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Kerstin Kempker (Hg.)

Flucht in die Wirklichkeit – Das Berliner Weglaufhaus


Rezensionen


Ilse Eichenbrenner: Mutiger Kopfsprung

Zweifellos eines der schönsten Psychiatrie-Bücher überhaupt, pardon, natürlich ist dieser liebevoll gestaltete Band ein Antipsychiatrie-Buch. Und so bekommen Psychiater, Psychopharmaka und vor allem Bürokraten ihr verdientes Fett weg. Aber das macht »:Flucht in die Wirklichkeit«: noch nicht zu dem Knüller, den unverzüglich anzuschaffen ich Ihnen sowohl für zu Hause (Badewanne!) als auch für das Billy-Regal Ihrer Geschäftsstelle dringend anrate. Das Geheimnis dieses Buches ist, dass es endlich beschreibt, wie ›es‹ eigentlich geht. Was macht man eigentlich mit Menschen, die durchknallen? Was macht man acht Stunden lang tagsüber oder in der Nacht in einem Haus mit zehn oder zwölf Menschen, die Hunger haben, nicht schlafen können, pausenlos reden, sich im Keller verstecken? Wie realisiert man einen Traum, wie baut man ein waghalsiges Projekt auf? Womit verbringen Sozialarbeiter den Tag und wissen am Abend gar nicht, was sie den ganzen Tag über getan haben?

»:Flucht in die Wirklichkeit«: schildert den jahrelangen Kampf um das Weglaufhaus, den zähen Weg bis zur Realisierung, schildert den mühseligen Alltag aus Sicht der Profis und der Bewohner. Insider erfahren endlich, weshalb sich die Wege der Irrenoffensive und des »:Vereins zum Schutz vor psychiatrischer Gewalt«: trennten; Anfänger lernen etwas über Behörden, Bürokraten, Kostenübernahmen und lachen sich dabei halbtot.

Wer sich jetzt (Achtung: alternatives Projekt!) hektographierte, liederlich verleimte Blätter vorstellt, ist auf dem Holzweg. Das Buch ist übersichtlich gegliedert, sorgfältig redigiert und höchst professionell gestaltet. Zeichnungen, Fotos, Faksimiles, Astreines Papier!

Aber das beste ist die absolut umwerfende Schreibe der Herausgeberin und Hauptautorin Kerstin Kempker. Sie nimmt den Leser mit in das chaotische Büro, in die schlaflosen Nächte.

Nach der Lektüre ist eines sicher: Die Weglaufhäusler wissen, was sie tun. Für die Anerkennung dieses noch umstrittenen Projekts in der Fachwelt konnte das Team nichts Klügeres tun, als dieses offenherzige Buch schon nach so kurzer Zeit des Bestehens zu realisieren. Respekt!

In: Soziale Psychiatrie, 23. Jg. (1999), Nr. 1, S. 51-52 / PDF


Jürgen Blume: Weglaufen, aber wohin? Ein Berliner Projekt stellt sich vor

Die Erfahrungen vieler Psychiatrie-Erfahrener mit Anstalten, die Patienten unmündig machen, Therapie auf Medikation reduzieren und in denen Kommunikation oft zum bloßen Glotzen wird, haben zu einem einmaligen Projekt geführt. Nach zehnjähriger Auseinandersetzung öffnete in Berlin das antipsychiatrische »:Weglaufhaus«:, welches nun schon im dritten Jahr besteht.

Dieser Band ist eine Selbstdarstellung dieser Arbeit. Aus doppelter Sicht: der Bewohnerinnen und der Mitarbeiterinnen. Alle denkbaren Schwierigkeiten einer solchen Unternehmung kommen zur Sprache. Die Schwierigkeiten der Profis mit Menschen, die unter Schlaflosigkeit leiden, ununterbrochen reden oder sich verstecken. Die Probleme der Betroffenen, sich den Mitarbeitern verständlich zu machen, auszudrücken, was ihnen fehlt. Und die Schwierigkeiten aller Menschen im Weglaufhaus mit den Behörden. Beginnend in der »:Vorbereitungszeit«: und fortgesetzt bei der alltäglichen Arbeit.

