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Peter Lehmann & Craig Newnes (Hg.)

Psychopharmaka reduzieren und absetzen – Praxiskonzepte für Profis, Betroffene, Angehörige

Einleitung

Ich bin völlig verzweifelt und suche bereits seit zehn Monaten nach einem Ausweg, um der Entzugshölle zu entkommen oder die Symptome wenigstens lindern zu können.

Ich habe von 2004 bis zum Januar 2022 Escitalopram [1] in wechselnden Dosierungen verschrieben bekommen und das Präparat innerhalb von fünf Wochen schrittweise reduziert und dann vollständig abgesetzt. Seitdem erlebe ich unerträgliche Zustände, welche ich zuvor niemals in diesem Ausmaß hatte. Die starken Nebenwirkungen der Escitalopram-Einnahme zwangen mich zum Absetzen, was ich zuvor schon einmal versucht hatte, jedoch dann die Tabletten erneut wieder einnahm, da ich es nicht aushielt. Spätestens da hätten bei mir und meinem Arzt die Alarmglocken schrillen müssen, aber ich habe jahrelang einfach nur teilnahmslos geschluckt und geschluckt!

Anfangs hatte ich nach dem Absetzen starke grippeähnliche Symptome, starke monatelange Übelkeit, stromschlagähnliche Empfindungen im Kopf und an anderen Körperteilen, Bewegungsstörungen, Sehstörungen, Muskelkrämpfe. Das alles hat inzwischen nachgelassen, nach nunmehr zehn Monaten Absetzzeitraum. Doch zeitverzögert hat sich eine permanente körperliche Schwäche entwickelt, vor allem in den Armen spürbar, dazu kamen unerträgliche Angstzustände, chronische Appetitlosigkeit, starker Schwindel, Verwirrtheit, Brain Fog [2], ein Gefühl der totalen Empfindungslosigkeit, Hoffnungslosigkeit und Freudlosigkeit, es gibt keinerlei spontanen Emotionen mehr, ich kann mich für nichts mehr entscheiden, auch für die simpelsten Dinge nicht, ich überlege ewig hin und her, dazu ein starker Tinnitus, schwere Depressionen, Selbstmordgedanken, ich lebe nur noch in der Vergangenheit, habe eine starke Sehnsucht nach früheren Zeiten.

Ich erlebe schon beim Aufwachen morgens immer dieses schreckliche unbeschreibliche Gefühl, das meinen Alltag so massiv einschränkt, ich bin schon das ganze Jahr überwiegend krankgeschrieben und habe auch große Angst um meine Existenz, große Zukunftsangst.

Ich weiß nicht, wie lange ich diesen Zustand noch aushalten kann, ich versuche ja seit Monaten, eine Linderung zu erreichen, indem ich verschiedene Nahrungsergänzungsmittel und Phytopharmaka, also nur pflanzliche Mittel, einnehme und habe dadurch schon viel Geld ausgegeben, vergeblich. Meine Krankenkasse übernimmt ja leider keine Kosten für orthomolekulare und ganzheitliche Medizin, nur diese teuren Antidepressiva, die wurden jahrelang bezahlt!

Solche Anfragen bekomme ich (P. L.) seit Jahren in zunehmender Zahl. Hilfesuchende fragen mich, an wen sie sich wenden können. Aber was kann ich antworten?

Die Anfrage kommt von Rainer Schmid aus Ulm. Sollte jemand einen Vorschlag haben, was er gegen die Entzugsprobleme machen kann, würde er sich freuen, wenn Sie direkt Kontakt mit ihm aufnehmen: rainerschmid-ulm[at]t-online.de. Peter Lehmann, 10. November 2023

Die »Psychopharmaka reduzieren und absetzen« präsentiert Erkenntnisse und Erfahrungen von professionell Tätigen, Betroffenen und Angehörigen, um Menschen zu helfen, die Schäden (einschließlich der Medikamentenabhängigkeit) zu verstehen, die ärztlich verschriebene Psychopharmaka verursachen – allen voran Antidepressiva und Neuroleptika (Antipsychotika), die im Mittelpunkt dieses Buches stehen. Im ersten Teil »Vorbereitung auf das Reduzieren und Absetzen von Psychopharmaka« zeigen die Autorinnen und Autoren, dass das Absetzen von Psychopharmaka sinnvoll und medizinisch geboten sein kann. Sie belegen die zweifelhafte prophylaktische Wirkung von Antidepressiva und Neuroleptika und die Gefahr einer Chronifizierung der ursprünglichen Probleme durch die fortgesetzte Einnahme. Dabei gibt es eine Reihe von Prädiktoren, die auf ein erfolgreiches Absetzen schließen lassen.

