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Peter Lehmann & Craig Newnes (Hg.)

Psychopharmaka reduzieren und absetzen – Praxiskonzepte für Fachkräfte, Betroffene, Angehörige

Rezensionen

"Das Grundlagenwerk für Psychopharmaka-Absetzwillige und ihre Helfer" – Brigitte Siebrasse. In: Soziale Psychiatrie (Köln), 48. Jg. (2024), Nr. 2, S. 67. [Information zur Zeitschrift Soziale Psychiatrie siehe www.dgsp-ev.de/veroeffentlichungen/soziale-psychatrie/informationen-zur-zeitschrift]

"Ernstzunehmend" – Christoph Müller auf Amazon.de (7. November 2023)

Mit dem Buch "Psychopharmaka reduzieren und absetzen" wird vor allem eines vollzogen: Einmal mehr wird der Überzeugung, dass mit chemischen Mitteln den einzelnen Menschen irritierenden seelischen Phänomenen begegnet werden kann, eine Absage erteilt. Oder anders formuliert: Ein Paradigma wird vom Sockel gestoßen.

Seit Beginn der 2000er Jahre wird im deutschsprachigen Raum mit großem Engagement und manchmal auch deutlichen Konfliktlinien die sogenannte "Neuroleptika-Debatte" geführt. Das Buch ist ein neuer Anstoß, diese Debatte am Leben zu halten. Es sind ernstzunehmende Autorinnen und Autoren, die Peter Lehmann und Craig Newnes um sich geschart haben. Allen voran ein psychiatrischer Praktiker wie der Psychiater Stefan Weinmann. Er schreibt: "Das Psychopharmakon ist ein höchst unvollkommenes Hilfsmittel: Es wirkt wie eine Schrotflinte, die ihr Ziel treffen und hilfreich sein kann, aber dabei alles andere als selektiv ist. Es greift irgendwo in einen Regelkreis ein und ruft erhebliche Streuwirkungen hervor" (S. 24). Dies erscheint den Leserinnen und Lesern als harter Tobak. Schaut man sich eine andere Zuspitzung aus der Feder Weinmanns an, so wird deutlich, dass er nicht als Ideologe verstanden werden muss: "Über Psychotherapie lernen wir weit mehr als nur die Bewältigung der aktuellen Depression, während wir durch den Eingriff des Psychopharmakons ins Gehirn nichts lernen, höchstens, dass wir eine biologische Störung in uns trügen" (S. 30).

Das Buch ist eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Reduzieren und Absetzen von Medikamenten. Die Autorinnen und Autoren wägen immer wieder ab, thematisieren den Nutzen von Pharmaka in gleicher Weise wie die Schäden. Natürlich gehören die Autorinnen und Autoren der Buchbeiträge zu denjenigen, die die möglichst kleine Menge an Antidepressiva, Neuroleptika oder Benzodiazepine für die bessere Lösung halten.

Wenn es um die "professionellen Strategien und Konzepte" geht, wächst die Aufmerksamkeit der psychiatrischen Praktikerinnen und Praktiker. Jann E. Schlimme und Michael A. Schwartz mahnen, die Individualität bei der Verordnung zu beachten. Martin Zinkler stellt Möglichkeiten der institutionellen Unterstützung vor. Uwe Gonther stellt den "Bremer Weg" vor. Dabei geht es unter anderem um die schriftliche Aufklärung und Begleitung von Reduktionsschritten. Er gesteht, dass es in der Klinik, für die er als Chefarzt verantwortlich ist, "keine psychopharmakafreie Station" (S. 133) gebe. Eine realistische Einschätzung: "Dennoch realisieren wir auf allen Stationen weiterhin psychopharmakafreie Therapien, denn die wenigsten Probleme beim Reduzieren haben die Betroffenen, wenn man erst gar keine (Dauer-)Medikation ansetzt" (S. 133).

