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Peter Lehmann & Craig Newnes (Hg.)

Psychopharmaka reduzieren und absetzen – Praxiskonzepte für Fachkräfte, Betroffene, Angehörige

Geleitwort

Liebe Leser*innen,

noch heute kann ich mich gut an eine Bankkauffrau erinnern, die mit Ende 20 zu mir in die psychotherapeutische Behandlung kam und bereits seit acht Jahren ein Antidepressivum der SSRI-Gruppe einnahm. Aufgrund ihres Kinderwunsches wollte sie nach dieser langen Zeit das Psychopharmakon absetzen. Der Absetzprozess war für sie und mich herausfordernd. Auf die erheblichen Absetzphänomene waren wir damals beide nicht gut vorbereitet. Sowohl Betroffene, als auch Angehörige, aber vor allem die Verordnenden müssen besser über den Prozess des Absetzens informiert sein. Dieser kann eine lange Zeit in Anspruch nehmen. Wieso hatte ich im Rahmen meiner Ausbildung zur Psychiaterin und Psychotherapeutin darüber nur so wenig gelernt?

Viel zu lange wurde der Tatsache zu wenig Beachtung geschenkt, dass Psychopharmaka nicht automatisch eine Dauermedikation sein müssen, sondern in der Regel zu gegebener Zeit wieder abgesetzt werden können und somit auch abgesetzt werden sollten. Die Gründe hierfür können unterschiedlich sein: sei es, dass die gewünschten Erfolge der Therapie eingetreten sind, sei es, dass belastende unerwünschte Wirkungen auftreten, sei es, dass die erhoffte Wirkung ausbleibt, oder sei es schlicht der Wunsch der Betroffenen, ohne diese Medikamente zu leben. Auch die Erkenntnis, dass Antidepressiva und Neuroleptika zu erheblicher Gewöhnung führen können, dass Absetzsymptome nicht selten und gelegentlich langfristig oder zeitversetzt auftreten und der Absetzprozess somit fachkundig und langfristig begleitet werden muss, setzt sich nur langsam in der Fachwelt durch.

Strittig ist bis heute, inwieweit es sich bei Absetzsymptomen möglicherweise um eine Entzugssymptomatik in Folge von Abhängigkeitsentwicklungen handelt. Die einen argumentieren im Wesentlichen, eine körperliche Abhängigkeit von Psychopharmaka liege nicht vor, da der Suchtcharakter fehlt. Die anderen – und das ist die Tendenz in diesem Buch – verweisen auf deutliche Hinweise auf eine Entzugsproblematik. Hier ist weitere Klärung notwendig. Klar ist, für die Behandelnden sollte gelten: Wer ansetzt, muss auch absetzen können. Bei jeder Therapie einer psychischen Erkrankung müsste es selbstverständlich sein, Betroffenen und ihren Angehörigen zuzuhören, sie in ihren Bedürfnissen, Beobachtungen und ihrem Erleben ernst zu nehmen und sie so zu begleiten, wie es in ihrem Sinne bestmöglich ist. Bezüglich der Absetzphänomene ist dies viel zu lange und zu oft nicht erfolgt. Oft werden diese als unerheblich abgetan oder als Rückfall fehlgedeutet. Die körperlichen und psychischen Folgen bereits bei einer Reduktion der Psychopharmaka sind nicht selten gravierend. Hilfe ist dabei notwendig und möglich.

Gut geplante und unterstützte Reduktionsprozesse verlaufen tendenziell erfolgreich, wenn die Psychopharmaka insbesondere nach längerer Einnahmezeit langsam abgesetzt werden. Nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für psychiatrisch Tätige ist es wichtig, Reboundsymptome sowie weitere Absetzsymptome von den ursprünglich behandelten Krankheitssymptomen zu unterscheiden. Ansonsten steigt die Gefahr immer länger und immer mehr Medikamente zu verordnen, die aufgrund der Erkrankung jedoch nicht notwendig wären. Es sollte selbstverständlich sein, dass die Rechte der Betroffenen respektiert werden und im multiprofessionellen Team sektorübergreifend gemäß ihren Optionen zusammengearbeitet wird. Es braucht mehr industrieunabhängige Forschung zu dem Thema (selbstverständlich unter Einbezug von Betroffenen) und ein größeres Bewusstsein für die Absetzproblematik, sowohl in der Ärzteschaft als auch gesamtgesellschaftlich.

Rufen nun die Autor*innen in unverantwortlicher Weise zum Absetzen von verordneten Psychopharmaka auf? Nein. Ich lese das Buch als Aufforderung zum verantwortungsvollen Umgang mit Psychopharmaka und somit auch verantwortungsvollem Absetzen. Verantwortungsvolles Absetzen heißt eben gerade nicht ad hoc und schnell, sondern sorgfältig und gut begleitet.

Indem Sie nun dieses Buch in Ihren Händen halten und lesen werden, tragen Sie bereits dazu bei, das wichtige Thema in den Fokus zu nehmen. Den Herausgebern und den Autor*innen gebührt Dank, dass sie den Blick auf einen bisher weitestgehend blinden Fleck der medizinischen Versorgung lenken. Für Betroffene, Angehörige und Profis ist es notwendig, dass eine verständliche und umfassende Aufklärung zu Beginn einer psychopharmakologischen Behandlung und die Begleitung beim Absetzen selbstverständlicher Bestandteil der Therapie werden.

Ich wünsche dem Buch viel Erfolg. Es ist ein richtungsweisender Beitrag zu einer langfristig besseren medizinischen und insbesondere psychiatrischen Versorgung, in der die Betroffenen den Platz einnehmen, der ihnen gebührt – das Zentrum der Aufmerksamkeit.

Meine frühere Patientin traf ich später an der Weser wieder. Sie ist inzwischen Mutter von zwei Kindern, arbeitet und hat seit damals keine Antidepressiva mehr benötigt.

Dr. Kirsten Kappert-Gonther, MdB


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