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Homepage
des Antipsychiatrieverlags
in: Sozialpsychiatrische Informationen, 25. Jg. (1995), Nr. 4, S.
30-34; nachgedruckt in: Mitgliederrundbrief des Bundesverbands Psychiatrie-Erfahrener,
1996, Nr. 1, S. 8-12
Gisela Peeck, Christoph von Seckendorff & Pierre Heinecke
Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener e.V. (BPE)
Ergebnis der Umfrage unter den Mitgliedern des Bundesverbandes
Psychiatrieerfahrener zur Qualität der psychiatrischen Versorgung
Der Vorstand des Bundesverbandes hatte die von der Redaktion gestellten
Fragen umformuliert und erheblich erweitert. Auf seinen Wunsch
hin wurde die Auswertung und die Ergebnisdarstellung von Hannoverschen
Mitgliedern vorgenommen.
1. Fragen zur Qualität psychiatrischer Versorgung
-
Wurde in der Psychiatrie auf die Probleme eingegangen, die
zu Ihrer Anstaltsaufnahme geführt haben?
-
Wurde Ihre Menschenwürde uneingeschränkt beachtet?
Wenn nein, welchen Vorwurf erheben Sie?
-
Wurden Sie über Risiken und sogenannte Nebenwirkungen
von Behandlungsmaßnahmen vollständig und verstehbar
informiert?
-
Wurden Sie über Behandlungsalternativen aufgeklärt?
-
Wurde Ihnen ausreichend Zeit gegeben, über eine angebotene
Behandlungsform nachzudenken und die Vor- und Nachteile mit
Personen Ihres Vertrauens zu besprechen?
-
Konnten Sie frei, d.h. ohne jegliche Ängste vor den
Folgen einer Ablehnung entscheiden? Falls nein, wie wurde
Druck ausgeübt?
-
Wurden Sie Opfer sexueller Anzüglichkeiten, Diskriminierung
oder Übergriffe seitens psychiatrisch Tätiger? Falls
ja, was fiel vor?
-
Waren Sie ausreichend über Ihre rechtliche Situation
informiert?
-
Hatten Sie ausreichend Rechtsbeistand?
-
Hätten Sie sich gerne bei einer unabhängigen Stelle
über mögliche Unregelmäßigkeiten beschwert?
Wenn ja, worüber?
-
Wurden Sie auf Selbsthilfegruppen hingewiesen?
-
Welche Ausbildung halten Sie für die Gewährung
der Hilfe, die Sie gegebenenfalls in der Anstalt erhielten,
für notwendig?
2. Fragen zur Qualitätssicherung
-
Was verstehen Sie unter Qualität in der Psychiatrie?
-
Wie kann die erfasst werden?
-
Wie könnte sie gesichert werden?
-
Was fehlt für die Durchführung einer qualitativ
guten Psychiatrie?
-
Was ist überflüssig in der jetzigen Psychiatrie?
3. Frage nach Alternativen zur Psychiatrie
Welches System von Hilfeleistung anstelle von Psychiatrie halten
Sie für angemessen?
(1a)
Auf die Frage, ob auf die speziellen Probleme eingegangen worden
sei, die zur Anstaltsaufnahme geführt hätten, wurde
größtenteils mit »nein« geantwortet. Nur
in etwa 10% der Fälle wurde offenbar auf die ursächlichen
Probleme eingegangen. Einmal hatte der Arzt erst nach sechs Wochen
Zeit für den Patienten. Einer schrieb: »Ja, nachdem
die Neuroleptika gewirkt hatten, und es kaum noch was zu sagen
gab« (wurde auf ihn eingegangen). Dadurch, dass aufgrund
der Medikamenteneinnahme dem Patienten die Möglichkeit genommen
wird, Gedankenkombinationen und freie Assoziationen herzustellen,
wird ihm auch oft der Zugang zu seiner eigenen Erlebniswelt von
vornherein blockiert.
Aus der Tatsache, dass 90% der Betroffenen die Frage mit »nein«
beantwortet haben, schlussfolgern wir, dass die Psychiatrie nicht
der geeignete Ort ist, um jemanden zu finden, der oder die mit
diesen Problemen umzugehen weiß.