Das Buch erschien 2021 original in englischer Sprache mit Beiträgen aus vielen Ländern zu allen möglichen Aspekten des Absetzens ärztlich verschriebener Psychopharmaka. In die deutschsprachige Ausgabe haben wir nur die Kapitel mit unmittelbarem Praxisbezug übernommen. Gleichzeitig haben wir diese Ausgabe ergänzt durch die Beschreibung einer sich in Deutschland entwickelnden Kultur institutioneller Unterstützungsangebote beim Absetzen von Psychopharmaka. Begünstigt durch eine fortgeschrittene Diskussion zur Problematik unterlassener Hilfeleistung beim Absetzen von Psychopharmaka sind »Leuchtturmprojekte« entstanden. Diese Ansätze haben wir in Teil 2, »Institutionelle Strategien und Konzepte«, integriert, in welchem es um institutionelle Unterstützung in Krisen während des Absetzens von Psychopharmaka und um Psychopharmakareduktion in der psychiatrischen Klinik und der Institutsambulanz geht.

Egal ob in der Klinik, in gemischtem Setting oder ambulant: Immer deutlicher wurde in den letzten Jahren die Notwendigkeit des langsamen Ausschleichens nach längerer Zeit der Psychopharmakaeinnahme. Insofern legten wir ein besonderes Augenmerk auf das hyperbolische, das heißt gegen Ende des Absetzprozesses in immer kleiner werdenden Schritten vorgehende Absetzen. Weitere Kapitel betreffen den Umgang mit Reboundeffekten sowie das Absetzen von Psychopharmaka-Kombinationen – eine allgegenwärtige Problematik, um welche die mainstreamorientierte Ärzteschaft weltweit einen großen Bogen schlägt.

In einer Situation, in der psychiatrische Hilfeangebote – von den genannten »Leuchttürmen« abgesehen – Mangelware sind, spielen Ansätze der Selbsthilfe eine wichtige Rolle. Sie finden sich in Teil 3, »Strategien und Konzepte der Selbsthilfe und der unterstützten Selbsthilfe«. Alternativ und/oder komplementär sind hier Ansätze der Angehörigen- und Peerunterstützung beim Absetzen von Psychopharmaka beschrieben sowie eine spezielle kooperative Unterstützung in Griechenland, gemeinsam getragen von professionell und ehrenamtlich Tätigen sowie Psychiatriebetroffenen. Teil 3 endet mit einem Überblick über Onlineplattformen als Hilfe zur Selbsthilfe beim Entzug von Psychopharmaka.

Alle Beiträge zeigen, dass es unerlässlich ist, Menschen zu unterstützen, wenn sie den Entschluss getroffen haben, ihre Psychopharmaka zu reduzieren oder ganz abzusetzen oder wenn sie diese aus gesundheitlichen Gründen absetzen müssen. Insofern begrüßen wir die Forderung der Arbeitsgruppe Willkürliche Unterbringung des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen nach einem wirksamen Rechtsschutz für Menschen mit Behinderungen. Menschen mit psychiatrischen Diagnosen zählen zu diesem Personenkreis. 2015 forderte die Arbeitsgruppe in ihrem Bericht an die Generalversammlung der Vereinten Nationen spezielle Unterstützungsprogramme:

»Solche Unterstützungsprogramme sollten sich nicht auf die Bereitstellung psychosozialer Dienste oder Behandlungen konzentrieren, sondern kostenlose oder erschwingliche gemeindenahe Dienste einschließen, ebenso Alternativen, die frei von medizinischen Diagnosen und Eingriffen sind. Der Zugang zu Medikamenten und die Unterstützung beim Absetzen von Medikamenten sollte denjenigen zur Verfügung gestellt werden, die sich dafür entscheiden.« (Working Group on Arbitrary Detention 2015, S. 25 – Hervorhebung P.L. & C.N.)

Im gleichen Jahr wurde diese Forderung im selben Wortlaut in die Richtlinie 14 (»Freiheit und Sicherheit der Person«) der UN-Behindertenrechtskonvention aufgenommen (CRPD 2015).

