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des Antipsychiatrieverlags
in: Co`med
Fachmagazin für Complementär-Medizin (BRD), 3.
Jg. (1997), Nr. 5, S. 20-21 /
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Peter
Lehmann
Unter Psychopharmaka: Psychotherapie oder Beeinflussung?
Mit Antidepressiva und Neuroleptika, sogenannten antipsychotischen Medikamenten, lassen
sich als krank definierte Gefühle und damit verbundene Handlungsweisen unterdrücken,
ebenso körperliche Unpässlichkeiten und Reaktionen. Ob unter psychopharmakologischem
Einfluss eine vernünftige, konfliktaufdeckende und -verarbeitende Therapie
möglich ist, scheint allerdings mehr als fraglich. Bei der Betrachtung der
psychischen Wirkungen der Antidepressiva und Neuroleptika drängen sich massive
Zweifel an der Behauptung auf, Psychopharmaka würden psychotherapeutisches
Zugehen auf die Betroffenen ermöglichen. Es sei denn, man verstünde
darunter eine Maßnahme der Psychosteuerung.
Die kurzfristige Pharmawirkung,
sofern sie überhaupt wie gewünscht eintritt, zieht mittel- und langfristig
häufig eine Chronifizierung der ursprünglichen Probleme nach sich, ganz
zu schweigen von den vielfältigen schädigenden Wirkungen auf das zentrale
Nervensystem, das Vegetativum und den Muskelapparat sowie Tendenzen zur Abhängigkeit
und damit verbundene Entzugsprobleme (die in diesem Beitrag ausgeklammert sein
sollen). Oder es entstehen neue störende Gefühle, die, basierend auf
Veränderungen im Nervenreizleitungssystem, kaum noch mit lebensgeschichtlichen
Konfliktverarbeitungsversuchen zu tun haben und zu ihrer jeweils momentanen Neutralisierung
neue, noch tiefer eingreifende Maßnahmen mit noch größeren Risiken
und Folgeschäden nach sich ziehen, z.B. Elektroschocks und sogar hirnchirurgische
Eingriffe. Auch die neuen Psychopharmaka, ob antidepressive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer
à la Fluctin oder atypische Neuroleptika à la Leponex, Risperdal und
Zyprexa, können gravierende Auswirkungen haben, basierend auf tiefen Eingriffen
ins Transmittersystem.
Die Gefühle der Behandelten mögen sich
zwar oberflächlich verändern, Unwohlsein, Ratlosigkeit, Angst und Verzweiflung
durch die angewendeten Maßnahmen manchmal unterdrückt werden: all die
unangenehmen, als krank definierten Gefühle, Ausdruck von Lebensproblemen
sozialer und psychischer Natur, bleiben bei den Betroffenen. Die Chemobehandlung
bewirkt, dass nur noch sie selbst von ihren Gefühlen gestört werden,
sofern sie diese überhaupt noch spüren. Entäussern können
sie diese Gefühle jedoch nicht mehr, sie sind quasi chemisch geknebelt.
Antidepressiva
Antidepressiva wirken sich im psychischen
Bereich tendenziell in der Weise aus, dass ein Teil der Behandelten ruhiggestellt
wird, passiv, stumpf, emotionslos, erstarrt oder suizidal. Andere werden unruhig,
erregt, desorientiert, verwirrt, delirant, ängstlich, aggressiv oder manisch,
sie halluzinieren und entwickeln gelegentlich toxische Psychosen. Die Persönlichkeit
ändert sich, das Suizidrisiko steigt enorm. Alle diese Störungen treten
unter sogenannten therapeutischen sowie unter moderaten und niedrigen Dosierungen
auf, unabhängig vom Anlass der Verabreichung und auch bei als normal geltenden
Versuchspersonen. Die antidepressive Wirkung besteht zum Großteil aus einer
Abflachung der Empfindungsfähigkeit. Leid wird nicht mehr gespürt. Mittel-
und langfristig kann es zur Verstärkung der Depressionen kommen. In diesen
Fällen laufen die Betroffenen Gefahr, dass man die Dosis erhöht, ein
zusätzliches Psychopharmakon oder ein Gemisch dieser Substanzen oder gar
Elektroschocks einsetzt.
Unter der Hand werden Bedenken geäußert,
Antidepressiva könnten Depressionen chronifizieren. Schon Mitte der 60er
Jahre zeigte sich, dass depressive Phasen bei sogenannten endogen Depressiven
in zunehmendem Ausmaß nicht mehr richtig aufhörten, sondern es notwendig
erscheinen ließen, die Antidepressiva immer weiter zu verabreichen. Frühere
Phasen der gleichen Patienten hatten ohne Antidepressiva wesentlich kürzer
gedauert. So kam der Verdacht auf, diese ungewöhnliche Verlängerung
von Phasen sei das Ergebnis der Antidepressiva selbst.
