrum sich entwickelnder schwerer
extrapyramidaler Reaktionen (1601), behaupten andere schlicht,
Malignes Neuroleptisches Syndrom und Febrile Katatonie seien lediglich
Symptome der Schizophrenie (15). Mit diesem
immer wieder wirksamen Mittel, jedwedes Problem der Diagnose Schizophrenie
in die Schuhe zu schieben, empfehlen sie angesichts des katatonen
Dilemmas als einfaches Problemlösemittel den bewährten
Elektroschock. Wo manch ein Psychiater Skrupel äußern
könnte, wenn mit Neuroleptika unter dem Bild des Malignen
Neuroleptischen Syndroms eben diejenigen Kernsymptome (Hyperthermie
und Spannungserhöhung der Skelettmuskulatur) erzeugt werden,
zu deren Behandlung sie bei der Akuten Febrilen Katatonie eingesetzt
werden sollen, und deshalb möglicherweise eher Zurückhaltung
im Behandlungsdrang fordern, sehen sich andere, wie beispielsweise
Ernst Renfordt von der Universitätsanstalt Berlin, in ihrem
Wunsch nach unbegrenzter Behandlungsvielfalt bestärkt:
Dieses therapeutische »Katatonie-Dilemma«
hat die Frage aufgeworfen, ob eine neuroleptische Behandlung der AFK (Akuten
Febrilen Katatonie) eine perniziös-katatone Entgleisung nicht sogar fördern
könne. Beide Gesichtspunkte lassen es angezeigt erscheinen, die Indikation
zu einer Elektrokrampfbehandlung (EKT) zu stellen... (1245:153)
Tatsächlich
warnten Mediziner wie z.B. Tornatore und Kollegen, der Einsatz von Elektroschocks
sei »... angesichts der schwerwiegenden körperlichen Funktionsstörungen
sehr kritisch zu betrachten...« (1526:39) Wie die Schädigungen
den sich abzeichnenden besonderen Risiken entsprechen, geht aus Berichten über
den Elektroschockeinsatz in Notfallsituationen der Akuten Febrilen Katatonie hervor,
die durch Neuroleptika heraufbeschworen wurden. So beschrieben beispielsweise
L. Hermle und G. Oepen von der Universitätsanstalt Freiburg eine Episode
im Leben der 19jährigen Frau B., die schon mit neun Jahren aufgefallen und
psychiatrischer Behandlung ausgesetzt worden war. Mit der Zeit bereitete die junge
Frau ihrer Umwelt immer mehr Probleme, bis sie am 21. Juli 1984 von der Polizei
in die Anstalt gebracht, dort ans Bett geschnallt und gleichzeitig mit Promazin,
Levomepromazin, Haloperidol und Clopenthixen behandelt wurde. In ihrem ausführlichen
Fallbeispiel schilderten die Psychiater, wie Frau B. nach sechs Tagen Neuroleptikabehandlung
an Febriler Katatonie erkrankte:
Am 27.7.1984 Umschlag in ein stuporöses
Bild mit Verweigerung der Nahrung, Enuresis (Einnässen) und Enkopresis
(Kotschmieren). Starke Verlangsamung, auf Ansprache wurden nur noch einfache
Aufforderungen wie Mundöffnen und Augenschließen befolgt. Seit dem
1.8.1984 Fieber (39°C rektal), Leukozytose (krankhafte Vermehrung der
weißen Blutkörperchen) von 11200; BSG (Blutsenkungsgeschwindigkeit)
25/51; daraufhin Infusionstherapie und Antibiotikagabe. EKG: Sinustachykardie
mit einfacher AV-Dissoziation (spezielle Form von Herzjagen). Haloperidol
i.m. auf 2 x 5 mg pro die (Tag) reduziert. Seit dem 3.8.1984 Zunahme des
Stupors mit deutlicher allgemeiner Tonusvermehrung der Muskulatur, Speichelfluss,
völlige Nahrungs- und Flüssigkeitsverweigerung. Bei verwaschener Sprache
ließen sich andeutungsweise akustische Halluzinationen und Verfolgungsideen
eruieren. Sonst neurologisch regelrechter Befund. Die Lumbalpunktion (Entnahme