Aufhorchen lässt der trialogische Ansatz des Buchs. Gudrun Weißenborn setzt sich mit dem "Absetzen ärztlich verschriebener Psychopharmaka mit Angehörigenunterstützung" auseinander. Céline Cyr schreibt über das "Absetzen von Psychopharmaka mit Peerunterstützung". Selbst "Onlineplattformen als Hilfe zur Selbsthilfe beim Entzug von Psychopharmaka" ist im Fokus der Autorinnen und Autoren und verspricht Betroffenen, Angehörigen und professionell Helfenden bislang unbekannte Zugänge.

Mit einer Zuspitzung Weinmanns beginnt das Buch, mit einer deutlichen Anregung von Peter Lehmann und Thelke Scholz schließt das Buch. Sie kritisieren: "Ein humanistisch orientiertes Hilfesystem zu entwickeln, in dem die Verschreibung von Psychopharmaka eine Ausnahme darstellt, bleibt in einem gewinnorientierten Wirtschafts- und Gesundheitssystem eine Wunschvorstellung" (S. 251). Es ist zu hoffen, dass sie von der Versorgungswirklichkeit widerlegt werden. Argumente dazu haben die Autorinnen und Autoren des Buchs mehr als ausreichend geliefert. Hut ab...

"Ein wichtiges Thema, was zukünftig immer mehr in den Fokus kommen wird!" – J. Gutmann auf Amazon.de (26. Januar 2024)

Wenn es sich bei einem Buch um eine Koproduktion von Psychiatrie Verlag und Antipsychiatrieverlag handelt, lässt das gleich zu Beginn aufhorchen. Als Herausgeber fungieren Peter Lehmann und Craig Newnes. Lehmann, der sich nicht nur als Buchverleger des Antipsychiatrieverlages, sondern auch als Aktivist der Antipsychiatriebewegung in Deutschland (und darüber hinaus) einen Namen gemacht hat und der Brite Newnes, Außerordentlicher Professor für kritische Psychologie und Herausgeber des "Journal of Critical Psychology, Counselling and Psychotherapy".

In ihrem Buch haben sie namenhafte Autorinnen und Autoren um sich geschart: Robert Whitaker, Stefan Weinmann, Jan Schlimme, Martin Zinkler, Uwe Gonther oder Peter C. Groot und Jim van Os, um nur einige zu nennen.

In den letzten Jahren wurde auch (endlich) in Fachkreisen immer deutlicher, dass Psychopharmaka keinesfalls Medikamente sind, die unkritisch verschrieben und eingenommen werden sollten. Wurden lange Zeit die unerwünschten Wirkungen bagatellisiert und Abhängigkeitspotenzial (die Psychiatrie spricht hier größtenteils nicht von Abgängigkeit, sondern von Absetzphänomenen – was im Grunde genommen das Gleiche ist, wenn man wirklich ehrlich ist) geleugnet, kommt es zunehmend zur Einsicht, dass es sich nicht um harmlose Medikamente handelt, die unproblematisch eingenommen werden können, und die erst recht nicht ohne weiteres wieder abgesetzt werden können.

Die Effekte einer Langzeiteinnahme sind wissenschaftlich nicht belegt, oftmals haben Medikamentengruppen sogar ein schlechteres Outcome, wie im Beitrag von Robert Whitaker deutlich wird. Daher ist es an der Zeit, Dinge zu überdenken und zu ändern.

Im Geleitwort von Dr. Kirsten Kappert-Gonther, Abgeordnete des Deutschen Bundestags, findet sich gleich zu Beginn des Buches ein wichtiger Satz: "Wer ansetzt, muss auch absetzen können." (S. 13).

Viele Ärzte/Psychiater sind sehr schnell im Ansetzen von Medikamenten, geht es allerdings um das Absetzen, bekommen sie schnell kalte Füße. Umso wichtiger ist es, dass sich dieses Buch gezielt und professionell mit diesem Thema auseinandersetzt.