(1b)
Zur Frage, ob die Menschenwürde uneingeschränkt geachtet
worden sei, gab es ein ähnlich beschämendes Ergebnis.
Man kann in nur 10% der Fälle davon ausgehen, dass dieses
zutrifft. Manch einer kam freiwillig, wurde aber von den Ärzten
in die Geschlossene gesteckt und zur Medikamenteneinnahme gezwungen.
Zum Teil (10%) wurden die Kranken fixiert und zu hoch dosiert
gespitzt. »Ich wurde ohne Bett auf dem nackten Fußboden
einer Zelle gelegt und über Nacht eingesperrt«. Der
Ausdruck »Zelle« anstatt »Krankenzimmer« taucht
öfter auf. Klagen über autoritäres, teilnahmsloses
Personal, Überheblichkeit anstatt Einfühlungsvermögen,
Fixierung, Niederspritzen, Isolierung, Prügel, ließen
fast überall auf demütigende Behandlungen schließen.
Der Wille des Patienten wurde den Angaben zufolge bei 90% der
Befragten missachtet. Der leidende Mensch wurde zum Teil »wie
ein Kind behandelt, durfte nicht laut sein und die Wut nicht rauslassen«.
Ihm wurde Suizidgefahr unterstellt, dabei »war ich gar nicht
selbstmordgefährdet«. Es gab den Zwang zur Arbeits-
bzw. Beschäftigungstherapie, Patienten wurden »angebrüllt«,
»angelogen«, »nicht ernstgenommen«, als Lügner/in
abgestempelt, »auf dem Gang an Händen und Füßen
gefesselt«, in der »Einzelzelle« ohne Fenster und
Klo eingesperrt. Urtraumata wie Verlassenheitsängste wurden
reaktiviert (»niemand kam, als ich den Arzt rief«),
der Wunsch einer Frau, nur mit Frauen zu reden, wurde ignoriert,
zum Teil mussten die Leute es sich gefallen lassen, dass man ȟber
sie in ihrer Gegenwart in der dritten Person sprach«.
Die ärztliche Schweigepflicht wurde zum Teil nicht eingehalten.
Weiterhin wurden schwere Verstöße gegen das Recht auf
körperliche Unversehrtheit (»mir wurde eine Depotspritze
in die Vene gegeben, und ich lag drei Tage auf Leben oder Tod
auf der Intensivstation«), Besuchsverbote und Telefonverbote
erwähnt.
(1c)
Auf die Frage, ob die Ärzte/Ärztinnen die Leidenden über
Risiken und Nebenwirkungen von »Behandlungsmaßnahmen«
vollständig informiert hätten, wurde nicht einmal mit
»ja« geantwortet. Es sind hier wohl hauptsächlich
die Medikamente gemeint, wir möchten aber die Folgen und Wirkungen
auch der menschenverachtenden Behandlungen (nämlich Furcht,
mangelndes Selbstvertrauen, Reaktivierung frühkindlicher Traumata,
Unsicherheit, ein auf sich selbst Zurückgeworfen werden, Depersonalisation)
nichtmedikamentöser Art nicht unerwähnt lassen. Es wurde
gesagt: »Keine Nebenwirkungen. Erst später, wenn erhebliche
Nebenwirkungen aufgetreten waren, wurde entsprechend informiert.«
»Als ich dem Psychiater sagte, ich hätte bereits Schäden
von Neuroleptika, wurde mir erst recht eine Volldröhnung Haldol
und Neurocil verabreicht.«
(1d)
Die nächste Frage betraf die Aufklärung über Behandlungsalternativen.
Nur fünf von 100 Befragten wurden aufgeklärt, nur ein
einziger schrieb von »anderen« Medikamenten, »anderen«
Kliniken, dass ihm geraten worden sei, sich einen Therapeuten
zu suchen und dass er Kontakt zu Selbsthilfegruppen aufnehmen
solle.
