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                des Antipsychiatrieverlags
 
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              in: 
Kerstin 
              Kempker & Peter Lehmann (Hg.): Statt Psychiatrie, Berlin: 
              Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag 1993, S. 60-67 
              
              Seth 
                Farber
              Wenn der Kinderpsychiater kommt ...
              Verriegeln Sie die Tür! Verstecken Sie sich! Flüchten 
                Sie! Leisten Sie Widerstand! Tun Sie es Ihren Kindern zuliebe. 
                Ihr Kind ist in Gefahr, denn es besteht die Möglichkeit, 
                dass seine körperliche Gesundheit geschädigt und sein 
                Bewusstsein zerstört wird.
              (Kinder-)Psychiater machen sich kaum die Mühe, mit Kindern 
                zu sprechen, zu spielen oder zu malen, um ihnen zu helfen, sich 
                von lästigen Verhaltensweisen und Gefühlen zu befreien. 
                Kinderpsychiater sind naturwissenschaftlich ausgebildete Mediziner, 
                die gelernt haben, psychologische Probleme vorrangig auf Stoffwechsel- 
                oder andere organische Störungen zurückzuführen 
                und entsprechend mit körperlichen Behandlungsformen, speziell 
                Psychopharmaka, zu bekämpfen. Dabei muss es nicht speziell 
                ein sogenannter 'Facharzt für Psychiatrie' sein, der Ihrem 
                Kind die primär körperlich wirkenden Psychopharmaka 
                verabreicht; in aller Regel ist es Ihr Haus- oder Kinderarzt, 
                der die 'kleine Psychiatrie' betreibt und Sie und Ihr Kind aus 
                seinem Behandlungszimmer entlässt: mit jovialem Lächeln 
                und einem »Dies geben Sie Ihrem Kind drei Mal täglich, 
                das wird seine Probleme beseitigen.«
              BeraterInnen, die wirklich an der Überwindung von Schwierigkeiten 
                interessiert sind, unter denen Ihr Kind leidet, würde familientherapeutische 
                Methoden anwenden und das Kind im familiären Zusammenhang 
                betrachten, um die Dynamik der innerfamiliären Beziehungen 
                offenzulegen und gegebenenfalls zu verändern. Sie würden 
                aber alle gegen das Kind gerichteten Zwangsmaßnahmen ablehnen 
                und weder das Kind zum Sündenbock machen und stigmatisieren, 
                noch sein Verhalten mit angeblichen individuellen Defiziten begründen.
              Ein Psychiater kann heutzutage kaum den Anspruch erheben, ein 
                Berater zu sein. Er hat keine Zeit für Therapie; er hat keine 
                Zeit, mit Ihrem Kind über dessen Probleme zu sprechen. Gleichzeitig 
                gibt er selbstverständlich vor, zum Wohle des Kindes zu handeln 
                und ihm zu helfen. Er wird Ihnen weismachen wollen, dass aufgrund 
                seines 'Fachwissens' einzig und alleine er qualifiziert sei, mit 
                modernsten 'wissenschaftlichen' Methoden zur Entwicklung Ihres 
                Kindes beizutragen. Das ist reine Propaganda.
              Der typische Kinderpsychiater ist ein Agent sozialer Kontrolle 
                und ein staatlich lizenzierter Drogenhändler. Nach einem 
                Entscheid der American Psychiatric Association (Standesorganisation 
                der US-amerikanischen Psychiater), größere finanzielle 
                Zuwendungen von seiten der Pharmakonzerne anzunehmen, vermehrte 
                sich der Reichtum der amerikanischen Psychiatrie Ende der 70er 
                und Anfang der 80er Jahre auf wundersame Art und Weise. Wir haben 
                daher einen ganzen Industriekomplex, der ein nachvollziehbares 
                Interesse daran hat, soziale Probleme als medizinische 'Syndrome' 
                (Komplexe von 'Krankheitssymptomen') zu definieren, und 
                diese können dann mit 'angemessener Medikation behandelt' 
                werden.