Auch die neuen Antidepressiva,
die Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SRI), verändern das Transmittersystem,
im synaptischen Spalt steigt die Konzentration von Serotonin. Der Organismus reagiert
jedoch mit einer Abnahme der Rezeptoren: Folge der Down-Regulation, des Kompensationsversuchs
des Körpers auf von außen kommende Eingriffe. Auf die Dauer kommt es
zu einer verminderten Serotoninwirkung. Marc Rufer, Arzt und Psychotherapeut in
Zürich, warnte denn auch:
»Wenn die Serotoninmangel-Hypothese
der Depression richtig wäre, müssten die SSRI schwerste Depressionen
bewirken.
Neuroleptika
Bei
Neuroleptika tritt tendenziell eine Senkung des psychischen Energieniveaus auf
mit der Folge von Apathie, Interesselosigkeit, Initiativverarmung, Verlust bzw.
Verminderung des Antriebs und des Willens, Dahindämmern, gefühlsmäßiger
Stumpfheit, emotionaler Panzerung und Einfrierung des Gefühlslebens. Motorik
und Stimmung werden gespalten, Triebe, Affekte und Psychomotorik unterdrückt.
Die Persönlichkeit der Behandelten ändert sich. Hinzu können Gefühle
der Leistungsunfähigkeit kommen, der Minderwertigkeit und der Verzweiflung
einschließlich der Tendenz, bei einem noch mobilisierbaren Rest von Energie
diesem Leiden ein Ende zu setzen, insbesondere bei ausgesprochen quälenden
körperlichen Wirkungen wie z.B. der Sitzunruhe. Gleichmut wäre für
viele Behandelte durchaus erträglich angesichts der häufig depressiv
und suizidal machenden Wirkung der Neuroleptika. Mit eindeutigen Worten machte
z.B. Frank Ayd von der Psychiatrischen Abteilung des Franklin Square Hospital
in Baltimore auf mögliche Suizidtendenzen als Neuroleptikawirkung aufmerksam:
»Es besteht nun eine allgemeine Übereinstimmung, dass milde
bis schwere Depressionen, die zum Suizid führen können, bei der Behandlung
mit jedem Depotneuroleptikum auftreten können, ebenso wie sie während
der Behandlung mit jedem oralen Neuroleptikum vorkommen können.
Neuroleptika,
die eigentlich einen vermuteten Dopaminüberschuss bekkämpfen sollen,
können im Lauf der Zeit zu einer spezifischen Veränderung des Nervensystems
führen: zu einer unnatürlichen und chronischen Erhöhung der Zahl
der Dopaminrezeptoren sowie zu einem erhöhten Dopaminspiegel. Der Organismus
reagiert auf die künstliche chemische Blockade der Dopaminrezeptoren mit
der Bildung zusätzlicher Rezeptoren, die sich nach dem Ende der Neuroleptikaverabreichung
nicht immer zurückbilden, so dass es zu einem Ungleichgewicht von Transmittern
und Rezeptoren und/oder einer Übersensitivität der Dopaminrezeptoren
kommen kann. Es tritt eine Toleranzentwicklung gegenüber der sogenannten
antipsychotischen Wirkung auf, d.h. die Dosis muss ständig erhöht
werden, um die ursprüngliche Wirkung aufrechtzuerhalten. Im letzten Stadium
schließlich bewirken Neuroleptika überhaupt nichts mehr, es ist eine
irreversible, hirnorganisch bedingte Psychose entstanden. Insbesondere atypische
Neuroleptika bergen diese Gefahr, die im Tierversuch nachgewiesen wurde. In Schweden
beispielsweise, wo man Clozapin (Leponex) intensiv einsetzte, wurden bei einer
ganzen Reihe von Betroffenen beim Absetzen von Clozapin psychotische Symptome
in einer Stärke festgestellt, die vorher nicht vorhanden war. Urban Ungerstedt
und Tomas Ljungberg, Mitarbeiter der Histologischen Abteilung des Karolinska Instituts
in Stockholm, fragten 1977 nach Neuroleptikaexperimenten an Ratten, ob die neuen
antipsychotischen Medikamente, die spezifische Rezeptoren
blockieren, nicht etwa eine spezifische Rezeptorensupersensibilität
und somit spezifische Nebenwirkungen verursachen, d.h. das behandelte
psychische Problem selbst potenzieren.
Therapie unter Psychopharmaka?
Abgesehen
von der Gefahr akuter toxischer Reaktionen oder chronischer Veränderungen
stellt sich schon bei normaler Psychopharmakawirkung die Frage, wie unter emotionaler
Panzerung speziell unter Antidepressiva und Neuroleptika eine Psychotherapie stattfinden
kann, die verborgene Konflikte aufdecken und lösen hilft. Intern ist auch
biologischen Psychiatern dieses Problem durchaus klar. Nach seinem Selbstversuch
mit dem Neuroleptika-Prototyp Chlorpromazin (Schweizer Handelsname Largactil)
wies Klaus Ernst von der Psychiatrischen Universitätsanstalt Zürich
schon in den 50ern auf den zweischneidigen Charakter der modernen psychopharmakologischen
Symptomdämpfung hin, als er die neuroleptische Hauptwirkung beschrieb:
»Für uns liegt das Schwergewicht auf der Erzeugung eines
soweit wir bis heute wissen reversiblen hirnlokalen Psychosyndroms.