Psychoanalytiker sind bei einigen Psychiatern als »Quacksalber«
verschrien, und die Patienten werden u.U. sogar von ihren Ärzten/Ärztinnen
als »noch nicht stabil genug« bezeichnet, obwohl der
Patient vielleicht selber gern eine Gesprächstherapie oder
eine nonverbale Therapie machen würde.
(1e)
Nur sieben von 100 Befragten war es möglich, ausreichend Zeit
zu finden, um über die angebotene Behandlungsform nachzudenken
und darüber mit einer Vertrauensperson zu sprechen. Im allgemeinen
ist mit »Fließbandbehandlung«, Zwang, Überstürztheit
und mangelnder Vertrauenswürdigkeit der in der Psychiatrie
Tätigen zu rechnen. »Was du nicht willst, was man dir
tu, das füge auch keinem anderen zu«: Dieser Satz hat
in der Psychiatrie seine Selbstverständlichkeit verloren.
(1f)
Nur 10% der kranken Menschen konnten frei, d.h. ohne jegliche Angst
vor den Folgen einer Ablehnung, entscheiden. Moralischer Druck seitens
des Personals, Androhung eines Beschlusses von etwa sechs Wochen,
Androhungen von Disziplinierungsmaßnahmen waren an der Tagesordnung.
(1g)
Die Frage nach vorgekommener sexueller Gewalt wurden von 90% der
Befragten mit »nein« beantwortet, jedoch gab es eine Menge
subtiler Anzüglichkeiten zu verzeichnen, wie etwa Bemerkungen
über »niedliche« Erscheinung, »ein Arzt leckte
sich die Lippen«, »Diskriminierung ohne Ende«, »ein
Pfleger kam und riss mir die Bettdecke weg«, »als der
Arzt sagte, ich hätte ja doch gewiss mit drei Jahren meinen
Vater verführt, geriet ich in den schrecklichen Zustand sogenannter
Depersonalisation«, »homosexuelle Annäherungen seitens
des Arztes« sowie »überflüssiger Blasenkatheder
wurde angelegt«.
(1h)
Die rechtliche Situation der Psychiatrieinsassen scheint in der
BRD eine mittlere Katastrophe zu sein, weil die Menschen erst gar
nicht über ihre Rechte informiert werden, die mit so einem
tiefgehenden Wandel ihres Lebens einhergehen müssten. Auf die
Frage, ob ausreichend über die rechtliche Situation informiert
bzw. genügend Rechtsbeistand geleistet worden sei, haben nur
acht Personen mit »ja« geantwortet: »Mir wurde klar
gemacht, dass ich so schnell nicht entlassen würde«, »der
Pfleger sagte, ich solle nichts gegen den Arzt sagen, weil dies
die Situation nur verschlimmere. Der Pfleger hielt mich im Gegensatz
zum Arzt nicht für verrückt«, »ich habe mich
einschüchtern lassen«, »hatte ein Opferlamm zu sein«,
»allenfalls Mitpatienten von der geschlossenen Station haben
mich beraten« usw. Selbst wenn ein Anwalt kam, konnte er nichts
ausrichten (2%) und nichts im Sinne des Patienten bewirken.
(1i)
Der Sehnsucht nach einer Beschwerdestelle wurde aber nachdrücklich
erheblicher Ausdruck verliehen, nur 13% hätten sich nicht
gern beschwert. Jedoch war dazu kaum eine/einer in der Lage. Nur
einmal ist eine Beschwerde auch erfolgt (Stuttgarter Beschwerdestelle),
meistens musste man als Patient/Patientin damit rechnen, dass
die Direktion den Übeltäter auch noch in Schutz nahm.
Die Beschwerdepunkte (siehe Menschenrechtsverletzungen) waren
vielfältig: Zwangsmedikation, Körperverletzung, Freiheitsberaubung,
verspätete Arztgespräche, Nichtlesendürfen von
Arztbriefen, Verschlimmerung der Symptome, Unfreundlichkeit der
Behandlung, Fixierung, Denunziation, Infantilisierung, zu späte
Entlassung, Ironie von jungen, unerfahrenen Ärzten. »Ich
musste meine Notdurft im Bett verrichten«, »wurde gezwungen,
in der AT Toiletten zu reinigen«, »der Tod einer Patientin
wurde vertuscht«, »ich landete in einer Notunterkunft«,
»Chefarzt taugte mehr zum Staatsanwalt denn zum Psychiater«
etc.