              Jay Haley, einer der Pioniere der Familientherapie, unterscheidet 
                in seinem Buch »Leaving Home« (1980; »Von zuhause 
                weglaufen«) einen Therapeuten von einem Sozialkontrolleur:
               
                »Ziel eines Therapeuten ist es, Menschen die vielfältigen 
                  Möglichkeiten des Lebens zu erschließen, indem er 
                  ständig wiederkehrende Verhaltensmuster aufbricht und neue 
                  Alternativen aufzeigt. Er will eine Problemperson nicht einfach 
                  anpassen, sondern ihr Mittel geben, die sie zur Entwicklung 
                  neuer Ideen und Handlungsweisen befähigen, auch solcher, 
                  die der Therapeut selbst nicht in Betracht gezogen hat. So gesehen 
                  unterstützt ein Therapeut Unberechenbarkeit. Seine Aufgabe 
                  ist es, Veränderung herbeizuführen und somit auch 
                  neues, oftmals nicht vorhersehbares Verhalten. 
                Der Agent sozialer Kontrolle hat ein genau entgegengesetztes 
                  Ziel. Seine Aufgabe ist es, Menschen im Sinne der Gemeinschaft 
                  zu stabilisieren; infolgedessen versucht er, Unberechenbarkeit 
                  zu vermindern. Er möchte, dass sich Menschen mit Problemen 
                  anständig benehmen, wie die anderen in der Gemeinschaft 
                  auch, damit sich niemand über sie aufregen muss. Es sind 
                  nicht Veränderung und neues Verhalten, was er anstrebt, 
                  sondern vielmehr Beständigkeit und Vermeidung von Beanstandungen.« 
                  (S. 54f.)
              
              Auf ähnliche Art können wir einen Erzieher von einem 
                Agenten sozialer Kontrolle unterscheiden. In den US-amerikanischen 
                Schulen (und sicher nicht nur in diesen) wird den Kindern heutzutage 
                kaum beigebracht zu lernen. Man lehrt sie, Regeln zu befolgen 
                und zu gehorchen. Sie werden darauf abgerichtet, sich in unserer 
                Gesellschaft wie Roboter an einem Fließband zu verhalten. 
                Jeder kreative Gedanke, jede Eigeninitiative und Unangepasstheit 
                ist eine Bedrohung der Ordnung, die es mit allen denkbaren Mitteln 
                zu unterdrücken gilt.
              Der Journalist Peter Schrag und seine Kollegin Diane Divoky schreiben 
                1975 in ihrem Buch »The Myth of the Hyperactive Child« 
                 (»Der Mythos vom hyperaktiven Kind«), psychiatrisch 
                Tätige verkündeten
              »... eine Ideologie der 'frühen Intervention' 
                und 'Behandlung', die sich immer mehr verbreitet und im wesentlichen 
                sozialer Kontrolle dient. Diese Ideologie (...) durchdringt alle 
                wichtigen Institutionen, die mit jungen Menschen zu tun haben: 
                Schulen, Einrichtungen der Bewährungshilfe, Kliniken, die 
                Bundesregierung sowie den wachsenden Wissenschafts- und Verwaltungskomplex, 
                der die Erforschung der wuchernden 'Störungen' und 'Syndrome' 
                der Unangepasstheit leitet.« (S. XIV)
              Dies wurde vor über 15 Jahren verfasst; die Situtation ist 
                inzwischen nicht besser geworden, im Gegenteil.
              Der typische Kinderpsychiater ist ein guter Agent sozialer Kontrolle. 
                Er oder sie wird bezahlt, um folgendes zu schaffen: soziale Stabilität 
                und unauffällige Bürger. Er dient nicht Ihrem Kind, 
                sondern dem Apparat, der Bürokratie, die ihn beschäftigt 
                und deren einziges wirkliches Ziel es ist, sich selbst zu erhalten 
                und zu vergrößern  koste es, was es wolle. Und 
                wenn der Preis dafür die Gesundheit, die Sicherheit, die 
                Geborgenheit, die Selbstachtung, das Glück und die intellektuelle 
                Entwicklung Ihres Kindes ist, dann soll das eben so sein. Es lebe 
                der Apparat!