Von solchen Unterstützungsprogrammen sind Millionen von Menschen, denen Psychopharmaka, insbesondere Antidepressiva und Neuroleptika verschrieben werden, noch weit entfernt. Trotz der beschriebenen hoffnungsvollen Ansätze im deutschen Sprachraum stehen die Betroffenen in aller Regel allein da, wenn sie keine Psychopharmaka mehr einnehmen wollen und Hilfe beim Absetzen benötigen. So befasst sich der vierte und letzte Teil, »Schlussbetrachtung«, unseres Buches mit der Frage, was Betroffene tun können, wenn sie beim Absetzen keine Unterstützung bekommen. Ebenso wichtig ist die Frage, was zu tun ist, damit Krankenkassen in Leistungen investieren, die Betroffenen helfen, aus der Spirale immer neuer Psychopharmakaverschreibungen sowie zunehmender Behandlungen von immer mehr psychopharmakabedingten Erkrankungen (»Nebenwirkungen«) herauszukommen.

Das Buch verfolgt weitere Ziele: Es soll Verfasser von Behandlungsleitlinien veranlassen, diese den realen Problemen anzupassen. Es soll Herstellerfirmen dazu bewegen, Warnungen vor Medikamentenabhängigkeit und Informationen zum risikoarmen Reduzieren und Absetzen in ihre Medikamenteninformationen für die Ärzteschaft und in die Beipackzettel für Apotheker und Betroffene aufzunehmen. Es soll Juristinnen helfen, bei Rechtsverstößen wegen Behandlungsschäden aufgrund fehlender informierter Zustimmung oder Falschinformation über Behandlungsrisiken fachgerechte Urteile zu fällen. Es soll Betreuerpersonen, und Richtern und Richterinnen helfen, Vorschläge von Psychiatern zur gerichtlichen Verfügung einer Psychopharmakabehandlung kritisch zu hinterfragen. Es soll Journalistinnen Kenntnisse geben, sich im Dschungel der Desinformation zu Abhängigkeitsproblematiken zu orientieren. Und es soll Krankenkassen, Versicherungen und politische Entscheidungsträger dazu bringen, Finanzierungskonzepte kritisch zu überdenken und endlich Unterstützungsprogramme zu fördern und zu finanzieren. Es ist Zeit, dass Menschen Unterstützung finden, wenn sie sich für das Reduzieren und Absetzen von Psychopharmaka entscheiden, und diejenigen, die die Unterstützung gewähren, sie rechtssicher und angemessen bezahlt leisten können.

Vor allem aber soll das Buch professionell Tätigen, Betroffenen, ihren Angehörigen und ihrem Freundeskreis nicht nur Hoffnung geben, sondern eine konkrete Gebrauchsanleitung bieten, worauf sie beim Absetzen von Psychopharmaka besonders achten sollten bzw. wie sie kompetent unterstützen können.

Peter Lehmann & Craig Newnes
Berlin & Lancaster, 17. März 2023

Literatur

  • CRPD – Committee on the Rights of Persons with Disabilities (2015). Guidelines on article 14 of the Convention on the Rights of Persons with Disabilities – The right to liberty and security of persons with disabilities.Angenommen während der 14. Sitzung des Komitees im September 2015. Online-Ressource https://www.ohchr.org/sites/default/files/Documents/HRBodies/CRPD/14thsession/GuidelinesOnArticle14.doc (Zugriff am 17.2.2023)

  • Working Group on Arbitrary Detention (6.7.2015). Report to the United Nations, General Assembly, Thirtieth session, agenda item 3 (Promotion and protection of all human rights, civil, political, economic, social and cultural rights, including the right to development). Dokument A/HRC/30/37. Online-Ressource https://www.ohchr.org/en/documents/thematic-reports/ahrc3037-united-nations-basic-principles-and-guidelines-remedies-and (Zugriff am 17.2.2023)

Fußnoten

[1] Antidepressivum; in Deutschland, Liechtenstein, Österreich und der Schweiz derzeit im Handel als Cipralex, Escitax und Pramulex.Pfeil

[2] Beim Brain Fog (Gehirnnebel) handelt es sich um Phänomene, die einem jegliche Konzentration rauben und den Blick aufs Wesentliche »vernebeln«. Man kann nicht mehr klar denken und wird vergesslich.Pfeil


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