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des Antipsychiatrieverlags
in:
Peter
Lehmann & Peter Stastny (Hg.), Statt Psychiatrie 2. Berlin /
Eugene / Shrewsbury: Peter Lehmann Antpsychiatrieverlag 2007, S.
26-36 (
E-Book 2022)
Kate
Millett
Psychische Krankheit ein Phantom (1)
Aus dem Amerikanischen von Ulrike Stamp und Rainer Kolenda
Wie kann es so weit kommen, dass ein menschliches Wesen mit Ledermanschetten
an einen Tisch geschnallt wird und diese Qual und Demütigung stundenlang
ertragen muss? Welches Gesetz kann das jemals rechtfertigen? Wo
gibt es in unserem hochgeschätzten System von bürgerlichen Rechten
und Freiheiten etwas, das einen solchen Vorgang zulassen würde?
Wie ist es möglich, dass Menschen durch ein Unterbringungsverfahren
all ihre Rechte verlieren? Wieso werden sie durch Gerichtsverfahren
unter Psychopharmaka gesetzt, wo für sie doch alles auf dem Spiel
steht, sogar ihre Freiheit? Die Gesetzgebung hat kläglich versagt,
Anwälte verraten ihre Klienten. Es sind PflichtverteidigerInnen;
sie arbeiten zumindest in den USA für einen Hungerlohn,
kennen ihre KlientInnen nicht und geleiten sie durch Scheinverfahren,
in denen alles gegen die Opfer gerichtet ist. In solchen Verfahren
beugt sich das Gesetz der Medizin; all das, wofür Rechtsprechung
steht verfassungsmäßige Garantien, Anzweiflung bloßer Behauptungen,
Forderung nach Fakten und Beweisen , wird den Ansprüchen
der psychiatrischen Medizin preisgegeben. AnwältInnen verneigen
sich vor den PsychiaterInnen, die einzelne Menschen »wahnsinnig«
nennen. Der Verzicht auf die traditionelle gesetzliche Verpflichtung
zum Beistand ist umfassend.
Bedenken Sie, wie lange Strafverfahren dauern,
wie ausführlich dort Beweismaterial eingebracht wird. Denken Sie
an die Schwurgerichtsbarkeit, daran, wie lange es gedauert hat,
das Prinzip der zwei widerstreitenden Parteien zu etablieren,
wie langsam und schrittweise verfassungsmäßige Garantien und Bürgerrechte
im 18. und 19. Jahrhundert errungen wurden, die sich im 20. Jahrhundert
über die ganze Welt verbreiteten. Alles wird in den paar unkontrollierten
Augenblicken eines Unterbringungsverfahrens hinweggefegt.
Wie kommt es, dass der Staat über bestimmte
Individuen eine solch außergewöhnliche Macht besitzt? Wo und weshalb
hat unser Schutzsystem versagt? Es heißt, diese Personen seien
von einer seltsamen, schrecklichen Krankheit befallen, weshalb
sie gewaltsam zu behandeln seien. Daher müsse das Gesetz denen
dienen, die sich mit dieser Krankheit auskennen. Gesetzliche Bestimmungen
seien erforderlich, um Zwang ausüben zu können. Doch die Befugnis,
diese Bestimmungen umzusetzen, liegt nicht beim Gesetz oder bei
den JuristInnen, sondern bei einer anderen Gruppe von Fachleuten,
denen das Gesetz zu dienen habe. Diese müssten ihre PatientInnen
einsperren und ihrer Entscheidungsfreiheit berauben, was den ersten
Schritt zu ihrer Heilung darstelle.
Lassen Sie uns den Begriff der Zwangsbehandlung
einmal näher betrachten. Warum wird behandelt? Wegen merkwürdiger
Handlungsweisen, zu lauten Redens, wegen Wut, Stress oder irrationalen
Verhaltens, wegen Anstößigkeiten? Offensichtlich beziehen wir
uns hier auf das Gesetz, nicht auf die Medizin. Hat diese Person
einer anderen etwas zuleide getan, den Frieden gestört, jemanden
gewaltsam angegriffen? Zuständig hierfür ist die Justiz. Wie kam
die Medizin ins Spiel? Man sagt uns dann, es wurde zwar gegen
kein Gesetz verstoßen, aber die Nachbarn beschwerten sich, die
Familie sei aufgebracht. Es könnte ein Verbrechen geschehen. Unsere
Gesetze erlauben es nicht, jemanden vorsorglich zu verhaften oder
einzusperren. Es könnte ein Verbrechen geschehen ... aber tatsächlich
wurde keines begangen. Stattdessen geht es um anstößiges Verhalten,
lediglich allgemein beschrieben, nicht einmal mit eigenen Augen
gesehen. Die Person ist nicht kriminell, sondern Opfer einer seltsamen
Krankheit, die nur gegen den eigenen Willen geheilt werden kann.
