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des Antipsychiatrieverlags
in:
Kerstin
Kempker / Peter Lehmann (Hg.): Statt Psychiatrie, Berlin: Peter
Lehmann Antipsychiatrieverlag 1993, S. 432-442
Frauen gegen Gewalt
in Gesellschaft und Psychiatrie
Eine feministische Analyse Psychiatrie-betroffener Frauen
(1)
Vorwort I
In der Bewegung von Psychiatrie-Betroffenen verzweifelten im
Laufe der Jahre viele Frauen angesichts des mangelnden Interesses,
das feministische Therapeutinnen und deren Organisationen für
unsere Anliegen zeigen. Es scheint üblich zu sein, dass sie
Frauen in zwei Klassen aufteilen: Frauen, die sie im Grunde als
ihresgleiche betrachten, und alle anderen (Psychiatrie-Betroffene,
Frauen aus gesellschaftlichen Minderheiten, Arme, körperbehinderte
Frauen usw.). Um diese Aufteilung ging es in unserem Artikel.
Die feministische Therapiebewegung konzentriert offenbar ihre
Energie in erster Linie auf Mittelschichtsfrauen, deren Probleme
so beschaffen sind, dass die Therapeutinnen sich darauf einlassen
können. Andere Frauen werden von ihnen ignoriert oder
noch schlechter in die Psychiatrie zurück geschickt.
Judi Chamberlin, USA, Oktober 1992
Vorwort II
Lese ich jetzt, nach zehn Jahren, erneut diesen Artikel, habe
ich einige Vorbehalte, ihn kommentarlos erneut veröffentlich
zu sehen. Im ersten Augenblick wollte ich nicht einmal mehr meinen
Namen mit dem Artikel in Zusammenhang gebracht sehen, jedenfalls
nicht, solange ich nichts zu meiner gegenwärtigen Überzeugung
sagen kann.
Grundsätzlich hat sie sich nur wenig geändert, allerdings
habe ich die Beobachtung gemacht, dass in den letzten Jahren eine
Reihe von TherapeutInnen, insbesondere feministische Therapeutinnen,
eine sehr hilfreiche und wertvolle Rolle im Leben vieler Frauen
zu spielen scheinen, die ich persönlich oder aus der Literatur
kenne. Aber diese Gedanken stehen in keinem wesentlichen Widerspruch
zu den meisten Aussagen im Artikel, wenn ich sie heute auch etwas
moderater ausdrücken würde.
Jeanne Dumont, USA, November 1992
Dieses Positionspapier ist das Ergebnis eines Arbeitskreises,
der anläßlich der 10. Internationalen Jahreskonferenz über
Menschenrechte und psychiatrische Unterdrückung in Toronto/Kanada
vom 14. bis 18. Mai 1982 stattfand. Angesichts unserer feministischen
Ausrichtung, unserer überwiegend mittelständischen Herkunft,
unserer Hautfarbe (weiße Nordamerikanerinnen) und unseres Alters
(24 bis 37) behaupten wir nicht, alle ehemaligen Insassinnen zu
repräsentieren.
Der Arbeitskreis kam zusammen, um Alternativen zum System der
psychosozialen Versorgung zu diskutieren, speziell unter dem Gesichtspunkt
Gewalt gegen Frauen. Aus unserer Perspektive als ehemalige Insassinnen
konzentrierten wir uns auf Vergewaltigung, Misshandlung und die
Äußerung von Wut. Als feministische Überlebende von
Psychiatrie und Gewalt erstellten wir eine Analyse, wie sie bisher
weder die Frauen- noch die Antipsychiatrie-Bewegung leistete.
Der Zusammenhang von Psychiatrie und Gewalt gegen Frauen
-
Wir werden beschimpft, misshandelt, vergewaltigt. Man redet
uns ein, wir hätten darum gebeten. Endlos analysiert
man unsere Kindheit, um Gründe für unseren 'Masochismus'
zu finden. Indem man den Opfern die Schuld gibt, soll die
gesellschaftliche Akzeptanz von Gewalt gegen Frauen auf ewig
festgeschrieben werden.
-
Wenn wir wütend werden und uns darüber aufregen,
dass wir vergewaltigt, geschlagen und herumgestoßen werden,
so 'behandelt' man uns und verfrachtet uns in psychiatrische
Einrichtungen. Dort finden die sexuellen Schikanen dann ihre
Fortsetzung.
-
Wenn wir vom System Hilfe wollen, machen wir unsere spezifischen
Erfahrungen: Männer definieren und beurteilen unsere
Erlebnisse in Kategorien von Qualität und Quantität.
Sie unterscheiden Vergewaltigung durch einen Fremden auf der
Straße von Vergewaltigung durch einen Bekannten oder Liebhaber.
Sie wägen Vergewaltigung gegen Inzest und Misshandlung
ab. Frauen gelten entsprechend ihrem gesellschaftlichen Status
als unterschiedlich verwundbar: Sozialhilfeempfängerinnen
oder Frauen, die als Prostituierte arbeiten, werden weniger
ernst genommen als z.B. weiße, verheiratete Mittelstandsfrauen
mit zwei Kindern. So wird die Gesamtheit der Frauen gespalten,
die Tatsache, dass unsere Kultur und unser aller Leben von
Gewalt durchdrungen ist, bleibt verborgen. Die Ähnlichkeiten
unserer Erfahrungen mit Gewalt sind viel wichtiger als die
speziellen Einzelheiten oder Umstände der Misshandlungen.
-
Man zweifelt unsere Glaubwürdigkeit an, weil wir Frauen
sind; unsere Worte gelten weniger, egal was wir sagen. Wenn
wir unser Leiden zum Ausdruck bringen, z.B. durch Schreien
oder Wutausbrüche, stempelt man uns als hysterisch ab.
Bleiben wir bei Gewaltanwendung ruhig, gelten wir als unglaubwürdig,
man nimmt uns nicht ernst. In zugespitzter Form besteht dieses
Dilemma für ehemalige Anstaltsinsassinnen oder andere
Frauen, die mit dem Etikett der 'psychischen Krankheit' belastet
sind. Unser Status als 'Verrückte' wird gegen uns eingesetzt:
Wir lügen, wir halluzinieren, oder es kommt gar nicht
darauf an.
-
Unsere Schwestern, die feministischen Therapeutinnen, lassen
uns ebenfalls im Stich. Sie stempeln uns ab, weisen uns zurück
oder erkennen im Gegensatz zu uns einfach nicht
die Zusammenhänge.
-
Wir schließen uns zwar der Bewegung der Psychiatrie-Betroffenen
an und erwarten auch hier Sexismus; aber wir akzeptieren nicht
deren Unfähigkeit, diesen Sexismus zu erkennen und zu
verantworten.
-
Schließlich ist uns klar, dass wir in einer relativ priviligierten
Lage sind. Wir sind dem psychiatrischen System entkommen.
Wir können uns artikulieren, und durch die gegenseitige
Unterstützung sind wir stark genug zu reden. Unsere Leidenschaft
und unser Drängen basieren auf dem Wissen um all die
real machtlosen Frauen. Unsere Schwestern sind eingesperrt
oder in sogenannter Nachbetreuung, isoliert, unter Psychopharmaka
gesetzt, mit Elektroschocks traktiert, misshandelt und vergewaltigt,
und wir sind verpflichtet, dagegen zu protestieren.
An wen wenden wir uns nach Misshandlung und Vergewaltigung?
Ob vergewaltigt oder misshandelt, wir leiden unter überwältigenden
Gefühlen der Wut, Scham, Erniedrigung, Machtlosigkeit, Selbstzweifel
und Schuld. Wohin können wir gehen? Im Idealfall wenden wir
uns an unsere Freundinnen und Freunde, an die Familie und die
Gemeinschaft, um unsere Wut und Trauer gefahrlos zum Ausdruck
zu bringen und unsere Kraftreserven für den Kampf um Veränderung
zu mobilisieren. Manchmal ist das bis zu einem gewissen Grad möglich.
Leider sind diese Quellen der Unterstützung gewöhnlich
nicht für uns verfügbar, aus unterschiedlichen Gründen.
Hindernisse sind zum einen die männlich dominierten Vorurteile
der Gesellschaft. Wenn wir uns an die Menschen wenden, die wir
lieben, müssen wir erkennen, dass es ihnen immer noch unmöglich
ist, uns als Opfer von Vergewaltigung oder Misshandlung anzuerkennen.
Man verurteilt uns, schimpft mit uns oder ignoriert uns höflich.
Außerdem gilt es als unschicklich, das Bedürfnis oder den
Wunsch nach Unterstützung offen zuzugeben.
Weitere Einschränkungen ergeben sich aus der Hautfarbe,
dem sozialen Status und der Wohngegend der Frauen. Einige von
uns haben Zugang zu Zufluchtsmöglichkeiten, die wir mehr
oder weniger kontrollieren können. Z.B. können weiße
Feministinnen aus der Mittelschicht bei bestimmten Frauengruppen
Unterstützung finden, wenn sie misshandelt oder vergewaltigt
wurden. Einige von uns können es sich leisten, zu verreisen
oder gefährliche oder demütigende Wohnverhältnisse
zu verlassen. Eine wohlhabende Frau, die sich gegen Misshandlung
zur Wehr setzt, hat bessere Chancen, sich wohlwollenden, kompetenten
Rechtsbeistand zu kaufen. Eine Frau, die zu einem Privatarzt oder
zu ambulanten Einrichtungen unter privater Trägerschaft gehen
kann, ist in einer viel günstigeren Lage als eine Frau, die
sich an die Ambulanz in der Klinik wenden muss. Es gibt viele
Möglichkeiten, sozial schwachen Frauen, alleinstehenden Frauen,
lesbischen Frauen, als Prostituierte arbeitenden Frauen und farbigen
Frauen Hilfe zu verweigern.
Wenn wir nicht verschweigen, dass wir vergewaltigt oder misshandelt
wurden, dass uns dies verletzt hat und dass wir Hilfe brauchen,
ist es sehr wahrscheinlich, dass wir mit dem psychiatrischen System
in Kontakt kommen. Manche von uns gehen zu Beratungsstellen oder
in die Therapie, weil uns gesagt wurde, dass das die richtigen
Anlaufstellen sind, wenn wir emotional aufgewühlt und verzweifelt
sind. Einige von uns wissen, dass wir mit anderen Frauen reden
müssen und dass der einzige Ort, wo wir uns finden können,
in einer Unterstützungsgruppe eines Krisenzentrums oder in
einer klinischen Einrichtung innerhalb des psychiatrischen Systems
ist. Andere von uns werden in die Psychiatrie eingewiesen, weil
sie protestieren oder ihren Schmerz zeigen. Eine misshandelte
Frau, die beim Nachbarn an die Tür klopft, um Hilfe schreit
oder die Polizei ruft, läuft ernsthaft Gefahr, in der Psychiatrie
untergebracht zu werden. Besonders gefährdet sind Frauen,
denen man in der Gesellschaft wenig Wert beimisst, wie z.B. farbige
Frauen oder Frauen mit geringem Einkommen. Immer öfter stellt
sich heraus, dass Basisinitiativen oder alternative feministische
Hilfsorganisationen infiltriert werden, mit dem psychiatrischen
Apparat kooperieren oder bereits vollständig von ihm geschluckt
sind.
Wie das psychiatrische System gegen unsere Interessen handelt
-
Zunächst einmal liegt das Problem darin, dass man die
Psychiatrie überhaupt hinzuzieht. Gewalt gegen Frauen
ist keine persönliche oder individuelle Angelegenheit
unpolitischer Natur, sondern eine politische Realität.
Die Vorstellung von 'psychischer Gesundheit' impliziert auf
der anderen Seite eine entsprechende Krankheit. Aber Frauen,
die Opfer von Gewalttaten wurden, sind nicht krank. Die Aufmerksamkeit
auf eine einzelne Person zu richten, ist aus zwei Gründen
fatal. Zum einen führt die Konzentration auf die spezielle
Frau dazu, dem Opfer die Schuld zu geben, entweder ganz offen
oder durch eine Therapie, die nach versteckter Motivation
sucht. Zum anderen führt diese Blickrichtung zu einer
Einschätzung des Vergewaltigers als einer Person, die
unter einer individuellen Krankheit leidet. Er wird somit
der persönlichen Verantwortung für seine Taten enthoben,
und die gesellschaftlichen und kulturellen Wertmaßstäbe,
die zu Gewalt gegen Frauen ermutigen, werden verschleiert.
Wir wissen, dass Vergewaltiger keine abartigen Ausnahmen sind.
Die Erfahrungen von Frauen bestätigen diese Erkenntnis.
Allen Frauen ist bewusst, dass Männer die Verfügbarkeit
unserer Körper und den Zugriff auf sie als selbstverständlich
voraussetzen. Diese Tatsache zeigt sich in jedem Bereich unseres
Lebens; in der Werbung, in Belästigungen auf der Straße,
in den Medien und in unseren privaten Beziehungen. Selbst
nach Einschätzung psychiatrisch Tätiger sind Vergewaltiger
normale Männer.
-
Immer häufiger werden unsere Gewalterfahrungen wie Krankheitssyndrome
beschrieben. In Literaturverweisen tauchen z.B. Begriffe auf
wie das »Vergewaltigungstrauma-Syndrom«, das »Inzestopfer-Syndrom«
oder das »Misshandlungs-Syndrom«. Diese Art von
Anerkennung ihrer bis vor kurzem noch undiskutierten Probleme
wurde von Frauen unkritisch begrüßt. Als feministische
Ex-Insassinnen betrachten wir die Einmischung von 'Experten'
des psychosozialen Systems jedoch als schädlich. Für
die Bestätigung unserer eigenen Erfahrungen brauchen
wir keine Psychologinnen und Psychologen. Hier sind einige
der negativen Auswirkungen ihres Eingreifens:
-
Entsprechend den Umständen des Überfalls entsteht
eine Hierarchie. Eine Frau, die von mehreren Männern
oder von einem Fremden auf der Straße vergewaltigt wurde,
musste eine 'bessere' (echtere, ernsthaftere, gültigere)
Vergewaltigung über sich ergehen lassen als eine
Frau, die von einem Bekannten vergewaltigt wurde. Eine
Frau jedoch, die von ihrem Ehemann oder von ihrem Intimpartner
vergewaltigt wurde, gilt als krank, weil sie überhaupt
in so einer Beziehung geblieben ist. Frauen, die von Männern
'niederer' Herkunft vergewaltigt wurden, werden als 'mehr'
(echter, ernsthafter, gültiger) vergewaltigt anerkannt,
weshalb sie als glaubhafter gelten.
-
Wenn wir unsere Erfahrungen verschiedenen Syndromen (Gruppen
von Krankheitssymptomen) zuordnen, wirken diese künstlichen
Unterscheidungen als Schranken und verhindern, dass wir
unsere gemeinsame Erfahrung erkennen, uns gegenseitig
unterstützen und zusammen für Veränderungen
eintreten können.
-
Diese Klassifikationen sind ein Diebstahl unserer Rechte
und unserer Verantwortung, unsere Unterdrückung selbst
zu beschreiben.
-
Die Definition von Symptomen und Reaktionen führt
zu einer professionellen Gegenreaktion, die uns weiterhin
kontrollieren soll.
Die Einbeziehung des psychiatrischen Systems, wo es um Gewalt
gegen Frauen geht, soll uns ruhigstellen, im wörtlichen und
im übertragenen Sinn. Im schlimmsten Fall werden einige von
uns in Anstalten untergebracht und werden Opfer der krassesten
Form psychiatrischer Unterdrückung: Zwangsbehandlung mit
Psychopharmaka, Elektroschocks, Isolation und Fixierung. Selbst
im besten Fall, d.h. in relativ unterstützenden, mitfühlenden
und zwangsfreien Situationen, redet man uns unsere Wut aus oder
hilft, sie in 'angemessenere' Kanäle zu lenken.
In heimtückischer Weise übernimmt das psychosoziale
System den Kampf gegen Gewalt gegen Frauen. Angesichts versiegender
Finanzquellen bemühen sich psychiatrische Einrichtungen um
neue 'Patientinnen' und 'Patienten' und um die Förderung
populärer Projekte. In den USA wandelt man Frauenzentren
um; sie werden professionalisiert und nehmen Gelder aus den Fonds
des psychosozialen Systems an. Ein weiteres Beispiel ist der Kampf
um Entschädigung für Opfer von Gewaltverbrechen. Wo
überhaupt, wie z.B. in Kanada, Entschädigung gezahlt
wird, verlangt man ein Gutachten über unsere Schmerzen und
Leiden sowie eine Bescheinigung über die Kosten der Behandlung.
Wir lehnen die Vorstellung ab, dass wir ein psychiatrisches Gutachten
brauchen, um zu beweisen, dass uns ein Überfall aus der Fassung
bringt.
Warum uns die feministische Therapie im Stich gelassen hat
In patriarchischen Kulturen sind Frauen täglich mit Gewaltandrohungen
und Unterdrückung konfrontiert. Der Feminismus ist eine starke
Basis, auf der sie zusammenkommen und an gemeinsamen Strategien
arbeiten können. Frauen, die mit riesigen Erwartungen und
dem Bedürfnis nach Unterstützung zur Bewegung stoßen,
wenden sich nach Enttäuschungen oft an feministische Therapeutinnen,
um diese Leere zu füllen. Diese (und andere) Funktionen feministischer
Therapie sind für uns Feministinnen ausgesprochen problematisch,
denn als ehemalige Insassinnen Psychiatrischer Anstalten sehen
wir Therapie als das an, was sie ist: ein Mechanismus sozialer
Kontrolle.
Gefühle von Frauen als Krankheiten zu behandeln, trägt
nicht zur Wiederherstellung von 'Gesundheit' bei. Im Gegenteil,
diese Pervertierung von Fürsorge widerspricht zentralen feministischen
Anliegen, dass alles Private politisch ist. Die Geschichte der
Professionalisierung des Gesundheitswesens sollte uns als Feministinnen
einige Aufschlüsse über dessen hierarchische, frauenfeindliche
Strukturen geben. Männer bekamen Angst vor Frauen, die in
der Heilkunst bewandert waren, diffamierten sie als Hexen, beschimpften
sie als Lesben und betrieben ihre Vernichtung.
Durch das Individualisieren, Personalisieren oder Therapieren
der ganz realen soziokulturellen, psychischen und körperlichen
Unterdrückung im Leben der Frauen sind diese sich selbst
fremd, voneinander isoliert und unfähig zu gemeinsamen Aktionen.
So ist es uns unmöglich, über unsere Gefühle zu
reden oder mit ihnen 'umzugehen'. Denn sobald die Gefühle
einer Frau zu intensiv werden, werden sie aufgeteilt, zerlegt
und in dem professionellen Reich der Therapie isoliert. Therapie
ist so mächtig, dass sie nicht nur das Opfer heilen kann,
sondern auch den Gewalttäter. Wäre es nicht heilsamer,
die Krankheit zu bekämpfen?
Solange die feministische Therapie existiert mit ihrer Unterscheidung
zwischen Therapeutin und Patientin, zwischen der Frau, der es
gut genug geht, um von feministischer Therapie Hilfe zu bekommen,
und derjenigen, der es 'zu schlecht' geht und die die Unterbringung
in eine Anstalt braucht, so lange wird auch der psychiatrische
Apparat als Maßnahme der sozialen Kontrolle aller Frauen weiterbestehen.
Wie alle Therapeutinnen und Therapeuten verfügen auch feministische
Therapeutinnen über das berufliche Privileg, Frauen gegen
ihren Willen »in ihrem wohlverstandenen Interesse« einweisen
zu lassen. Das Machtgefälle wird nicht überwunden. Noch
trauriger stimmt die Tatsache, dass immer mehr Frauen Therapeutinnen
werden und damit die Vorstellung unterstützen, dass extreme
Gefühle Krankheiten sind, die die hierarchische und professionelle
Intervention nötig machen.
Patientinnen, wie sie feministische Therapeutinnen sich wünschen
und anziehen, unterscheiden sich nicht von dem Typ weiblicher
Patientinnen, an denen (laut Schofield/Balian 1960) männliche
Therapeuten die Therapie am wirksamsten und erfolgreichsten erleben.
Diese Patientinnen sind 20 bis 40 Jahre alt und ohne höhere
Ausbildung. Ihre Erscheinung ist als das »YAVIS-Syndrom«
beschrieben worden: young, attractive, verbal, intelligent and
successful (jung, attraktiv, sprachgewandt, intelligent und
erfolgreich), mit anderen Worten: 'normal'. Wer damit fortfährt,
normale Probleme zu behandeln, als wären sie krankhaft, untergräbt
nicht nur das Unterstützungsbedürfnis der Frauen durch
ein ausbeuterisches Verhältnis, sondern macht sie von der
Unterstützung abhängig und pervertiert die Hilfe. Das
trägt nicht bei zur Überwindung unserer Selbsteinschätzung
als 'Kranke', die eine 'sachorientierte' und 'professionelle'
Behandlung brauchen. Im Gegenteil, die Selbstzweifel über
den eigenen psychischen Zustand werden noch verstärkt. Wenn
wir behandelt werden, als wären wir gestört, dann werden
wir uns auch krank fühlen und von anderen erwarten, uns ebenso
zu sehen.
Wie können feministische Therapeutinnen ernsthaft von uns
Psychiatrieopfern erwarten zu glauben, dass diese oder irgendeine
sonstige 'radikale Therapie' anders ist und wirkliche Veränderung
bringt, wenn sie noch nicht einmal beschreiben können, was
feministische Therapie genau ist, und wenn sie ebensowenig den
Unterschied zwischen feministischer Therapie und anderen Formen
psychiatrischer Unterdrückung kritisch benennen können.
Eine etwas zurückliegende, aber noch immer wesentliche Studie
von Inge K. Broverman u.a. (1970) zeigt, dass sowohl männliches
als auch weibliches Anstaltspersonal männliche Definitionen
zur Beschreibung 'psychisch gesunden' Verhaltens verwendet. Es
überrascht keineswegs, dass Merkmale, die mit 'psychischer
Krankheit' assoziiert werden (z.B. Passivität, Abhängigkeit,
Manipulierbarkeit und Unentschlossenheit), dem gesellschaftlich
geprägten Bild der Frau in unserer Kultur entsprechen. Die
feministische Therapiebewegung hat uns zu verstehen gegeben, dass
die Konsumentinnen ihrer Dienstleistungen lernen müssen,
bessere Konsumentinnen zu werden, indem sie lernen, wie sie eine
Therapeutin auswählen. Dieses »Wie kaufe ich einen Kühlschrank?«-Argument
entlässt nicht nur die Therapeutinnen aus der Verantwortung,
es ignoriert auch die Frauen, denen direkt durch die Rechtslage
oder indirekt durch die Abhängigkeit im therapeutischen Prozess
alle Wahlmöglichkeiten genommen wurden. Hier wird
auf subtile und hinterhältige Weise die Theorie, dass die
Schuld beim Opfer liegt, genutzt eine Theorie, mit der
praktisch jede Form von Unterdrückung entschuldigt werden
kann. Zusätzlich ignoriert dieses Argument die Existenz sozialer
Unterschiede. Nur wenige weiße Frauen können sich einen Kühlschrank
oder eine Stunde Gesprächstherapie leisten, solange sie nur
59 Cent im Verhältnis zu den 100 Cent verdienen, die ein
weißer Mann in Nordamerika bekommt. Man weiß, dass farbige Frauen
noch weniger erhalten. Wie kann eine Stunde Gespräch die
Tatsache ändern, dass Schikane, Misshandlung, Inzest und
Vergewaltigung kulturell bedingt sind? Alle Therapien abstrahieren
von der Wirklichkeit, lassen die Frauen reden und halten sie vom
Handeln ab. Wer unsere Erfahrungen als Vergewaltigungs- oder Inzest-Syndrom
bezeichnet oder das passende psychiatrische Etikett für misshandelte
Frauen findet, ändert die Erfahrungen nicht. Wie in allen
anderen Therapien auch, verlassen sich feministische Therapeutinnen
statt auf die Betroffenen selbst auf klinische Beurteilungen.
Sie fragen uns nicht, sie beschwichtigen. Dafür, dass sie
unsere Wut und unseren Schmerz als Krankheit behandeln, bekommen
sie von den Krankenversicherungen Geld; wir jedoch fühlen
uns noch 'verrückter'. Auch zu anderen kritischen Punkten
bezogen feministische Therapeutinnen keine Stellung: zur zivilrechtlichen
Unterbringung, zur Zwangsunterbringung, zu Elektroschocks oder
Zwangsbehandlung mit psychiatrischen Psychopharmaka. Wie sollen
wir ihnen da trauen? Und schließlich ist feministische Therapie
ein Widerspruch in sich. Feminismus existiert aus der Bewusstwerdung.
Wesentlich für Frauen ist zusammenkommen, das gemeinsame
Anliegen zu definieren und sich gegenseitig zu unterstützen.
Wir sind uns der schädlichen Konsequenzen bewusst, wenn 'Profis'
unsere Anliegen definieren und behandeln! Feministische Therapie
ist Teil des psychiatrischen Systems, also eine Methode sozialer
Kontrolle und ein Spiegel der Gesellschaft.
Platz für die Wut!
Unsere Wut ist real. Sie ist begründet und heftig. Sie ist
kein Symptom, das mit Psychopharmaka oder Therapie wegbehandelt
werden muss. Sie ist statt dessen die Quelle unserer Macht, Treibstoff
für unsere Entrüstung und unsere Aktivität. Wir
werden es nicht zulassen, dass irgend jemand ob Psychiater
oder feministische Therapeutin uns einredet, wir seien
krank, weil wir wütend sind, weil wir uns nicht beruhigen
und keiner 'Realität' anpassen wollen, die uns als minderwertig
definiert. Wir lehnen die Vorstellung ab, dass es einen unangemessenen
Grad an Wut gibt oder dass sie unangemessen lange währt.
Wir erfreuen uns unserer Identität als verrückte Frauen,
als stolze und starke Furien.
Zusammenfassung unserer Analyse
Die Macht, die hinter den systematischen Übergriffen auf
Menschen steht und die sie als 'geisteskrank' bezeichnet, ist
die gleiche, die zu Hass auf Frauen und fortgesetzter Gewalt gegen
sie führt. Diese Macht ist ein Teil unserer Wirtschaftsordnung
innerhalb des Systems männlicher Herrschaft. Für uns
Feministinnen und ehemalige Psychiatrie-Insassinnen ist dies der
Schnittpunkt von Gewalt gegen Frauen und psychiatrischer Bedrohung.
Tatsächlich ist das psychiatrische System ein Mikrokosmos
des gesellschaftlichen Systems. Beide spielen eine wichtige Rolle
bei der Definition, wie Gesellschaft funktioniert. In westlichen
kapitalistischen Gesellschaften sind Männer verantwortlich
für den Arbeitsprozess, während man von Frauen in erster
Linie erwartet, dass sie sich um Kinder kümmern und zur Reproduktion
von Arbeitskraft beitragen. Diese Geschlechterrollen sind als
normal anerkannt. Psychiatrisch Tätige unterlegen aber dieses
Rollenverständnis mit Krankheitsbegriffen. Die männliche
Rolle wird allgemein als 'psychisch gesund' bezeichnet, die weibliche
Rolle entspricht der Vorstellung von 'psychisch krank'. Dadurch
geraten wir Frauen in die Situation, dass wir, um gesunde Frauen
zu sein, 'kranke Menschen' sein müssen und kranke Frauen,
um 'gesunde Menschen' zu sein. Frauen werden damit gleichzeitig
'normal' und 'krank'. Darüber hinaus kann man, wenn man einen
anderen Menschen als 'krank' und 'unnormal' bezeichnet, leichter
jede Art seiner Misshandlung rechtfertigen, einschließlich Vergewaltigung,
Körperverletzung und weiterer Formen von Gewalt. Im Extremfall
sehen wir dann an denjenigen, die als 'anders' bezeichnet werden
(z.B. Jüdinnen oder geistig Zurückgebliebene im Hitlerdeutschland
oder im Russland Stalins) Beispiele gerechtfertigter Gewalt gegen
Andersartige.
So, wie das psychiatrische Netz überall auf der Welt der
sozialen und wirtschaftlichen Kontrolle dient, so dient die Gewalt
gegen Frauen deren sozialer und ökonomischer Kontrolle.
Als weibliche Ex-Insassinnen bemächtigen wir uns wieder
unseres Stolzes, unserer Würde und unserer Glaubwürdigkeit.
Wir pochen auf das Recht und die Macht, unsere eigenen Bedürfnisse,
Probleme und insbesondere unsere Strategie für Hilfe und
politisches Handeln ohne professionelle Einmischung zu definieren.
Wie weiter?
-
Wir fordern die Frauenbewegung auf, unsere Erfahrungen und
unsere Analyse als ehemalige Anstaltsinsassinnen anzuerkennen
und uns nicht länger zu ignorieren, als 'krank' oder
'irre' zurückzuweisen oder sich unserer zu schämen.
Insbesondere fordern wir die feministischen Therapeutinnen
auf, die Widersprüche im eigenen Handeln zu erkennen.
-
Wir fordern die Männer auf, die Allgegenwart frauenfeindlicher
Übergriffe zu erkennen und die Tatsache, dass diese Gewalt
eine vorsätzliche Strategie sozialer Kontrolle ist. Sie
müssen die Verantwortung für Gewalt gegen Frauen
übernehmen. Wir fordern sie auf, mit Missbrauch und Vergewaltigungen
aufzuhören.
-
Wir fordern unsere Brüder in der Bewegung von Psychiatrie-Betroffenen
auf, den Sexismus in der Bewegung selbst sowie in ihren Beziehungen
zu erkennen. Wir erwarten weder Schuldgeständnisse noch
Verleugnen; wir verlangen allerdings die Bereitschaft zur
Analyse von Sexismus und das Engagement, Strategien zur Veränderung
zu entwickeln.
-
Wir alle müssen uns der Rolle bewusst sein, die die
Klassenzugehörigkeit, die Hautfarbe und der soziale Status
bei Gewalt gegen Frauen spielen. Wir pochen auf die ganz persönliche
Verantwortung und lehnen es ausdrücklich ab, an Anti-Vergewaltigungsbewegungen
teilzunehmen, die Gewalt gegenüber Farbigen Vorschub
leisten.
Wir wissen, dass es wichtig ist, den Wert der Schwächsten
unter uns zu kennen, nicht nur, weil wir uns um unsere Schwestern
kümmern müssen, sondern weil Zusammenhalt unser ureigenstes
Interesse ist. Wenn Lesben missachtet werden und gefährdet
sind, dann treffen die Probleme uns alle. Wenn die Vergewaltigung
farbiger Frauen geduldet wird, dann sind alle Frauen potentielle
Opfer. Wenn erzwungener Geschlechtsverkehr in der Ehe nicht
als Vergewaltigung angesehen wird, dann gestatten wir, dass
die Männer, die wir einmal auswählten, immer Zugang
zu unseren Körpern haben. Wenn wir hinnehmen, dass Prostituierte
geschlagen und vergewaltigt werden, dann ist keine einzige von
uns sicher. Wenn verrückte oder 'zurückgebliebene'
Frauen oder weibliche Häftlinge akzeptierte Ziele von Gewalt
sind, können wir alle Opfer von Überfällen sein.
Wir sprechen hier, weil Schweigen Komplizenschaft bedeutet,
und nie werden wir Übergriffe auf irgendeine Frau tolerieren.
Jede von uns ist kostbar, einzigartig und wertvoll.
Aus dem Amerikanischen von Ulrike Stamp
Anmerkung der Herausgeber
(1) Der Artikel erschien
original in Phoenix Rising (Toronto, Ontario/Kanada), Vol. 3 (1983),
Nr. 3, S. 43-47. Die Autorinnen, die mittlerweile in alle Winde
zerstreut leben, waren: Renee Bostick, Laurie Bradford, Judi Chamberlin,
Jeanne Dumont, Dana Lear, Susan Price und Virginia Raymond.