              Nur etwas ist bedrohlich: dass jemand Argwohn entwickelt, wenn 
                die aktiven, intellektuell aufgeweckten ErstklässlerInnen, 
                die mit der Schule schlecht zurechtkommen, zu pseudowissenschaftlichen 
                psychologischen Tests herangezogen werden und bescheinigt bekommen, 
                dass sie an 'Aufmerksamkeitsstörungen', 
                'minimalen Hirnschäden' und ähnlichen Syndromen leiden 
                (1). Bedrohlich ist nur, 
                dass jemand auf den Gedanken kommen könnte, dies alles diene 
                nicht dem Wohl der Kinder. Vielleicht entstünde aus diesem 
                Argwohn die Forderung nach strukturellen Reformen innerhalb des 
                Erziehungssystems, und Kinder würden dann nicht mehr für 
                das Versagen von Erwachsenen verantwortlich gemacht. Das könnte 
                dem Agenten sozialer Kontrolle ernsthafte Probleme bereiten. Natürlich 
                gibt es noch viele andere Bedingungen, die Ihr Kind an der freien 
                Entfaltung seiner Persönlichkeit hindern, seien es Armut, 
                Diskriminierung aufgrund irgendeiner Andersartigkeit, kinderfeindliche 
                Wohnsituation, innerfamiliäre Spannungen usw. usf. Im folgenden 
                konzentriere ich mich jedoch auf die Schule, da hier der wahrscheinlichste 
                Berührungspunkt mit der Kinderpsychiatrie auszumachen ist.
              Einer der stärksten modernen Kritiker unseres Erziehungssystems, 
                der Lehrer John Gatto, arbeitete mehr als 26 Jahre an einer Schule. 
                In seinem Buch »Dumbing us Down« (1992; »Wie 
                man uns zum Schweigen bringt«) schreibt er:
              »Das monopolisierte Schulwesen ist die wichtigste 
                Bildungseinrichtung unserer Massengesellschaft, die Experten mit 
                ihren Statusprivilegien permanent bestätigt, ohne dass dies 
                aufgrund der Ergebnisse, die sie erzielen, gerechtfertigt wäre. 
                Weil niemand, der diese Privilegien erst einmal erlangt hat, freiwillig 
                auf sie verzichten will, schuf man bombastische und unreformierbare 
                Systeme von Privilegien.« (S. 100)
              Auf einer öffentlichen Rede äußerte John Gatto 
                kürzlich:
               
                »Ich habe 26 Jahre an einer öffentlichen Schule unterrichtet, 
                  aber ich kann das nicht mehr machen. Jahrelang bat ich die örtliche 
                  Schulbehörde und den zuständigen Schulrat, einen Lehrplan 
                  zu bewilligen, der die Kinder nicht verletzt, aber es gab Wichtigeres 
                  zu tun. Also werde ich wohl den Dienst quittieren. 
                Mir ist langsam klar geworden, woraus mein Lehrplan tatsächlich 
                  besteht: aus Durcheinanderbringen, Rangordnung, Willkür, 
                  Geschmacklosigkeit, Grobheit, Missachtung der Privatsphäre, 
                  völliger Abhängigkeit und Gleichgültigkeit. Ich 
                  lehre, in einer Welt zurechtzukommen, in der ich selbst nicht 
                  leben will.