Welche Krankheit könnte es je mit sich bringen, dass die betroffene
Person nicht selbst den Wunsch hat, behandelt zu werden? Im Bereich
der somatischen Medizin ist Zwangsbehandlung nicht zulässig; das
übliche Verhältnis zwischen Arzt und Patient basiert auf Übereinkunft,
Kooperation, Unterstützung und Trost. Wesentliches Merkmal einer
solchen Behandlung ist die Freiwilligkeit. Die Idee der Zwangsbehandlung
ist derart absurd, ist medizinisch, juristisch und moralisch derart
schwer zu rechtfertigen, dass man sich auf geheimnisvolle Umstände
berufen muss.
Dem Übeltäter bzw. der Übeltäterin soll
ein Behandlungsplan aufgezwungen werden. Es gibt 'interessierte
Parteien' und Angehörige, die ein persönliches Interesse
an Kontrolle haben und die für ihr feindseliges Vorgehen gegen
den einzelnen auffälligen Menschen sozialen Konsens sowie Billigung
und Beistand anstreben. Sie brauchen nur zum Telefon zu greifen.
Die Gesellschaft ist dafür gerüstet, einen Menschen zu ergreifen
und einzusperren, zu bestrafen und all seiner Rechte zu berauben.
Aber noch bedarf es einer 'vernünftigen' Erklärung,
eines Etiketts, einer Anklage, die ins Gewicht fällt. Verrücktheit
genügt all diesen Anforderungen, ebenso wie Ketzerei oder politische
Subversion. Gedankenverbrechen.
Zuständig hierfür ist heutzutage die Psychiatrie;
sie ist der ausführende Arm sozialer Gewalt, ausgestattet mit
staatlichen und polizeilichen Machtmitteln, mit Schloss und Riegel,
Psychopharmaka und Folterinstrumenten. Sie verkörpert eine bestimmte
Vorstellung, nämlich die Annahme, das Individuum sei Träger einer
unsichtbaren Krankheit oder erblichen Belastung, die zwar pathologisch
nicht nachweisbar ist, aber von ExpertInnen aufgespürt und unter
Anwendung von Zwang geheilt werden kann. Durch allgemeine Zustimmung,
Werbung und Propaganda gewinnt diese Vorstellung Oberhand; das
Ansehen der Wissenschaft lässt sie glaubwürdig erscheinen, und
die Staatsgewalt mit der überwältigenden Fülle ihrer Zwangsmittel
legitimiert sie.
Die Psychiatrie, die sich selbst als Teilbereich
der Medizin bezeichnet, wird zwangsläufig zum Mittel außergesetzlicher
sozialer Kontrolle und staatlicher Macht, mit Befugnissen, die
das Recht und all seine Garantien für das Individuum außer Kraft
setzen, vielleicht sogar dem Gesetz widersprechen. Die garantierten
Rechte, Ergebnis einer Jahrhunderte währenden Entwicklung, werden
in bestimmten Fällen aufgehoben. Der Staat erlaubt der Familie,
ihr Objekt der Unterdrückung selbst zu wählen. Als Bevollmächtigte
des Staates bedient sich die Familie wiederum der Psychiatrie,
denn das letzte Wort hat der Psychiater. Wollen Sie eine Verwandte
einsperren, so müssen Sie immer noch einen gefälligen Arzt finden
letztlich entscheidet er. Die Tatsache jedoch, dass Familien
ein Opfer präsentieren können, ist allein schon erstaunlich, eine
informelle soziale Kontrolle.