(1k)
Hinweise auf Selbsthilfegruppen wurden zu 75% nicht erteilt. Das
könnte man so verstehen, dass die meisten Psychiater dem Patienten
es erst gar nicht zutrauen, sich selbst zu helfen und diese Form
der Therapie, die die AA vor 60 Jahren erfunden haben (mit großem
Erfolg!), viel zu wenig ernst nehmen. Viele Psychiater scheinen
Angst zu haben, dadurch überflüssig zu werden. Die meisten
Psychiatrieüberlebenden haben solche Vereinigungen erst nach
ihrem Aufenthalt kennengelernt oder mussten sie z.T. selber gründen.
(1l)
Die Frage nach der Ausbildung derjenigen, die einem in existenziellen
Krisen zur Seite stehen müssten, deren Hilfe man also im Krankenhaus
erwarten dürfte, wurde sehr unterschiedlich gesehen. Viele
hatten keine Meinung dazu (30%), aber die meisten äußerten
sich dahingehend, dass eine andere Einstellung dem Kranken gegenüber
unbedingt in der Ausbildung angestrebt werden müsse: »Die
Psychiater sollten fähig sein, sich selbst, ihre eigenen Werte
und Normen in Frage zu stellen«, »Ehrfurcht vor dem Leben
im Sinne von A. Schweitzer«, »Humanität«,
»Liebe«, »Selbsterfahrung«, »Supervision«
wurden gefordert. »Menschliches Einfühlungsvermögen
ist unabdingbar, wobei medizinisches Fachwissen eher hinderlich
als förderlich ist.« Natürlich sollten die Ärzte
psychologisch geschult sein, willig, von den Psychoseerfahrenen
zu lernen (Trialog, Psychoseseminar), der Respekt vor »dem
anderen« müsse immer da sein, auch wenn dem Psychiater
damit sein eigenes, negatives Selbstbild u.U. vor Augen geführt
wird und bei ihm entsprechend Angst auslöst. »Mehr Innenansicht«,
»Wissen um seelisch-geistige Zusammenhänge«, »Besonnenheit,
Güte, Väterlichkeit bzw. Mütterlichkeit«, möglichst
eigene Psychoseerfahrung, auf alle Fälle eigene Erfahrungen
mit Haldol könnten die Ausbildung zum Psychiater verbessern
helfen. Gewünscht wurde außerdem eine »Ausbildung
in Vorurteilsfreiheit, Staunen, Gewährenlassen, Mut machen
und im Nichtproblematisieren«. Kritik an der naturwissenschaftlichen
Ausbildung der meisten Psychiater greift immer mehr um sich (20%),
weil sich deren Illusion, die Psychose mit Medikamenten heilen zu
können, durch ihren unerschütterlichen Glauben an die
»Wissenschaft« eher verhärtet. »Neuroleptika
wurden zur Beruhigung der Ärzte erfunden und helfen nur denjenigen,
die sie nicht nehmen müssen. Sie hemmen den Zugang zu den eigenen,
leidenschaftlichen, bewegenden, leider auch Angst auslösenden
Gefühlen und können niemals den mitmenschlichen Kontakt
ersetzen.«
(2)
Der zweite Abschnitt des Fragebogens befasst sich mit der Qualitätssicherung,
wobei 10% der Befragten rigoros eine Existenzmöglichkeit derselben
für unmöglich hielten. Die Forderungen sind vielfältig
und stehen reziprok zur Frage 1 und ihren Untergruppen.
(2a)
Da 54 verschiedene Forderungen eingegangen sind, seien hier die
am häufigsten genannten erwähnt und solche, die vielleicht
neuen Perspektiven alternativer Behandlungsmöglichkeiten richtungsweisende
Anstöße geben könnten:
-
Beachtung der Menschenwürde, Wärme und menschliche
Zuwendung,
-
individuelle Begleitung,
-
angstfreies Vertrauensverhältnis.