Es finden sich einige Berichte sogenannter "Leuchtturmprojekte", die sich bereits in der Praxis mit dem Absetzen von Psychopharmaka beschäftigen und die dabei Hilfe und Unterstützung anbieten. Diese Projekte machen Mut und rufen nach Nachahmer*innen.

Die Herausgeber beschreiben neben einem der Hauptziele, nämlich Menschen professionell beim Absetzprozess zu begleiten und zu unterstützen, weitere Ziele. Das Buch soll für unterschiedliche Personengruppen eine Hilfestellung sein, zum Nach- und Umdenken anregen. So richtet es sich neben Betroffenen und Angehörigen an Profis, insbesondere Verfasser*innen von Behandlungsleitlinien, an Herstellerfirmen, Jurist*innen, gesetzliche Betreuer*innen, Richter*innen, Journalist*innen, Krankenkassen und -versicherungen sowie politische Entscheidungsträger*innen. Hier wird deutlich, was alles benötigt wird, um eine neue Denkweise hinsichtlich Psychopharmaka (und das Absetzen von Psychopharmaka) zu etablieren. Ebenso wird hier (leider) deutlich, dass noch ein langer und steiniger Weg zu beschreiten ist, ehe sich das Gedankengut dieses Buches in alle psychiatrischen Köpfe gebrannt hat (und auch umgesetzt wird). Bekanntermaßen stirbt die Hoffnung zuletzt. Nein, sie stirbt nie! Daher ist dem Buch eine breite Leserschaft zu wünschen, die das Buch nicht nur liest, sondern darüber ins Gespräch kommt, damit sich Dinge ändern können.

"Psychopharmaka reduzieren und absetzen: Ein Leitfaden für Betroffene und Fachkräfte" – M. Hüfner auf Amazon.de (9. April 2024)

"Psychopharmaka reduzieren und absetzen" ist ein Buch für Betroffene, die ihre Psychopharmaka absetzen wollen. Herausgegeben haben es Peter Lehmann und der kritische englische Psychologe Craig Newnes. Peter Lehmann ist hierzulande bekannt. Er ist Verleger und Gründer des Antipsychiatrieverlages und engagiert sich seit Jahrzehnten für eine menschenrechtsbasierte Psychiatrie, in der Patientinnen und Patienten gesetzeskonform über die Risiken, unerwünschte Wirkungen, das Abhängigkeitspotenzial und die geringe therapeutische Wirkung von Antidepressiva und Neuroleptika ("Antipsychotika") vor Erstverabreichung umfassend aufgeklärt werden.

Unter anderem wurde er für seinen außerordentlichen wissenschaftlichen und humanitären Beitrag für die Durchsetzung der Rechte Psychiatriebetroffener mit der Ehrendoktorwürde durch die Aristoteles-Universität Thessaloniki und dann noch mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.

Es ist auch ein Buch für Fachkräfte (Allgemeinärzte, Psychiater, Pfleger), denen in aller Regel das nötige Wissen fehlt und die entsprechend den unsachgemäßen Herstellerinformationen meist zu schnell reduzieren oder absetzen, was zu schlimmen Entzugssymptomen und Rückfällen führen kann.

Fachkräfte können dieses Wissen gar nicht haben, es sei denn, sie haben es sich in Eigeninitiative selbst angeeignet. Entzugssymptome bei Antidepressiva kommen weder im Medizinstudium noch in der Ausbildung zum Psychiater vor, sagte beispielsweise Dr. Mark Horowitz in einem Interview mit Mad in America, einem unabhängigen psychiatriekritischen Blog.

Sie kommen auch deshalb nicht in der Ausbildung vor, da Mainstreampsychiater in Einklang mit der Pharmaindustrie in verantwortungsloser Weise rundweg abstreiten, dass Antidepressiva – wie auch Neuroleptika – körperlich abhängig machen können. Dabei ist die Abhängigkeitsproblematik bei diesen Psychopharmaka schon seit ihrer Einführung in den Markt in den 1950er-Jahren bekannt, wie Peter Lehmann in seinem Buchbeitrag "Gibt es eine Abhängigkeit von Antidepressiva und Neuroleptika?" nachweist.

Ein anderes strittiges Thema ist die (behauptete) rückfallverhütende Wirkung von Antidepressiva und Neuroleptika. Um auf dem aktuellen Stand der Wissenschaft zu sein, muss man in die USA und nach England schauen, dort ist diese Problematik deutlich länger bekannt. So zeigen Craig Newnes bei Antidepressiva und Robert Whitaker, der Gründer von Mad in America, bei Neuroleptika, dass die mittel- und langfristige Einnahme dieser Psychopharmaka eher zur Verstärkung und Chronifizierung der ursprünglichen Probleme führen.

Ein zentrales Thema des Buches ist die Bedeutung einer individualisierten Herangehensweise an den Absetzprozess. All die Co-Autorinnen und -Autoren, die Peter Lehmann und Craig Newnes für dieses Buch gewonnen haben, betonen die Notwendigkeit, den Reduktions- und Absetzprozess basierend auf den spezifischen Bedürfnissen und Umständen jedes Einzelnen zu gestalten. In ihren strukturieren Unterstützungsformen bieten sie – Klinikleiter wie Uwe Gonther und Martin Zinkler oder niedergelassene Psychiater wie Jann Schlimme oder Bryan Shapiro – konkrete Strategien und Werkzeuge zum risikoarmen Absetzen.

Darüber hinaus wird in diesem Buch ein Schwerpunkt auf die psychologischen, sozialen und emotionalen Aspekte des Absetzens von Psychopharmaka gelegt. Die beiden Herausgeber integrieren Erkenntnisse aus der Psychopharmakologie mit einem Verständnis für die individuellen Lebensumstände und Herausforderungen der Betroffenen, was zu einer ganzheitlichen und einfühlsamen Herangehensweise führt. Die Beiträge über Ausschleichstreifen und individuelle, vom Arzt auszustellende Rezepturen schließen eine Lücke im Absetzprozess, die viele Betroffene bisher scheitern ließ.

Mit diesen Methoden können die insbesondere gegen Ende des Absetzprozesses notwendigen immer geringeren Dosierungen hergestellt werden.

Ein weiterer Pluspunkt ist die Betonung der Zusammenarbeit zwischen Fachkräften, Patienten und ihren Angehörigen. Für den Fall, dass Ärztinnen und Ärzte sich weigern, Absetzprozesse zu begleiten, findet sich im Buch ein Artikel über Online-Hilfen (zum Beispiel PsyAb.net). Das Buch ermutigt dazu, eine unterstützende und informierte Gemeinschaft aufzubauen wie Mad in America und hoffentlich bald auch Mad in Germany, Mad in Österreich oder Mad in der Schweiz.

Als selbst Betroffener und Moderator und Berater in zwei Facebookabsetzgruppen weiß ich, in was für Abgründe schlecht oder gar nicht aufgeklärte Betroffene geraten, wenn sie in die Psychiatrie gelangen. Dann beginnt das, was kaskadenhafte Verordnungen genannt wird (Ich nenne es die Psychiatrie-Drehtür): Immer mehr Behandlungen führen zu immer mehr Psychopharmaka, immer häufigeren Wiederaufnahmen, immer höheren Dosierungen, immer größeren Kombinationen; dies öffne das Tor zur Chronifizierung.

Solange es keine Änderung der Lehrpläne im Medizinstudium und in der Ausbildung zum Psychiater gibt, ist dies DAS Buch, an dem sich Fachkräfte orientieren können. Hoffentlich wird es von vielen gelesen. Und es macht uns Betroffenen Hoffnung und gibt wertvolle Tipps, wie man möglichst sanft reduziert und absetzt: wenn möglich mit Unterstützung des Arztes, der Angehörigen und der Freundinnen und Freunde, notfalls mit Onlinehilfe oder aber ganz alleine – vorsichtig, umsichtig, risikoarm.



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