von Rückenmarksflüssigkeit) am 6.8.1984 ergab 2/3 Zellen, 16 mg/ml
Eiweiß. Die IgC-Fraktion und die übrigen Eiweißfraktionen waren
gleichfalls unauffällig. Aufgrund dieser Befundkonstellation wurde die Diagnose
einer »perniziösen Katatonie« gestellt, die neuroleptische Medikation
von Haloperidol auf Benperidol (3 x 6 mg i.v.) umgestellt. Auf Wadenwickel und
Antibiotikagabe erfolgte keine Entfieberung; wegen zunehmendem Stupor mit Katalepsie,
Nahrungsverweigerung, fast völligem Mutismus und schwerer Dysphagie wurde
sie am 9.8.1984 auf die Intensivstation des Kreiskrankenhauses zur geplanten EKT-Behandlung
verlegt. (658:190)
Von der dort vollzogenen Behandlung
(Benperidol und zusätzlich zwölf Elektroschocks) erholte sich die Frau
im weiteren Verlauf nur wenig, auch wenn in diesen drei neuen Behandlungswochen
das Neuroleptikum abgesetzt, gegen die ausgeprägten motorischen Störungen
Antiparkinsonmittel und zur Beruhigung Tranquilizer gegeben wurden. Laut Bericht
der Psychiater kam es zu einer speziellen Gehirnerkrankung, der ideatorischen
Apraxie, was die Unfähigkeit zu zweckmäßigem Handeln trotz erhaltener
Wahrnehmungs- und Bewegungsfähigkeit meint. Es
... bestand für
einfache motorische Handlungsabläufe (z.B. Geschirrwaschen, Bettenmachen,
Zigarettenanzünden) eine erhebliche Störung im Sinne einer ideatorischen
Apraxie. Die Erinnerungs- und Merkfähigkeit war in Verbindung mit der erheblichen
Intelligenz- und Konzentrationsstörung schwer gestört. (658:190f.)
Der geschilderte Behandlungsverlauf galt den berichtenden Psychiatern
als Stabilisierung des psychischen Zustands. Sie lobten:
Der psychische
Zustand besserte sich während der ersten drei Behandlungswochen eindrucksvoll
und kontinuierlich. B. wurde zunehmend lebhafter und aktiver und fügte sich
besser in das Stationsleben ein. In der Beschäftigungstherapie war sie nur
in der Lage, einfachste Arbeiten durchzuführen. Versuche, sie in der Gärtnerei,
in der Bügelstube und beim Küchendienst, an einfachste lebenspraktische
Tätigkeiten heranzuführen, schlugen alle fehl. (658:190)
Die
psychiatrische Leidensgeschichte von Frau B. verdeutlicht dreierlei. 1. Der Charakter
psychiatrischer Praxis wird deutlich, wenn der Zustand der jungen Frau
intellektueller Abbau und Fähigkeit nur noch zur primitivsten Arbeiten
als Besserung bewertet wird. 2. Die Geschichte zeigt beispielhaft, wie in der
Psychiatrie Menschen zu chronisch Behinderten gemacht werden können, und
sie zeigt insbesondere, wie Hirnkrankheiten (wie die Perniziöse Katatonie)
produziert oder psychische Probleme durch abstruse Behandlungsformen zur Eskalation
gebracht werden, wobei der gequälte Zustand der Betroffenen schließlich
noch als Rechtfertigung für Elektroschocks herhalten muss. 3. Es wird deutlich,
wie wenig Psychiater von einfachen medizinischen Behandlungsmitteln wie dem Spasmolytikum
Dantrolen (1439), einem krampflösenden Mittel, Gebrauch machen, das
überall in der Fachliteratur als das Mittel zur Behandlung der Febrilen Katatonie
beschrieben wird, eventuell in Kombination mit Elektrolytzufuhr und nicht
nur das: auch zur Behandlung vom Malignen Neuroleptischen Syndrom und von Maligner
Hyperthermie gilt es als relativ komplikationsloses Therapeutikum (167;1245).