              
              Ich kann das einfach nicht mehr. Ich kann Kinder nicht 
                trimmen, darauf zu warten, dass sie gesagt bekommen, was sie tun 
                sollen; ich kann Menschen nicht abrichten, dass sie alles stehen 
                und liegen lassen sollen, wenn eine Klingel ertönt; ich kann 
                Kinder nicht davon überzeugen, die Rangordnung in der Klasse 
                habe etwas mit Gerechtigkeit zu tun, weil es einfach nicht stimmt; 
                und ich kann Kindern nicht weismachen, ein Lehrer besitze wertvolle 
                Geheimnisse, die sie dadurch erwerben können, dass sie folgsam 
                sind. Das ist nicht wahr.«
              Hätten wir mehr ErzieherInnen wie John Gatto und mehr RatgeberInnen 
                wie Jay Haley, die ihren SchülerInnen und KlientInnen Initiative 
                lassen, statt demütige Unterwerfung unter standardisierte 
                Routine zu fordern, dann könnten wir die Kinder das Lernen 
                lehren. Wir könnten sie dazu bewegen, sich auf das Lernen 
                einzulassen. Sie würden vielleicht sogar still sitzen, ohne 
                durch Amphetamine  (Aufputschmittel, die bei Kindern in der 
                Regel paradox, d.h. dämpfend wirken)  ruhiggestellt zu 
                sein. Aber wenn wir das erreichen wollten, müssten wir das 
                Konzept des Einheitslehrplans vollständig verabschieden. 
                Wir müssten unsere Lehrmethoden auf die Bedürfnisse 
                des einzelnen Kindes zuschneiden. Wir müssten dafür 
                sorgen, dass man Abweichung nicht mehr als psychische Krankheit 
                definiert. Wir müssten aufhören, einem Kind, das nicht 
                in die Denkschublade des Experten passen will, einen genetischen 
                Defekt anzudichten.
              John Gatto ist der Meinung, dass es lernbehinderte Kinder praktisch 
                nicht gibt:
              »Lesen lernt David mit vier Jahren, Rachel mit 
                neun. Bei einer normalen Entwicklung können Sie, wenn beide 
                13 sind, nicht mehr feststellen, wer es zuerst gelernt hat  
                die Streuung von fünf Jahren ist ohne jede Bedeutung. In 
                der Schule werde ich jedoch Rachel als 'lernbehindert' einstufen 
                und David ein wenig bremsen... In den 26 Jahren meiner Lehrertätigkeit 
                hatte ich es mit Kindern armer und reicher Eltern zu tun; dabei 
                ist mir so gut wie nie ein 'lernbehindertes' Kind begegnet, ebensowenig 
                wie ein 'talentiertes' oder 'hochbegabtes'. Wie alle schulischen 
                Kategorien sind auch dies heilige Mythen, die allein der menschlichen 
                Einbildungskraft entspringen. Sie gehen auf fragwürdige Werte 
                zurück, deren Gültigkeit wir aber niemals prüfen, 
                weil sie den heiligen Tempel der Schulbildung bewahren.«
              Das ist die wahre Bedeutung von Short-Answer-Tests  (Tests 
                mit kurzen Antworten, ähnlich den Multiple-Choice-Tests), 
                Schulklingeln, einheitlichen Zeitblöcken, der Einstufung 
                nach dem Alter, der Standardisierung und all der anderen Dinge, 
                die zu den Glaubensinsignien des Schulwesens gehören...