Wir alle glauben doch an diese geheimnisvolle
Macht, diese Krankheit, diese psychische Störung. Es kann passieren,
dass Ihr Verstand einfach aufgibt, Ihre Gefühle Sie überwältigen,
Sie einer konstitutionellen Schwäche unterliegen. Unsichtbare
Kräfte zwingen Sie in die Knie. Und der Glaube ist alles. Glaube
versetzt Berge. Man muss ihn nur ausweiten und propagieren, institutionalisieren,
finanzieren, bürokratisieren, in einen blühenden Industriezweig
verwandeln Spender von Hunderttausenden von Arbeitsplätzen
und 'Diensten'.
Das System würde ohne Zwang nicht funktionieren.
Wie jedes System sozialer Kontrolle basiert es letztlich auf roher
Gewalt. Es gründet auch auf einer Ideologie. Hier ist die Ideologie
das medizinische Modell psychischer Krankheit eine
Perversion von Vernunft und Wissenschaft. Viele PsychologInnen
und PsychoanalytikerInnen stimmen vermutlich der Auffassung zu,
dass es sich beim medizinischen Krankheitsmodell um eine irreführende
Analogie handelt, denn sie gehen davon aus, dass psychisches Leiden
von Konflikten des Individuums mit seinem Umfeld herrührt, ob
sie nun durch die persönliche Geschichte oder die gesellschaftlichen
Verhältnisse bedingt sind. Mit anderen Worten, das Leben ist nicht
leicht. Der Tod ist nur schwer zu verkraften, ebenso Trauerfälle,
das Ende einer Liebe, vergebliche Liebesmüh, schwere wirtschaftliche
Zeiten, Verlust des Arbeitsplatzes, verpasste Chancen, die verbitternde
Anhäufung von Enttäuschungen aller Art. Dies ist ein Wirklichkeitsmodell,
welches von Tatsachen ausgeht.
Das medizinische Modell dagegen hat keinerlei
Bezug zu irgendeiner Realität, es ist nicht einmal medizinisch,
obwohl es vom Ansehen der Körpermedizin profitiert und die Existenz
physischen Leidens nutzt, um uns an der Nase herumzuführen und
einen allgemeinen gesellschaftlichen Konsens zu erzwingen, legal
oder am Gesetz vorbei. Letzten Endes handelt es sich um einen
gesellschaftlichen Mythos, der über den Akt des Unterbringungsverfahrens
sowohl dem Staat als auch der Psychiatrie enorme Macht überträgt.
Es gibt kaum Länder, in denen nicht formell
oder informell, öffentlich oder privat die Vorstellung von der
Existenz psychischer Krankheit und deren Pendant der psychischen
Gesundheit Bausteine des Glaubenssystems geworden sind. Psychische
Krankheit ist ein Haushaltstitel der Regierung, ein Ministerium,
eine Verwaltungsabteilung, eine Unterabteilung jeder Bürokratie
auf bundesstaatlicher, Länder-, Kreis- und kommunaler Ebene.
Einige Menschen stellen sich vor, dass psychische
Krankheit wie eine Lungenentzündung diagnostiziert werden kann,
epidemisch wie AIDS auftritt und wie Krebs potentiell erkennbar
und irgendwann auch heilbar sein wird. Unsere gemeinsame Überzeugung
von der Existenz psychischer Krankheit ist mysteriös und wunderlich.
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts und nach mehreren Jahrhunderten
wissenschaftlicher Entdeckungen und dem Triumph wissenschaftlicher
Erkenntnisse bleibt sie durch und durch glaubensbedingt und unwissenschaftlich.
Wir glauben einfach daran, ohne jeden Beweis für das, was wissenschaftlich
unter Krankheit zu verstehen ist. Damit meine ich die Pathologie.
In der Medizin gibt es keine Störung oder Erkrankung ohne Pathologie,
und pathologische Veränderungen sind etwas, was beobachtet und
nachgewiesen werden kann. Körpermedizin und Wissenschaft überhaupt
beruhen größtenteils auf Beweisen. Es gibt Erreger, es gibt Bluttests,
es gibt Antikörper, es gibt Schwellungen und Körperflüssigkeit,
es gibt Ödeme und Zelldeformation. Es gibt Erkrankungen des Gehirns
und des Nervensystems, deren Existenz nachgewiesen werden kann:
Tumore, Lähmungen, Alzheimerkrankheit, Chorea Huntington. Dies
sind wirkliche Krankheiten, tatsächlich nachweisbar.