Für alle drei Krankheitsbilder ist ein Ansprechen auf das periphere
Muskelrelaxans (Mittel, das die Nervenimpulsübertragung im Bewegungsapparat
blockiert) Dantrolen beschrieben... (1346:100)
äußerte beispielsweise C. Linge von der Abteilung für Anästhesie
und operative Intensivmedizin am Knappschaftskrankenhaus Bochum-Langendreer gemeinsam
mit zwei psychiatrisch Tätigen 1988 in ihrem Aufsatz »Zur Differentialdiagnostik
der Malignen Hyperthermie, der febrilen Katatonie und des neuroleptischen malignen
Syndroms«. Wenn Psychiater die Anwendung von Medikamenten wie z.B. Dantrolen
nicht einmal in Erwägung ziehen, kann dies auch darin begründet liegen,
dass sie gerade an Universitätsanstalten immer wieder Patientinnen
und Patienten brauchen, an denen sie zu Lehrzwecken Elektroschocks vollziehen
können. Außerdem benötigen sie die Febrile Katatonie als wichtigen
Baustein ihrer Legitimation von Elektroschocks: angeblich nur diese brachiale
Behandlungsform überwinde das tödliche Risiko der Febrilen Katatonie.
Da sie in ihren Fachschriften zugeben, die Behandlung der Febrilen Katatonie sei
unbemerkt von der eigenen Kollegenschaft längst in die Fachbereiche
der Inneren Medizin, der Neurologie und der Anästhesiologie übergegangen,
vergleichbar mit schweren Alkoholdeliren und Vergiftungszuständen (593;1346),
drängt sich der sicherste Weg zur Lösung des katatonen Dilemmas geradezu
auf: Vermeiden und Ablehnen von neuroleptischer Behandlung und Elektroschocks
sowie Bestehen auf ordentlicher ärztlicher Behandlung, sofern notwendig.
Das
Schicksal von Frau B. ist kein Einzelfall. Von Elektroschockeinsätzen gegen
einen Patienten, der nach einwöchiger Verabreichung von Haloperidol und Antiparkinsonmitteln
in einen Zustand der wächsernen Muskelstarre geraten war, verbunden mit Schweißausbrüchen,
Erhöhung von Körpertemperatur und Blutdruck sowie Verstummen, berichteten
z.B. der Kardiologe Joseph Alpert mit Psychiatern der Harvard Medical School in
Boston
(1232). In diesem Fall hatte man sich für die Diagnose »Akute
Febrile Katatonie« entschieden, obwohl es sich wahrscheinlich um ein Malignes
Neuroleptisches Syndrom handelte: wegen der wächsernen Starre, dem diagnostisch
einfachsten Unterscheidungssymptom, was aber, so Hermle und Oepen, unter Psychiatern
in Vergessenheit geraten sei
(658). Nichtsdestotrotz, man behandelte den
Patienten, einen 22jährigen Studenten, zuerst einmal mit Chlorpromazin weiter,
obwohl er bereits Herzrasen und eine Lungenembolie entwickelt hatte, und setzte
ihn dann einer Serie von sechs Elektroschocks aus. Darauf geriet er in einen komatösen
Dauerzustand, aus dem er, als mit der Verlegung in ein Pflegeheim nach sieben
Monaten das Interesse von Alpert & Co. anscheinend endete, immer noch nicht
erwacht war
(1232).
Quellen siehe:
Peter
Lehmann: Schöne neue Psychiatrie, Band 2: Wie Psychopharmaka
den Körper verändern, Antipsychiatrieverlag, Berlin
1996 / E-Book 2022