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des Antipsychiatrieverlags
in: Sozialarbeit (Wien), Nr. 96 (September 1992), S. 16-18
Kerstin
Kempker
"Mehr ein Produkt der Zunge als des Denkens" Vom
Teufelskreis psychiatrischer Etikettierung
Passen Sie auf: Wenn Ihre Frau/Ihr Mann das nächste Mal von
der Arbeit kommt, sich in den Sessel fallen lässt und
nach einer Weile fragt: "Wo sind denn die Hausschuhe?", dann sollten
Sie "die Bitte richtig aufnehmend, die Hausschuhe stumm holen"!
Denn wenn Sie stattdessen erklären, dass "die Hausschuhe,
wie immer, unter dem Bett stehen" laufen Sie Gefahr, von Prof. Peters,
dem Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie
und Nervenheilkunde, als eindeutig schizophren diagnostiziert zu
werden. Zumindest dann, wenn Sie "gerade diese Situation als typisches
Beispiel dafür anführen, dass ihr Mann sie nicht
verstehe". Denn:
"Damit sind wir aber auch unversehens aus der Analyse
eines einfachen Satzes in einer einfachen Situation in eine psychopathologisch-diagnostische
Kategorie geraten. Mit Hilfe der Interpretation (aber nicht ohne
sie) ergibt sich, dass die Diagnose einer Schizophrenie gestellt
werden muss. Der eine Satz und sein Kontext reichen dazu im
Grunde aus."
Peters, der hier in "Schizophrenie und Sprache" (1991) "die grundsätzliche
Erschließbarkeit schizophrener Texte" aufzeigen will, sagt
an gleicher Stelle, dass "der Eindruck des Irreseins" mit eben
dieser Erschließbarkeit schwinde. Nicht nur dass er an
bestimmten Sprachregelverstößen 'das Schizophrene' eindeutig
dingfest machen will, verstehen will er es auch noch. Was ihm dabei
entgeht, ist die Konsequenz aus seinen eigenen Worten, dass
nämlich das Erschließbare nicht mehr schizophren sein
kann.
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Wenn nun die Schizophrenie, dieses Konstrukt, dessen Ursache so
unbekannt wie sein Erscheinungsbild ist, mangels Besserem schon
an "Abwandlungen der Sprachform" eindeutig diagnostiziert wird,
wenn dazu jeder Satz verhackstückt und auf Regelverstöße
untersucht wird, sollten alle, denen dieses Etikett angeheftet wurde
oder droht, nur noch schweigen? Vorsicht: auch das Schweigen wird
zum Beweis erhoben. Wie auch immer, das Verhalten ist 'symptomatisch'.
Der Teufelskreis psychiatrischer Etikettierung ist von innen unverlassbar,
von außen solange seine Logik nicht in Frage steht
unangreifbar (vgl. Kempker 1991). Paul Watzlawick ist davon
überzeugt,dass "ein wesentlicher Teil der selbsterfüllenden
Wirkung psychiatrischer Diagnosen auf unserer felsenfesten Überzeugung
beruht, dass alles, was einen Namen hat, deswegen auch wirklich
existieren muss." Was bleibt den einmal Stigmatisierten zu
sagen? Wem kann ich mein Wort geben?
Leo Navratil, österreichischer Psychiater (seit '86 im Ruhestand),
hat 'seinen' produktiven Verrückten das "Haus der Künstler"
der Anstalt Klosterneuburg geschaffen. Hier ließ er sie Art
brut machen, pickte sich das 'Gute' heraus, stellte es aus,
belächelte den Witz und scherte sich wenig um die Not darin.
Denn
"man dürfe nicht alles, was der schizophrene Patient
sagt, so verzweifelt ernst nehmen. Es gibt eine Methode des spielerischen
Umgangs mit den nicht selten komischen Einfällen des Patienten,
die heilsam ist. Zu dem Thema 'Selbstbewusstsein' schrieb Ernst
Herbeck: Wenn man raucht erübrigt es sich. Und zu dem Thema
'Ich weine': 'Ich weine dann wenn ich kein Geld habe. Wenn ich Geld
habe hört das Weinen auf. Oder wenn ich nichts zu Rauchen habe.
Ich weine tief bedrückt.'" (zit. n. NavratiI 1986)
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Abb. 1: Wilhelm Gögos, 1987
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Dass Ernst Herbeck, von 1946 bis zu seinem Tod 1991 in der
Anstalt, unter Armut und Abhängigkeit leidet, hält sein
Psychiater und "Kunsttherapeut" für einen komischen Einfall.
Der Satz "Ich will 50 Franken für meine Bilder" kann, wo 50
Franken in unerreichbare Ferne rücken, von existentieller Bedeutung
sein (s. Abb. 1).