              Eine Durchsicht der Studien, die von VerfechterInnen des Konzepts 
                der 'Aufmerksamkeitsstörung' und des 'minimalen Hirnschadens' 
                durchgeführt wurden, führt ironischerweise zur selben 
                Schlussfolgerung. Laut diesen Untersuchungen leiden Kinder, von 
                denen man sagt, ihre Gehirne hätten Fehlfunktionen, tatsächlich 
                an keiner wie auch immer gearteten Störung! Den Leserinnen 
                und Lesern empfehle ich den exzellenten Artikel »Attention-Deficit 
                Disorder: The Emperor's Clothes«  (»Aufmerksamkeitsstörung: 
                Des Kaisers Kleider«) von Diane McGuinness (1990). Eine 
                Untersuchung nach der anderen hat gezeigt, dass Kinder mit angeblichen 
                Aufmerksamkeitsstörungen ('ADD-Kinder') bei den verschiedenen 
                Testaufgaben Ergebnisse erzielten, die mit denen der Kontrollgruppen 
                'normaler' Kinder vergleichbar sind. Diane McGuinness verweist 
                insbesondere auf zahlreiche Studien, in denen eine bestimmte experimentelle 
                Variable gemessen wurde:
              »Auch Untersuchungen, bei denen anhaltende Aufmerksamkeit 
                für eine Problemlösungsaufgabe gefordert war, ergaben 
                keinerlei Unterschiede zwischen ADD-Kindern und den Kontrollgruppen, 
                was nicht nur zeigt, dass es diesen Kindern nicht an der Fähigkeit 
                mangelt, ihre Aufmerksamkeit zu steuern; es beweist auch, dass 
                sie ebenso wie andere Kinder komplexe kognitive  (die Erkenntnisfähigkeit 
                betreffende) Problemstellungen bewältigen können.« 
                (S. 169)
              In einem Bereich unterschieden sich 'ADD-Kinder' tatsächlich 
                von 'normalen', und zwar in ihrer Bereitschaft, sich mit langweiligen, 
                eintönigen Aufgaben zu befassen. Diese Verweigerung beruht 
                jedoch nicht auf einer Behinderung; dies wurde dadurch belegt, 
                dass die 'ADD-Kinder' genauso erfolgreich waren wie die Kontrollgruppe, 
                wenn sie für korrekte Antworten eine finanzielle Belohnung 
                erhielten.
              Die Untersuchungen erbrachten auch keinerlei Anhaltspunkte dafür, 
                dass die Verabreichung von Amphetaminen (wie z.B. Metylphenidat 
                [Ritalin]) in irgendeiner Weise zur Steigerung der Motivation 
                führt, dem Unterricht zu folgen oder die schulischen Leistungen 
                zu steigern. Die Sache ist die, dass viele Kinder trotz ihrer 
                Lernfähigkeit in diesem Erziehungssystem nichts lernen, und 
                wenn man sie zwingt, gefährliche toxische  (giftige)  
                Drogen zu schlucken, dann ist das kein Ausweg aus dieser unglücklichen 
                Situation. Kinder wollen die Medikamente nicht; und die meisten 
                bitten vor Ablauf des ersten Jahres inständig, sie abzusetzen. 
                Normalerweise müssen die Kinder diese Psychopharmaka mindestens 
                fünf Jahre lang einnehmen. Diane McGuinness schreibt dazu:
              »Im allgemeinen zeigen Untersuchungen, dass Kinder 
                unter medikamentöser Langzeitbehandlung Minderwertigkeitsgefühle 
                und einen extremen Mangel an Selbstachtung aufweisen, was auch 
                durch Folgestudien belegt ist.« (S. 179f.)
              Außerdem können diese Psychopharmaka eine psychische 
                Abhängigkeit bewirken, psychische Auffälligkeit verstärken, 
                das Wachstum hemmen und Körpergewichtsstörungen verursachen.
              Zusammenfassend lässt sich über die Situation in den 
                USA folgendes sagen: Millionen von Kindern, die in der Schule 
                nicht zurechtkommen, werden zu Sündenböcken erklärt 
                und unter dem Vorwand, sie zu 'behandeln', psychologisch und pharmakologisch 
                missbraucht. Man tut dies trotz der vorhandenen umfassenden Nachweise, 
                dass die Gruppe der 'lerngestörten' Kinder über dieselben 
                intellektuellen Fähigkeiten verfügt wie die Normalbevölkerung. 
                Darüber hinaus geschieht nichts, um die Bedingungen zu ändern, 
                die dazu führen, dass diese Kinder in der Schule nicht zurechtkommen. 
                In Staaten mit gleichen oder ähnlichen Ausgangsbedingungen 
                dürfte die Situation nicht viel anders sein. Natürlich 
                stellen sich die Probleme von Kindern in den USA in spezifischer 
                Weise dar, speziell in den Ghettos der sozial Schwächsten. 