Diese Auffassung bringt auch die Frage nach dem Verhältnis zur begleitenden
Arbeitstherapie und zur Psychotherapie mit sich. In bezug auf die erstere können
wir uns kurz fassen. Die Largactilkur verträgt sich ausgezeichnet mit jeder
routinemäßigen Arbeitstherapie. Die Kranken stehen schon nach wenigen
Tagen auf und nehmen ohne erhebliche orthostatische Beschwerden an der Arbeit
teil. Freilich handelt es sich um leichte Arbeit unter pflegerischer Aufsicht.
Komplexer ist das Problem des Zusammenwirkens mit der Psychotherapie. In der Erinnerung
an unsere Selbstversuche können wir uns zunächst eine gleichzeitige
Psychotherapie an uns selber kaum vorstellen. (...) Außerdem müssen
wir zwischen der führenden und der entwickelnden Psychotherapie unterscheiden.
Für die erstere bildet die entspannende Wirkung des Medikamentes eine gute
Voraussetzung. Wir sind uns aber klar darüber, dass das Mittel die gesamte
und nicht nur die krankhafte Affektivität dämpft. Eine solch umfassende
Dämpfung könnte vielleicht auch diejenigen Impulse erfassen, die Selbstheilungstendenzen
entspringen. Einzelne freilich unkontrollierbare Eindrücke bei akut Erkrankten
ließen uns sogar die Frage aufwerfen, ob nicht unter der medikamentösen
Apathisierung eine Stagnation der psychotischen Entwicklung auftreten kann, die
nicht bloß das Rezividieren, sondern auch das Remittieren betrifft.«
Unabdingbare Voraussetzung für die Möglichkeit,
sich an die Lösung psychischer Probleme zu machen, ist ein von chemischen
Beeinträchtigungen freies psychisches Potential. Ob sich die Betroffenen
alleine, gemeinsam mit Nahestehenden, in Selbsthilfegruppen, in psychotherapeutischen
Beziehungen oder durch Hilfe von Homöopathen oder Naturheilkundlern mit den
eigenen Schwächen, Problemen, Ängsten und Blockaden, sofern vorhanden,
auseinandersetzen wollen: dies ist unter Psychopharmakaeinfluss ebenso schwer
vorstellbar wie unter Alkohol oder dem Einfluss sonstiger persönlichkeitsverändernder
und benommen machender psychotroper Substanzen. Mit dem Glauben an die wirksame
Hilfe durch den richtigen Arzt und seine richtige Psychopille in der richtigen
Dosis endet zu oft die Möglichkeit, eine Krise als Chance angemessener Wirklichkeitsverarbeitung
zu erkennen, Einsicht in die Kontinuität des eigenen Lebens in all seiner
Vielfalt zu gewinnen und die vorhandenen realen existentiellen Probleme in eigener
Verantwortung und mit geeigneter fachlicher Hilfe anzupacken.
Dieser kritischen
Darstellung wird von der herrschenden Medizin mit Sicherheit vehement widersprochen.
Psychopharmaka würden ein neues Gleichgewicht gestörter Transmitterfunktionen
herstellen und die Behandelten dadurch auch psychotherapeutischen Maßnahmen
zugänglich machen. Bei vielen psychischen Problemen unter Psychopharmakabehandlung
handle es sich um Symptomverschiebungen der postulierten primären Krankheit.
Liest man jedoch die Fachliteratur, sieht man sich eines besseren belehrt und
erkennt in dieser Argumentation eine leicht durchschaubare Schutzbehauptung. Durch
Auslass- und Doppelblindversuche, unter denen sich der psychische Zustand der
Behandelten jeweils dramatisch veränderte, wird es leicht, Störungen
als Auswirkungen der Psychopharmaka zu erkennen. Auch die übereinstimmenden
Ergebnisse von Selbst- und Tierversuchen sprechen eine klare Sprache. Ernsthafte
Therapeuten sollten sich wirklich nicht mehr wundern, weshalb ihre Klienten unter
psychopharmakologischem Einfluss oft so verschlossen wirken. Therapeuten, die
sich nicht auf Aussagen der Pharmawerbung oder wohlklingende Lehrbuch-Versprechungen
von Psychiatern verlassen wollen, tun gut daran, sich näher mit der Wirkungsweise
von Psychodrogen zu befassen und sich eine fundierte und unabhängige Meinung
zu bilden.
Weiterführende Literatur
Peter
Lehmann: Schöne neue Psychiatrie. Band 1: Wie Chemie
und Strom auf Geist und Psyche wirken, Band 2: Wie Psychopharmaka
den Körper verändern, Berlin: Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag
1996 (E-Book-Ausgaben 2022)
Copyright by Peter
Lehmann 1997-2024