Ein Buch, das Mut macht, auch andere Wege zu gehen, sich von den Knüppeln der Bürokratie und den selbst aufgebauten Hindernissen nicht verdrießen zu lassen. Ein Weg, bei dem nicht Medikamente, sondern die Kommunikation im Mittelpunkt steht.

In: Brückenschlag – Zeitschrift für Sozialpsychiatrie, Literatur, Kunst: Band 15/1999 (»:Orte der Heimat – Wo ist meine Seele zu Hause?«:), S. 235-236 / PDF


Lucinda Bee: Die Wirklichkeit der Utopie – witzig und schonungslos

Dies ist nicht nur ein Buch über den "anderen Ort", sondern eins über seine Realität und deshalb genauso schillernd und abwechslungsreich – ein Buch, in dem ganz unterschiedliche und bisweilen widersprechende Perspektiven auf die Verwirklichung einer Utopie nebeneinander stehen.

"Flucht in die Wirklichkeit" lädt auf intelligente und ziemlich witzige Weise dazu ein, darin zu stöbern und sich aus dem Kaleidoskop der Berichte und Kommentare selbst ein Bild von den ersten Erfahrungen mit einem bislang einzigartigen Antipsychiatrieprojekt zu machen.

Das was unmittelbar besticht und den Band sofort zu meinem Lieblingsbuch der Antipsychiatrie gemacht hat, ist die Ungeschminktheit, mit der hier bisweilen "krass subjektiv" – wie die Herausgeberin Kerstin Kempker selbst formuliert – Erfahrungen und Reflexionen von Bewohner/innen, Mitarbeiter/innen und politischen Unterstützer/innen aufeinandertreffen.

Dies Buch ist nicht nur radikal, weil es die Verwirklichung einer Praxis beschreibt, die radikal gegen die etablierte Psychiatrie und die diskret im Hintergrund agierende Pharmaindustrie gerichtet ist; sondern es ist auch radikal in der Offenheit, mit der es diese Praxis analysiert und ihre Schwierigkeiten benennt. Das sind einerseits Schwierigkeiten, die dem Weglaufhaus in der Auseinandersetzung mit der Bürokratie, der Politik oder zum Beispiel den teilweise unverständigen Nachbarn des Hauses entstanden sind. Das sind aber vor allem auch Probleme, die aus dem anderen Umgang mit Verrücktheit selbst resultieren. Hier lässt gerade der kaleidoskopische Blick ein ungeahnt intensives Bild entsehen: Was passiert wirklich, wenn verrücktes Verhalten auf engagierte und hilfsbereite Menschen trifft, die beschlossen haben, "dabei zu sein" und nach Möglichkeit zu verstehen? Diese Offenheit reißt einen Horizont auf, den ich in der psychologischen und psychiatrischen Fachliteratur schmerzlich vermisse. Vielleicht erlaubt erst dieser offene, selbstreflektive und gewissermaßen auch radikal untheoretische, aber multiple Blick eine Beschreibung dessen, was wirklich in der Auseinandersetzung mit Menschen, die uns als verrückt begegnen, passiert und passieren kann. Es ist deshalb kein Zufall, dass sich die fundamentale Blickverschiebung dieser gut durchdachten Anthologie mit dem Ansatz des Projekts trifft.

"Flucht in die Wirklichkeit" ist meine große Empfehlung nicht nur für Menschen, die nach politischen Alternativen zur Psychiatrie suchen, sondern für jeden, der mit verrückten Menschen zu tun hat und wissen will, wie – jenseits theoretischer Horizontverengungen – neue Möglichkeiten konkret werden können.

In: FAPI-Nachrichten, 19. Februar 2007

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