                Im Prinzip unterscheiden sie sich jedoch nicht von denen in anderen 
                Staaten, wo ebenfalls Kinder psychiatrischer 'Therapie' zugeführt 
                werden: evtl. Unterbringung in kinder- und jugendpsychiatrischen 
                Stationen oder Anstalten, Fixierung, Behandlung mit Psychopharmaka 
                oder, wie z.B. in Deutschland, gar mit Elektroschocks.
              Ein System, das wie eine Maschine organisiert ist und versucht, 
                alle Individuen zu klassifizieren, zu kontrollieren und jedem 
                Spleen von 'Experten' anzupassen, wird schwerlich zur Beseitigung 
                der sozialen Probleme in der Lage sein, die seine eigene erstarrte, 
                seelenlose Organisationsform mit sich bringt. Es kann jedoch  
                und das tut es auch  die Aufmerksamkeit der Menschen von 
                den wahren Problemen ablenken und jede wirkliche Problemlösung 
                verhindern.
              Der Trend, Abweichung als Krankheit zu definieren, ist stärker 
                geworden. Immer mehr leicht angreifbare Einzelpersonen macht man 
                für das Versagen des Systems verantwortlich, bescheinigt 
                ihnen eine Funktionsstörung und unterzieht sie allen möglichen 
                angeblichen Behandlungen; und das alles, weil korrupte Organisationen 
                und Institutionen wie beispielsweise das Erziehungswesen bei der 
                Erfüllung der Aufgaben, zu deren Zweck sie angeblich gebildet 
                wurden, versagen. Von 1985 bis 1992 hat sich im Bundesstaat New 
                York die Zahl der Kinder unter dreizehn Jahren, die man in staatliche 
                Psychiatrische Anstalten untergebracht hat, mehr als verdoppelt.
              Im Bundesstaat Michigan, für den Daten vorliegen, war »Störung 
                mit Oppositionellem Trotzverhalten« (Kodierungsnummer 313.81) 
                die häufigste 'Diagnose', mit der das Einsperren der Kinder 
                in Psychiatrische Anstalten gerechtfertigt wurde. Diese 'Störung' 
                definierte man in der Bibel (nicht nur) der amerikanischen Psychiater, 
                dem »Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer 
                Störungen DSM-III-R«: Das betroffene Kind
              »(1) verliert oft die Nerven, (2) streitet sich 
                oft mit Erwachsenen, (3) widersetzt sich häufig aktiv den 
                Anweisungen oder Regeln der Erwachsenen, weigert sich beispielsweise, 
                Hausarbeiten zu machen, (4) tut vorsätzlich etwas, was andere 
                verärgert, greift z.B. nach den Mützen anderer Kinder, 
                (5) schiebt oft anderen die Schuld für eigene Fehler zu, 
                (6) ist oft reizbar und durch andere verärgert, (7) ist oft 
                wütend und beleidigt, (8) ist oft boshaft und nachtragend, 
                (9) flucht oft oder benutzt obszöne Wörter.« (»Manual« 
                1989, S. 88)
              Alle, die selbst Kinder haben oder zumindest gut kennen, werden 
                festgestellt haben, dass mit diesen Worten vor einigen Jahren 
                noch normale Kinder bei der Entdeckung ihrer Persönlichkeit 
                und der Erprobung ihres Willens beschrieben worden wären.
              Jetzt definieren die Agenten sozialer Kontrolle die Kindheit 
                selber als pathologisch  (krankhaft), als psychische Krankheit. 
                Offensichtlich ist Kindheit subversiv; sie macht den Agenten sozialer 
                Kontrolle Angst, weil sie das Schreckgespenst des Kontrollverlusts, 
                der Verrücktheit, der Rebellion und Revolution heraufbeschwört. 
                Es ist nun einmal so, dass Kinder Anweisungen nicht immer Folge 
                leisten. Sie verhalten sich nicht wie funktionierende Maschinen. 
                Sie neigen nicht dazu, sich von sich aus den Erwartungen irgendwelcher 
                Autoritäten anzupassen.