Weiterhin:
-
die Möglichkeit zu offener Kritik,
-
Förderung der Selbständigkeit,
-
Schulung im Früherkennen der Symptome,
-
Abschaffung der krankmachenden Lebensbedingungen,
-
Beistand bei der Erfüllung von Bedürfnissen,
-
möglichst wenig Medikamente,
-
Heilung ohne Dauermedikation,
-
Akzeptanz als Mensch, nicht als »Fall«,
-
Erkennung der Krankheitsursachen,
-
partnerzentriertes Verhalten,
-
soziales Lernen,
-
Toleranz,
-
Aufklärung.
(2b)
Auf die Frage, wie denn die Qualität in der Psychiatrie
erfasst werden könne, antworteten die meisten der Betroffenen
mit dem Wunsch nach dem Ernstnehmen ihrer Person.
Weiterhin wurde der Wunsch nach entsprechender Ausbildung geäußert,
ebenso sehr nach Ombudsleuten, Kontrolle von außen, nach
Weglaufhäusern.
Die Bevölkerung müsse viel stärker aufgeklärt
werden über Missstände in der Psychiatrie, Vorurteile
müssten abgebaut werden, Modelleinrichtungen (z.B. Enthospitalisierung
Wahrendorff) müssten geschaffen werden, Fragebögen müssten
an Patienten verteilt werden, ob diese auch zufrieden sind. Das
Gespräch mit dem primären Bezugspersonen müsse
regelmäßig und möglichst intensiv sein. Der Mensch
müsse als Ganzes gesehen werden; der Wunsch nach kleinen
Wohngruppen, möglichst zusammen mit psychisch Gesunden, nach
Gemeindepsychiatrie, Einführung einer Spiritualität,
christlicher Nächstenliebe und Ethik usw., wurde gefordert.
(2c)
Bei der Frage, wie denn die Qualität gesichert werden könne,
wurde immer wieder der Wunsch nach außenstehenden Gremien
laut. Besuchskommissionen, Selbsthilfeinitiativen, ebenso Forderungen
einer anderen Gesetzgebung, Reformierung des PsychKG, nach Ombudsleuten,
Beschwerdestellen, aber auch nach kleineren Stationen, mehr Supervision,
Öffentlichmachen aller Missstände in der Psychiatrie,
Datenerfassung beim BPE.
Die Kontrolle kann auch hier wohl nur von außen kommen,
der Ruf nach »Ernstnehmen der Fallgeschichten«, nach
»menschlicheren Psychiatern«, nach dem »Bearbeiten
der Ängste des Arztes vor dem Patienten«, der Wunsch
nach innerer Kontrolle also, wurde nur bei denjenigen laut, die
das Vertrauen in die Ärzteschaft noch nicht vollständig
verloren hatten.
(2d)
Was fehlt nun an der Durchführung einer qualitativ besseren
Psychiatrie?
Die Antworten decken sich hauptsächlich mit denen von 2a.
Über 50 kreative Ideen zeugen vom Engagement der Betroffenen.
Was fehlt, sind finanzielle Mittel und Kostenübernahme der
nonverbalen Therapien (Musik-, Tanz-, Körpertherapie) durch
die Krankenkassen und natürlich immer wieder: besser ausgebildetes
Personal.
Es fehlen Räume, wo man/frau auch mal psychotisch sein
darf, wo man »mal schreien darf, ohne dass das Personal gleich
in Ohnmacht fällt«.
Es fehlt an »christlichem Gedankengut« und an »Ärzten/Ärztinnen
und Pflegern/Schwestern, die selber an psychischen Krankheiten
leiden«.
Es fehlt die »freie Wahl der Kliniken« sowie die »freie
Wahl der Behandlungsmethoden«. »Die Psychiatrie ist
auch heute noch ein Ort, wo unschuldigen Bürgern die Freiheiten
geraubt werden können.«
Es fehlt die »Anerkennung des Patienten als ein wertvolles
Mitglied der Gemeinschaft«, es fehlt »an einem Denken,
das nicht abwertet, sondern das Erleben des Betroffenen in den
Mittelpunkt stellt«.
Es fehlt eine »feministische Psychiatrie, ein Ort, wo Frauen
Frauen behandeln«. Vielleicht gäbe es dort weniger Gewalt
und mehr Wärme und Zärtlichkeit.
(2e)
Was nach Meinung der Befragten überflüssig sei an der
Psychiatrie, wirkt zwar teilweise etwas grotesk, lässt sich
aber folgendermaßen zusammenfassen: erst mal die Psychiatrie
selbst, die Ärzte, die Gewalt, der Einsatz von Medikamenten,
Zwangsmaßnahmen, Elektroschocks, Fixierung, Verbote. Überflüssig
ist »das Denken, man könne die Psychiatrie verbessern,
ohne die Gesellschaft oder die Menschen zu verbessern« und
»ein Arzt, der besser über den Patienten Bescheid zu wissen
glaubt als dieser selbst«.
(3) Frage nach Alternativen zur Psychiatrie
Auch hier wurde eine Fülle von Vorschlägen und Ideen geäußert:
-
Homöopathische Medikamente,
-
Akupunktur,
-
Behandlung in kleinen Gruppen,
-
Selbsthilfe,
-
Rund um die Uhr eine Anlaufstelle außerhalb der Klinik,
Krisenintervention,
-
Weglaufhäuser,
-
mehr ambulante Hilfen,
-
Tagesstätten,
-
zuverlässige Freunde,
-
weiches Zimmer (Soteria),
-
Zusammenarbeit zwischen psychiatrisch Tätigen und den
Kirchen,
-
Zusammenarbeit mit den Angehörigen,
-
Nachbarschaftshilfe,
-
Zusammenarbeit mit dem Arbeitsamt,
-
mehr Stellen für meditativ (musiktherapeutisch) ausgebildete
Ärzte/Ärztinnen,
-
kritisches Hinterfragen der Leistungsgesellschaft,
-
Alternativen nach Mosher und Laing,
-
Übertragung von Erfahrungen aus Heiligenfeld und Bad
Herrenalb.
Insgesamt geht aus den uns vorliegenden Antworten auf die gestellten
Fragen hervor, dass unbedingt ein Wandel der Einstellung erfolgen
muss, zunächst erstmal in den Ärzten selber, aber ebenso
in der Gesellschaft, in den Ausbildungsstätten und Therapiezentren.
Es fehlt an hierarchiefreien Zonen. Denn jegliche Art von Hierarchie
lässt die alte Eltern-Kind-Situation mit negativen Auswirkungen
für den Patienten wieder neu entstehen.
Betrachtet man die Ergebnisse dieser Umfrage, so kann man davon
ausgehen, dass die Psychiatrie noch immer ein Ort ist, wo unter
dem Deckmantel der Liebe bzw. Fürsorglichkeit ein Übermaß
an Menschenrechtsverletzungen tagtäglich geschehen kann und
wahrscheinlich auch geschieht, zumindest gaben 90% der Befragten
an, dass die Menschenwürde nicht geachtet worden wäre.
Solange ein Arzt also immer noch glaubt, dem Patienten sein Selbstbestimmungsrecht,
seine Würde, seine Phantasie, seine Kreativität und Expressivität
mit Hilfe der Medikamenten wegnehmen zu müssen, um ihn lenkbarer,
wehrloser, verfügbarer machen zu können, solange muss
die Psychiatrie ein Ort der Erziehung zur »Normalität«,
der Disziplinierungsmaßnahmen, Schikane und Unmenschlichkeit
bleiben. Erst wenn es dem Arzt gelänge, im kranken, hilflosen
Gegenüber das abgespaltene, schwache Selbst zu sehen und vor
allem, es zu lieben, könnte eine Relativierung des Krankheitsbegriffes
erfolgen und die Diagnosen könnten ihre beängstigende,
stigmatisierende Etikettierung verlieren.
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