"Schizophrenie und Sprache" ist auch ein Titel von Navratil, den
er nach 20 Jahren "mit meinen künstlerisch und schriftstellerisch
begabten Patienten" überarbeitet hat. Er machte sich in dieser
Zeit Gedanken über den Krankheitsbegriff und spricht jetzt
lieber von seelischen Störungen als von psychischen oder Geisteskrankheiten,
Kranke bleiben seine Künstler. "Dennoch haben schizophrene
Menschen alle Erlebnismöglichkeiten, sie sind anregungsbedürftig
(Navratil nötigte Herbeck zu jedem seiner Gedichte mit Titelvorgabe),
sie leben gerne, und ihr Leben ist nicht weniger wert." Welche Texte
und Bilder 'seiner' Künstler waren es wert, ausgeschlachtet
zu werden? "Der Therapeut ist der erste Rezipient ihrer Dichtungen.
Von ihm hängt es ab, was einer größeren Öffentlichkeit
unterbreitet wird" (Navratil 1986).
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Schriftliche Beschwerden der 'Schizophrenen' scheinen ihn weniger
interessiert zu haben:
"Der größte Teil ihrer Schriften besteht allerdings
aus Eingaben an die Anstaltsleitung, an Regierungsstellen, Ämter
und Behörden, worin sie ihre Entlassung fordern, Angriffe gegen
vermeintliche Verfolger richten oder ihre Erfindungen anpreisen.
Es fehlt dabei jedes Krankheitsbewusstsein. Auch diese Schriftstücke
können sprachlich und formal unauffällig sein."
Fordert ein 'Schizophrener' seine Entlassung, fehlt ihm deshalb
die Krankheitseinsicht. Andere ihm unbegreifliche 'Schizophrene'
produzieren
"Lautgebilde, mit denen sie selber keinen Sinn verbinden;
sie zögern aber nicht, auf Befragen diesen Neubildungen einen
bestimmten Sinn zu unterschieben. Nicht selten ist ein spielerischer,
sprechmotorischer Faktor an ihrer Entstehung beteiligt, sind sie
mehr ein Produkt der Zunge als des Denkens." (Navratil 1966)
Der Teufelskreis psychiatrischer Etikettierung bleibt unverlassbar.
Allenfalls werden den interessanteren Verrückten kleine kontrollierte
Freiräume zugestanden, ein "Haus der Künstler" auf dem
Anstaltsgelände; dort hat "Ernst Herbeck die Möglichkeit,
in seinen Gedichten ... alles zu sagen, was er sagen will ... Ich
nehme sie zur Kenntnis ... Über das fertige Gedicht wird nicht
mehr geredet" Garantiert folgenlos! Herbeck kennt seinen Beherrscher.
Der Engel
Der Schutzengel ist ein ra-
sender Narr. Er fliegt und
schützt alles für sich. Er
tötet alle die nichts haben.
die, die etwas schulden
oder auch schuldig sind tötet
er nicht. Sie gehören alle
Ihm. (zit. n. Navratil 1986)
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Abb. 2: Gottfried Dober, 1986
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Was bleibt? Gottfried Dober, seit 41 Jahren in einer Schweizer
Anstalt interniert, bleibt bitterste Ironie. "Wer spinnt hat mehr
vom Leben" hinter Gittern (s. Abb. 2).
Und warum dies alles in einer Zeitschrift für Sozialarbeit?
Die Beschäftigung mit den Lebensumständen, der existentiellen
Absicherung, der Beschaffung von Wohnraum und Arbeit, die tatkräftige
Unterstützung im Ämter- und Paragraphendschungel bei der
Wiedererlangung der bürgerlichen Rechte und eine weniger belastete,
weil von Psychopathologie kaum durchdrungene, Gesprächsbasis,
das ist für mich kompetente Sozialarbeit. Ob die derzeitige
Sozialarbeit in der institutionellen Psychiatrie über diejenige
von weisungsgebundenen "Sozialmäuschen" (vgl. 'Spektrum' 3/1983,
Mitteilungsblatt der DGPN) hinausgehen kann, bezweifle ich allerdings.
Das Gefährliche an Psychiatern wie Navratil und Peters ist,
dass ihnen unbelastete LeserInnen leicht auf den Leim ihrer
scheinbar so humanistischen Sorge um 'ihre Kranken' gehen. Diese
wortgewaltigen, den Künsten zugeneigten Bildungsbürger
mit linguistischen Vorlieben sind aber, was das Verhängnisvolle
ist, Befürworter oder gar Ausführer von Elektro- und Insulinschocks,
von Zwangs-'Behandlung' mit Neuroleptika, und sie sind es, die 'ihre
PatientInnen' zu lebenslänglichen machen. Für Navratil
mag das "die Zeit, welche der Patient braucht, um ein gewisses Oeuvre
zu schaffen" (1986), sein. Für die InsassInnen ist es abgelaufene
Lebenszeit.
Literatur
Abbildungen: Kunstforum International (Köln)
© 1992 by Kerstin Kempker. Alle Rechte vorbehalten |
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