Wenn wir jedoch von psychischer Krankheit
sprechen, meinen wir eine Vielzahl sogenannter Krankheiten, für
die keine pathologischen Vorgänge nachgewiesen sind, auch wenn
man schon über hundert Jahre an sie glaubt. Schizophrenie ist
die bedeutendste psychische Krankheit, gefolgt von manisch-depressivem
Irresein. Gleichzeitig ist man sich selbst unter Psychiatern über
deren eigentliche Existenz nicht immer einig. Und innerhalb der
klassischen Psychologie fällt der Nachweis von Krankheiten oder
Störungen auch nicht leichter, denn es gibt in der Psychologie
kein Verfahren, mit dem man Krankheiten nachweisen kann. Es gibt
nur das Verhalten.
Jemanden für psychisch krank zu erklären,
weil er bzw. sie auf eine bestimmte Art handelt oder sich verhält,
ist etwas völlig anderes, als eine Krankheit festzustellen, für
die es physiologische Anhaltspunkte gibt. Verhalten als Indiz
für eine Krankheit ist kein objektiver Tatbestand es ist
darüber hinaus auch deswegen subjektiv, weil Verhalten eine Sache
von Beobachtung und Interpretation ist. Kurz gesagt, was für den
einen Menschen verrückt ist, ist für den anderen erklärbar, ja
sogar vernünftig. Was dem einen abscheulich ist, hält der andere
lediglich für schlechte Manieren, und ein Dritter mag das Verhalten
sogar witzig finden. Das Urteil hängt davon ab, wer beobachtet,
mehr noch von der Haltung, die der Beobachtung zugrunde liegt:
Eigennutz, Boshaftigkeit, ein Hang zur Zwangsausübung, Wut, Missbilligung,
das Bedürfnis andere zu kontrollieren, zu strafen, zu erniedrigen.
Mit der Lungenentzündung ist es anders:
Wir haben sie oder wir haben sie nicht. Und wenn wir sie haben,
wollen wir eine Behandlung. Wenn wir beschuldigt werden, psychisch
krank zu sein, stehen wir unter Anklage, sind Opfer einer Verleumdung,
sind in Verteidigungsposition und unfähig, uns selbst zu verteidigen
gegen einen Vorwurf, dessen pure Existenz unsere Schuld beweist.
Anders bei der Lungenentzündung: niemand wird vorgeladen, um die
Erkrankten vor Gericht anzuklagen und einen Richter davon zu überzeugen,
dass die PatientInnen schuldig sind, da sie voller Keime stecken.
Wir werden nicht isoliert und vor FreundInnen gedemütigt, verlieren
nicht die Arbeit und das Sorgerecht für die Kinder. Lungenentzündung
tut keinem Menschen so etwas an.
Die Vorstellung von psychischer Krankheit
ist simpel: Man nehme psychisches Leid als Beweis für eine Krankheit,
auf die nur eine hochspezialisierte und gutbezahlte Gruppe von
Heilern fast schon eine Priesterschaft einwirken
kann. Und man sei nicht sparsam mit drastischen Maßnahmen. Man
benutze Psychopharmaka, Grausamkeit und Schrecken, Einkerkerung
und elektrischen Strom für das Gehirn. Bloße Gesprächstherapie
ist zu einfach, so wie auch Gespräche, Freundschaft oder Beratung
zu primitiv sind, braucht man dazu doch weder Rezept noch Lizenz.
Menschliches Elend, Ungewissheit, Lebenskrisen,
die schmerzhaften Prozesse, durch die wir uns voneinander trennen,
wachsen, Neues schaffen, uns verändern oder Entscheidungen treffen
... all das sind Zeiten der Verwundbarkeit. Von Seiten unserer
Umwelt oder aus unserem Inneren regt sich Widerstand. Wir sind
uns unserer selbst unsicher, als Mann oder als Frau, als Liebende,
Bruder oder Schwester, Kinder oder Eltern; wir können verwirrt
sein, überwältigt, beschämt, eingeschüchtert, geschwächt oder
erniedrigt. Ganz besonders dann, wenn wir davon überzeugt wurden,
die eigenen Gefühle, Reaktionen und Beweggründe nicht zu kennen,
die eigene Urteilskraft unzuverlässig und unsere psychischen Prozesse
falsch zu finden. Dann erkläre man das Menschsein an sich zum
medizinischen Problem, definiere die Psyche als eine Abfolge von
mysteriösen Unwägbarkeiten und behaupte, es handle sich um ein
chemisches Konstrukt von unsicherem Gleichgewicht, um ein Rätsel,
dem wir ausgeliefert sind. Nur die Psychiatrie kann diese instabile
Mixtur in Ordnung bringen mit Psychopharmaka, deren Wirkungsweise
nicht einmal die Doktoren verstehen, von denen sie aber behaupten,
dass sie uns nicht schaden.
Wir haben es hier mit Stigmatisierung und
Zwang zu tun, mit Staatsgewalt und Kontrolle und mit multinationalen
Pharmakonzernen, die bereitstehen, ihre Profite aus der Zwangsverabreichung
psychiatrischer Psychopharmaka an die Opfer dieser mysteriösen
Krankheiten zu ziehen, und zwar sowohl wenn diese gegen ihren
Willen eingesperrt sind als auch nach deren Entlassung, die in
Wahrheit nur vorübergehend und auf Probe ist. Freiheit, Leben,
Nahrung, Obdach und Beschäftigung hängen allesamt davon ab, ob
sich ein Mensch unterwirft und durch die Psychopharmaka stigmatisieren
und zu einem Behinderten machen lässt.
Mit diesen Psychopharmaka ist weniger Medizin
gemeint, eher Medikation. Diese stellt ruhig, stumpft ab, macht
träge oder hektisch, vermindert oder erzeugt Stress, stört die
Konzentrationsfähigkeit und verzerrt die Wahrnehmung, verhindert
vernünftiges Denken. Sie tut das, was Psychopharmaka eben tun:
sie entstellen, aber sie heilen nicht, wie auch, wenn gar keine
Krankheit vorliegt. Psychische und emotionale Belastungen und
Beschwerden sind nun mal natürliche Bestandteile des menschlichen
Lebens und keine Krankheitssymptome.
Peter Breggin (1990) hat eine umfassende
Darstellung von Forschungsarbeiten über Schädigungen publiziert,
die durch Neuroleptika wie Haloperidol (im Handel u. a. als
Haldol, Haloper, Sigaperidol), Chlorpromazin (im Handel
u. a. als Chlorazin, Propaphenin), Thioridazin (im Handel u. a.
als Melleril) oder Fluphenazin (im Handel u. a. als Dapotum,
Lyogen, Lyorodin) verursacht werden Psychopharmaka,
die PatientInnen 'freiwillig' nehmen sollen, wenn
sie ihre Sozialunterstützung nicht verlieren wollen. Breggin beschäftigte
sich mit den Auswirkungen solcher Substanzen auf die höheren Hirnfunktionen,
außerdem fasste er Untersuchungen des Hirngewebes sowie Tierstudien
zusammen. Er fand heraus, dass neuroleptikabedingte Hirnschäden
häufig durch die Wirkung der Psychopharmaka selbst kaschiert werden
und daher erst während des Entzugs, wenn der Schaden bereits irreversibel
ist, zum Vorschein kommen. Das kann zu lebenslanger Neuroleptika-Einnahme
führen. Breggin beschreibt auch, wie psychiatrische Psychopharmaka
das Gehirn gewissermaßen schrumpfen lassen und über die kurzfristige
Ruhigstellung und Behinderung intellektueller Prozesse hinaus
bleibende kognitive (die Denkfähigkeit betreffende) Defizite
verursachen. Er nennt die seuchenartige Ausbreitung der neuroleptikabedingten
tardiven Dyskinesien (oft irreversible Bewegungsstörungen)
eine physisch bedingte »iatrogene (vom Arzt verursachte)
Tragödie« und appelliert an die Ärzteschaft, die Verantwortung
für die Schädigungen zu übernehmen, die Millionen von Menschen
in der ganzen Welt erleiden. Neben Stoffwechsel- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen
ist bei neu entwickelten Clozapin (im Handel u. a. als Clopin,
Elcrit, Lanolept, Leponex)-artigen ('atypischen')
Neuroleptika wie Zyprexa (Wirkstoff Olanzapin) oder Sertolect
(Wirkstoff Sertindol) insbesondere mit tardiven Psychosen
zu rechnen: der Verschlechterung oder Chronifizierung von psychotischen
Zuständen als Resultat behandlungsbedingter Rezeptorenveränderungen
ein Schaden, auf den Robert Whitaker (2002, S. 253
286) und Peter Lehmann (1996, S. 99 104; 2003) aufmerksam
machen.
Im Gegensatz zum medizinischen Modell respektiert
das humanistische und psychologische Modell die Menschenrechte,
insbesondere im Hinblick auf Einweisung und Zwangsbehandlung.
Aber dieses Modell ist in unserer Gesellschaft nicht gebräuchlich.
So gesehen wirkt das medizinische Modell
sowohl niederträchtig als auch töricht. Es ist eine Laienreligion,
aber auch eine massive Bedrohung unserer Rechte ebenso wie unserer
Fähigkeit, mit Logik und Verstand solch komplizierte Dinge wie
Medizin und Krankheit zu betrachten. Das medizinische Modell lehrt
die ursächliche Vorbestimmtheit allen Geschehens: Freiheit und
Verantwortung, gut und böse, Wahlmöglichkeit und Vernunft werden
von ihm ausgelöscht. Das hat enorme politische Auswirkungen. Wir
werden geführt und kontrolliert. Wir werden auf Linie gebracht,
korrigiert und geleitet von Sozialbürokratien, der gewaltigen
Kreatur der Staates, Anstalten, gemeindepsychiatrischen Einrichtungen
oder privaten Kliniken.
Hinter den Vorstellungen von psychischer
Gesundheit und psychischer Krankheit steckt eine gigantische Industrie
mit Hunderttausenden von Arbeitsplätzen, mit Zuschüssen und Ausgaben,
Doktoren, Krankenschwestern und -pflegern, ein totales Überwachungssystem
mit geschlossenen Abteilungen und entsprechenden Hilfsmitteln,
Sicherheitspersonal und technischen Vorrichtungen, Herstellerfirmen
von Gerätschaften für Fixierung, Überwachung und Elektroschocks;
schließlich ist da noch die Pharmaindustrie selbst, zusammen mit
der Rüstungsindustrie weltweit der größte und ertragreichste Industriezweig.
Im Umfeld gibt es Tausende von Zulieferfirmen, Zeitschriften und
Bildungseinrichtungen, die Anerkennungs- und Beglaubigungsbürokratie,
Aktenverwalter und andere Büroangestellte, Tagungsstätten und
Ausbildungszentren, Bauunternehmer und Wartungspersonal, die ganzen
Ausstattungsfirmen und Geldgeber, Versicherer und schließlich
Rechtsberater und Buchhalter.
Ständig ertönt der Ruf nach mehr Geld, nach
mehr Forschung zu psychiatrischen Krankheiten, nach mehr Einrichtungen
zur Unterbringung und Absonderung, nach größerem Spielraum bei
Einweisung und geschlossener Unterbringung. Gleichzeitig wird
mit erbärmlicher Heuchelei die salbungsvolle Bitte vorgetragen,
doch mehr Toleranz und Verständnis aufzubringen, wobei noch weitergehende
Krankheitsvorstellungen gezimmert werden, dass wir alle mehr oder
weniger Keime psychischer Krankheit in uns tragen und einer immer
umfassenderen und tiefgreifenderen Behandlung bedürfen.
In all dem stecken so viel Geld und Macht,
Arbeitsplätze und Karrieren, dass die Kirche mit ihren sozialen
Normen als mächtigste Einrichtung zur Kontrolle der Gesellschaft
in den Schatten gestellt wurde. Darüber hinaus sind die psychiatrischen
Kriterien gesetzlich abgesichert und juristisch durchsetzbar;
das heißt im Unterbringungsverfahren geht es um Freiheit und Gefangenschaft.
Dies gilt auch für die Psychiatriegesetze und die Vormundschaft,
heute 'Betreuung', die einem Individuum die Fähigkeit
abspricht, selbstständig persönliche Entscheidungen zu treffen.
Alles, was sein weiteres Schicksal betrifft, wird von Dritten
entschieden. Eine Person, die der psychischen Krankheit überführt
wurde, existiert rechtlich nicht mehr, ihr selbstständiger Status
und ihre persönliche Identität sind ausgelöscht: Das betrifft
alle Bereiche der Lebensgestaltung und des Selbst.
Der Glaube an eine eingebildete, trügerische
Krankheit ist fest verankert. Die sozialen Kontrollmöglichkeiten
sind zufällig oder absichtlich derart überwältigend,
dass ihr Missbrauch nicht etwa ungewollt ist, sondern bewusster
Bestandteil des Konzepts. Ergebnis und tatsächlicher Zweck ist
die Schaffung zwanghafter sozialer Konformität. Sogar die Inquisition
verblasst neben solchen Erfindungen. Es ist nicht leicht, an den
Terror heranzureichen, der von elektroschockbedingten Krampfanfällen,
von Vierpunktfixierungen und massiven Spritzen verstandestötender
Psychopharmaka ausgeht. Dieses System ermöglicht die Anwendung
totalen Zwangs und schafft völlige Hilflosigkeit.
Natürlich ummanteln soziale Institutionen
im Allgemeinen solche Aktivitäten. Normalerweise sind sie in das
Alltagsleben integriert, werden als gegeben hingenommen, als unvermeidbar
oder nützlich akzeptiert, als allgemeiner Bestandteil unserer
Zivilisation oder gar als Erlösung. Bedenken Sie die Macht und
die Struktur der staatlichen Psychiatrie, einer Einrichtung, deren
Geltungsbereich, Größe und Komplexität, Ausweitung und Effizienz
von internationalem Zuschnitt ist. Bedenken Sie den Einfluss der
Psychiatrie in Schulen und Universitäten, in unserem gesamten
Beschäftigungssystem, ihren Einfluss auf alle Fragen unserer Gesundheitsversorgung,
auf das Wohlfahrtssystem, auf öffentliche Hilfe, staatliche Subventionen,
auf das private Miteinander. Vor allem aber bedenken Sie die kulturelle
Akzeptanz und die gesellschaftliche Anerkennung der Psychiatrie,
die hehren Ziele der 'helfenden Berufe', laut sozialem
Konsens höchst ehrenwerte und von größter Nächstenliebe geprägte
Ziele. Ist deren Mission nicht göttlich, nicht heilig, dann wenigstens
vornehm und edel, eine Offenbarung wissenschaftlicher Wahrhaftigkeit,
unsere moderne weltliche Religion. Wenn es sich auch um eine Pseudowissenschaft
handelt: der Wunsch, daran zu glauben, hat die Suche nach Fakten
und Beweisen ersetzt. Behauptungen werden als Tatsachen akzeptiert.
Wie kann eine Einbildung die Macht des Faktischen
erlangen? Dadurch, dass die Beherrschten an sie glauben und sie
billigen. Wie jeder Aberglaube hat auch dieses System aus Gedankenkonstrukten
enorme Macht. Aber da es auf Panzerglas, Schlüsseln und Polizeigewalt
beruht, wäre diese Macht auch existent, wenn wir nicht an sie
glaubten. Trotzdem bekommt sie durch unseren Glauben noch größeren
Einfluss. Gottgleiche Macht hat sie gehabt für uns, die wir physisch
und psychisch ihre Gefangenen waren.
Wir sind Überlebende eines der übelsten
Unterdrückungsapparate, die je entwickelt wurden, seine Opfer
ebenso wie seine KritikerInnen. Wir müssen die Wahrheit erzählen
und klarstellen, dass psychische Krankheit ein Phantom ist, sowohl
intellektuell als auch wissenschaftlich, aber auch ein System
zur sozialen Kontrolle von noch nie da gewesener Gründlichkeit
und Allgegenwart. Es ist unsere Aufgabe, dieses Phantom als solches
bloßzustellen und uns alle zu befreien denn wir alle werden
vom Phantom psychische Krankheit eingeschüchtert, eingeschränkt
und unterdrückt. Wir setzen Vernunft gegen Irrtum und Aberglauben,
Phantasie gegen Anpassung und Unterdrückung. Was für ein Glück,
an einem solchen Kampf für Freiheit und Menschenrechte teilzuhaben.
Literatur