              Lassen Sie sich nicht kirre machen, wenn von irgendeiner Seite, 
                sei es Lehrer, Hausarzt oder Schulpsychologin, der Vorschlag kommt, 
                Ihr Kind psychiatrisch untersuchen zu lassen. Sprechen Sie mit 
                Ihrem Kind über seine Probleme, Ängste und Wünsche. 
                Sprechen Sie auch mit den anderen Vertrauenspersonen Ihres Kindes, 
                wenn Ihr Kind dies will. Glauben Sie Ihren eigenen Wahrnehmungen, 
                in aller Regel kennt niemand Ihr Kind besser als Sie selbst. Lassen 
                Sie sich nicht von Diplomen, Titeln und weißen Kitteln beeindrucken. 
                Sollte doch einmal an Sie das Ansinnen gestellt werden, aufgrund 
                von nichtmedizinischen Problemen Ihr Kind dem Arzt oder gar speziell 
                dem Kinderpsychiater vorzustellen, dann rate ich Ihnen u.a., das 
                Ansinnen schlichtweg zurückzuweisen, aus Ihrer möglichen 
                Isolation herauszugehen und sich mit anderen betroffenen Eltern 
                zusammenzutun, sich an geeigneter Stelle Rat zu holen, Ihr Kind 
                möglichst nicht alleine zum Arzt oder gar Psychiater gehen 
                zu lassen, Gespräche und Auskünfte zu verweigern, wenn 
                diese aktenmäßig erfasst werden, Rechtsauskunft einzuholen 
                über die Notwendigkeit, Therapie- und Behandlungsauflagen 
                Folge leisten zu müssen, und im Falle der Verschreibung von 
                Psychopharmaka auf einer umfassenden Aufklärung über 
                alle nicht auszuschließenden Behandlungsrisiken und -schäden 
                zu bestehen und das eigene Recht auf Ablehnung der vorgeschlagenen 
                Behandlung nicht zu vergessen.
              Die Situation ist tragisch. Man erklärt Kinder zu Staatsfeinden, 
                weil sie Kinder sind. Lassen Sie uns nicht tatenlos zusehen, wie 
                Agenten sozialer Kontrolle und staatlich lizenzierte Drogenhändler, 
                die vorgeben, im Interesse der Kinder zu handeln, sich an unseren 
                Kindern vergreifen, um sie fertigzumachen. Lassen Sie uns alles 
                Menschenmögliche tun, um denen Widerstand entgegenzusetzen, 
                die unseren Kindern das Recht auf ein eigenes Leben, auf Freiheit 
                und das Streben nach Glück vorenthalten wollen.
              Aus dem Amerikanischen von Rainer Kolenda
              Anmerkung der Herausgeber
              (1) Andere von Psychiatern benutzte Begriffe sind: hyperkinetische 
                (d.h. durch eine übermäßige Bewegungsaktivität 
                charakterisierte) Reaktion im Kindesalter, hyperkinetisches Syndrom, 
                kindliches Hyperkinesesyndrom, minimale Hirndysfunktion, minimale 
                cerebrale Dysfunktion (das Gehirn betreffende Fehlfunktion), leichte 
                cerebrale Dysfunktion, Zappelphillip-Syndrom, Kodierungsnummer 
                314.00 bzw. 314.01. 
              Quellen
             
            Seth Farber, Dr. phil., ist Autor, Psychologe und Sozialkritiker. 
                Er gründete das Network Against Coercive Psychiatry  (Netzwerk 
                gegen Zwangspsychiatrie), um damit zur Bildung einer sozialen 
                Massenbewegung gegen das psychiatrische System beizutragen. Im 
                Netzwerk arbeiten abtr¨nnige Professionelle ebenso wie Psychiatriebetroffene. 
                Veröffentlichungen: »Institutional Mental Health and Social 
                Control: The Ravages of Epistemological Hubris«, in: Journal 
                of Mind and Behavior, Vol. 11 (1990), Nr. 3/4; »Madness, 
                Heresy, and the Rumor of Angels: The Revolt Against the Mental 
                Health System«, Chicago: Open Court Press 1993. (Stand: 1993) 
                
 
              
                © 1993 by Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag