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des Antipsychiatrieverlags
in: Pro mente sana aktuell (Schweiz), 1988, Nr. 4, S. 14-15 /
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Peter
Lehmann
Machtpoker der Psychiater um das Recht auf Akteneinsicht
Seit
1980 versuche ich mit wechselhaftem Erfolg, Einsicht in meine eigenen psychiatrischen
Akten zu bekommen. Mit der abenteuerlichen Begründung, Psychiater würden
ausgerechnet in die Akten ihrer Behandlungsobjekte Notizen über die eigenen
Persönlichkeitsprobleme reinschreiben, und eine Akteneinsicht würde
somit das Persönlichkeitsrecht von Psychiatern verletzen, gestand 1983 der
Bundesgerichtshof (BGH) der Bundesrepublik Deutschland in einem Grundsatzurteil
Psychiatern ein Sonderrecht auf geheime Aktenführung zu. Über meine
Beschwerde gegen dieses Urteil hat die Europäische Kommission für Menschenrechte
noch nicht entschieden. In diesem Artikel soll allerdings nicht das Prozessgeschehen,
sondern die Frage im Vordergrund stehen, welchen Wert die Akteneinsicht für
die Betroffenen haben kann.
1. Meine eigenen Erfahrungen mit der
Psychiatrie
Anfang April 1977 wurde ich, 26 Jahre alt, trotz
heftiger Gegenwehr in die Psychiatrische Anstalt Winnenden (Baden-Württemberg)
verschleppt; verschleppt deshalb, da kein behördlicher Unterbringungsbeschluss
vorlag. Dieser Freiheitsberaubung war vorausgegangen, dass sich meine Eltern über
eine gerade stattfindende, unzivilisiert verlaufende Veränderung meiner Persönlichkeit
ängstigten und in ihrer Panik nach ihrem Hausarzt gerufen hatten. Da ich
gerade damit beschäftigt war, mich mit meinen eigenen, tiefen Ängsten
und Wünschen zu konfrontieren, die ich mein ganzes Leben lang verdrängt
hatte, und die nun nach einer speziellen Konfliktsituation verzerrt und überstark
aus mir herausbrachen, lehnte ich emotional bewegt die bereits gezückte
Beruhigungs-Spritze ab. Dies brachte mir die Einweisung in die Anstalt
ein, im Lauf der Zeit entsprechend der psychiatrischen Glaubenslehre völlig
korrekt ca. 14 Diagnosen wie Schizophrenie, Psychose
und Paranoia sowie eine massive Zwangsbehandlung mit Nervenlähmungsmitteln
(Neuroleptika). Mein körperlicher, geistiger und psychischer Widerstand wurde
durch diese persönlichkeitsverändernden Chemikalien gebrochen; die Psychiater
erzeugten (auch) bei mir, wie ich mittlerweile weiß, vorsätzlich eine
Hirnerkrankung (1). Unter dem Einfluss der Psychodrogen stehend, hielt ich
diese Erkrankung für eine psychische Krankheit, zeigte also Krankheitseinsicht,
ließ mich allerdings aus Angst, diese Anstalt nicht mehr lebend verlassen
zu können, Mitte Juni 1977 in die Berliner Universitätsanstalt verlegen,
an deren guten Ruf ich damals noch glaubte. Nachdem ich dort auf ein Depot-Neuroleptikum
eingestellt worden war, wurde ich August 1977 entlassen im
selben Zustand, wie man mich aus der süddeutschen Anstalt hergebracht hatte:
Parkinson-krank, tardive Dyskinesie (2), gelähmte Hand, aufgequollen, starker
Todeswunsch, apathisch, emotional völlig vereist. Nach einigen Monaten Weitergespritztwerden
setzte ich in einem verzweifelten Akt der Selbsterhaltung die Neuroleptika ab,
trotz der massiven Drohungen der Psychiater mit einem Rückfall.
2. Wie es zum Prozess kam
In den Heften Nr. 1, 2 &
3 der Zeitschrift Die Irren-Offensive ist diese Entwicklung ausführlich
dokumentiert (3). Die Psychiater der süddeutschen Anstalt gewährten
mir im Laufe einer gerichtlichen Klage die Einsicht freiwillig, um
einem Urteil zu meinen Gunsten zuvorzukommen: Der behandelnde Psychiater hatte
mir zuvor schon schriftlich die Einsicht zugesichert gehabt, was allerdings die
Anstaltsleitung nicht hinderte, die Anstaltsakte bei der Ankündigung meines
Kommens kurzerhand an das Stuttgarter Regierungspräsidium zu schicken, was
sich unter Verweis auf eben diesen Psychiater der Einsichtnahme widersetzen wollte
vergeblich. Die Anzeige wegen dieses Verstoßes gegen die sogenannte ärztliche
Schweigepflicht blieb erfolglos. Weiter unten werde ich einige Proben aus
dieser (ersten) Akte zitieren, die ich zwar nicht kopieren durfte, aber in der
Kammer, in der ich sie ungestört las, heimlich auf Tonband sprechen konnte.
Die
Berliner Akte wollte ich natürlich auch. Ursprünglicher Grund für
meinen Einsichtswunsch war gewesen, dass ich mein Ver-rücktwerden nicht als
bloßen Zufall sah, sondern mich mit meiner eigenen Lebensgeschichte einschließlich
der möglicherweise in den Psychiatrieakten beschriebenen ver-rückten
Symptome auseinandersetzen wollte, um den Sinn meiner Schizophrenie
zu erfassen. Als Form dieser Auseinandersetzung wählte ich eine Dissertation.
Die Psychiater schüttelten nun jede Menge Argumente gegen meine Einsichtnahme
aus den Ärmeln: sie sei schlecht für mich (»antitherapeutisch«,
»Rückfallgefahr«), für meine Angehörigen (die nach Gesprächen
mit den Psychiatern heimlich diagnostiziert worden waren), für die Redebereitschaft
der Informanten (die sich den Betroffenen gegenüber rechtfertigen müssten),
für den Ruf der Klinik usw. usf. Ich war also gezwungen, zur
Wahrung und Durchsetzung meiner Rechte den Weg zum Gericht anzutreten.
3. Was in der psychiatrischen Anstaltsakte drinstand
Da auch
in der süddeutschen Anstalt nichts stattfand, was auch nur entfernt mit Gesprächstherapie
oder interessiertem Gespräch zwischen Psychiater und Patient
zu bezeichnen gewesen wäre, beschränken sich die Aufzeichnungen logischerweise
auf reine Beschreibungen (von mehr oder weniger intelligenter Qualität),
auf die Wiedergabe von Informationen, die durch Hörensagen gewonnen waren,
sowie auf das Protokollieren der Psychopharmaka-Vergabe.
Hier einige Ausschnitte
dieser stark rückfallträchtiger Dokumente:
»6.4.77,
9 Uhr 30: 1. Aufnahme: Patient kommt mit Sanka (= Rotkreuz-Auto, P.L.)
nach Einweisung durch Dr. Roesch, Fellbach, in Begleitung der Freundin und des
Bruders. Kein Einweisungsschein. Patient studiert Sozialpädagogik in Berlin.
Stehe kurz vor dem Examen. Macht zur Zeit Diplomarbeit und wohnt in Wohngemeinschaft.
Patient komme den Mitbewohnern seit 2 Wochen verändert vor. Geistiger Höhenflug.
Große Fortschritte und Erkenntnisse in seiner Arbeit. Sei zuletzt den Mitbewohnern
auf die Nerven gefallen. Seit Sonntag in Fellbach (bei den Eltern, P.L.). Dort
aufgefallen durch den ständigen Redefluss. Aggressiv. Wirr geredet. Patient
fällt jetzt auf durch Logorrhoe (=krankhaften Redefluss, P.L.),
redet zusammenhanglos, ist nicht zu unterbrechen und beantwortet daher auch keine
Fragen. Vorläufige Diagnose: Paranoide Psychose.«
Verordnungsbogen,
6.4.77: »Wurde um 9 Uhr 45 mit größten Schwierigkeiten, mehr getragen
als gegangen, auf die Abteilung gebracht. Wirke sehr ängstlich, getrieben
und verkrampft. Musste fixiert werden.
Einlieferungsbefund Untersuchungsergebnisse:
cm: 176
Kg: 62
BSG (=Blutsenkungsgeschwindigkeit, P.L.): 2/7
RR (=Blutdruck,
P.L.): 160/125
Verordnung
Tag: Haldol 2 Amp. i.v.
Nacht: 40 Tr. Haldol
Haldol 2 Amp. i.m.
50 mg Truxalsaft.«
Verordnungsbogen, 7.4.77:
»Haldol 1 x 40 Tropfen. Haldol 3 x 2 Amp. i.m.. Truxal 3 x 50 mg i.m.. Selbstgespräche.
Starrte zur Decke hoch, lachte und weinte grundlos. (...) Ab 14 Uhr hatte der
Patient einen zunehmenden Stupor (=Stumpfsinn, P.L.) / starre Verkrampfungen am
ganzen Körper, begleitet von starken Schweißausbrüchen mit nach
hinten gestrecktem Kopf. Augenstarre...«
4. Die Bedeutung
der Akteneinsicht
Für jeden einigermaßen einsichtigen Menschen
dürfte die Erkenntnis eine Banalität darstellen, dass es gerade für
mich mit meinen damaligen überstarken Verfolgungsängsten von existentieller
Bedeutung ist, genau zu wissen, was in der Akte über meine Person drinsteht.
Dies betrifft auch die psychiatrische Akte II der Berliner Lehr- und Forschungsanstalt,
deren Einblick mir der BGH verwehrte. Ob, wie die beklagten Psychiater während
des Prozesses vorgaben, tatsächlich Tiefschürfendes über meine
Persönlichkeit oder gar diejenige der Psychiater in der Akte drinsteht, darf
stark bezweifelt werden, liegen doch eine Reihe von Veröffentlichungen von
Psychiatern gerade aus dieser Anstalt vor, wonach die Akten entindividualisiert
seien und oft nichts weiteres als Datum und Mengen der vollzogenen Neuroleptika-Verabreichungen
enthielten (4).
Der tatsächliche Grund für die Verweigerung der
Einsicht dürfte wohl im Bestreben liegen, die uneingeschränkte Machtposition
zu erhalten sowie die vielfältigen heimlichen Psychopharmaka-Versuche zu
vertuschen, deren Kenntnis durch die Patient(inn)en nach den Worten
eines der beklagten Psychiater ethisch nicht vertretbar sei; Hanfried Helmchen,
wie dieser Psychiater heißt, findet die Gewährung jeglicher Rechte
für die Objekte bei Psychopharmaka-Experimenten »paradox«: schließlich
habe auch Ugo Cerletti bei seinen ersten Elektroschock-Einsätzen niemanden
um Erlaubnis gefragt, damals im Jahre 1938 während der faschistischen Diktatur
in Italien unter Mussolini (5).
Aus der Verweigerung der Akteneinsicht
kann ich nun schließen, dass es den Psychiatern offenbar nicht um mein Wohlergehen
geht, sondern um die Aufrechterhaltung ihrer Macht, um die Vertuschung möglicherweise
krimineller Menschenversuche (worüber in der liberale Presse kräftig
spekuliert wurde (6) und um die Vertuschung der Tatsache, dass Psychiatrie mit
Hilfe, Therapie und Bemühen um Verständnis nicht das geringste zu tun
hat.
Was brachte mir nun die Einsicht in die Winnendener Akte? Dass
ich kurz vor der Verschleppung in die Anstalt einen »geistigen
Höhenflug« und »Fortschritte in meiner Diplomarbeit«
gemacht hatte, wusste ich selbst. Der Psychiater sah darin allerdings
bloße Symptome. Dass ich meinen Mitbewohnern »auf
die Nerven gegangen« war nun ja, das beruhte auf Gegenseitigkeit.
Dass ich »viel und wirr geredet« hatte: richtig, aber
wer hatte sich dafür interessiert, dass ich zuvor mein Leben
lang wenig geredet hatte? Aus dem Widerstand gegen die Verschleppung
in die Anstalt war in der Akte »Aggressivität«
geworden; dennoch freute ich mich über die Passage zu meiner
Gegenwehr, denn ich war irrtümlich der Meinung gewesen, ich
wäre den Weißkitteln, die mich bei meinen Eltern abgeholt
hatten, mehr oder weniger widerspruchslos gefolgt. Die beschriebene,
als Folge der Neuroleptika aufgetretene totale Muskelverkrampfung,
die Augenstarre sowie die Schweißausbrüche geben auch
dem Außenstehenden ein Bild von der Art der Hilfe-Leistung,
die einen wehrlosen Menschen erwartet, der psychiatrisch Tätigen
ausgeliefert wird. Jede/r kann sich vorher genau überlegen,
ob er bzw. sie eine solche Tortur dem Kind, dem Vater, der Freundin
oder gar sich selbst antun lassen will.
Und schließlich, um die Verwertung
der zitierten Aktenauszüge und diesen Artikel abzuschließen: »Lachte
und weinte grundlos«, »ist nicht zu unterbrechen und beantwortet daher
auch keine Fragen; vorläufige Diagnose: Paranoide Psychose« wieder
wäre mir zum Lachen zumute, wäre der Tatbestand nicht gar zu traurig.
Das Wesen der Psychiatrie tritt in völliger Nacktheit zutage: Es besteht
aus Stigmatisieren, Diagnostizieren, Abwerten, Be- und Verurteilen,
und zwar auf billigste Weise, anstelle eine inhaltliche Auseinandersetzung zu
führen. Letzteres setzt freilich moralische Substanz, intellektuelle Anstrengung,
emotionales Einfühlungsvermögen und humane Zielsetzung voraus
von psychiatrisch Tätigen offenbar zuviel verlangt. Psychiatrie-Betroffenen,
die Zweifel an meiner Einschätzung hegen, empfehle ich einen Blick in die
eigene Psychiatrie-Akte, soweit ihr Psychiater nicht zu feige ist,
die Einwilligung hierzu zu geben. Ein Versuch sollte sich lohnen.
Literaturangaben
-
(1) Peter
Lehmann: Der chemische Knebel Warum Psychiater Neuroleptika
verabreichen, Berlin: Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag
1986, S. 93f., S. 112ff. u. S. 224ff. (PDF E-Book 2022)
-
(2) Peter
Lehmann / David Hill: Neue Seuche Tardive Dyskinesie (Spätdyskinesie)
Am Wendepunkt der psychiatrischen Psychopharmakologie?,
in: Dr. med. Mabuse Zeitschrift im Gesundheitswesen
(Frankfurt am Main), 14. Jg. (1989), Heft 58, S. 18-21
-
(3) Peter
Lehmann: Der Kampf um den Einblick in meine Kranken-Akte
Das Seelenheil des Patienten gebietet Schweigen,
in: Die Irren-Offensive Zeitschrift von Ver-rückten
gegen Psychiatrie (Berlin), Heft 1 (1981), S. 36-37; Peter
Lehmann: Psychiatrieakten zu Geheimakten erklärt,
in: Die Irren-Offensive Zeitschrift von Ver-rückten
gegen Psychiatrie (Berlin), Heft 2 (1983), S. 51-54;
Peter Lehmann: Akteneinsicht: Das Bundesverfassungsgericht
hat gesprochen, in: Die Irren-Offensive Zeitschrift
von Ver-rückten gegen Psychiatrie (Berlin), Heft 3 (1987),
S. 50-51
-
(4) s. Peter
Lehmann: Der chemische Knebel Warum Psychiater Neuroleptika
verabreichen, Berlin: Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag
1986, S. 323 (PDF E-Book 2022)
-
(5) s. ebd., S. 328
-
(6) Götz
Aly, Herr Professor Hanfried Helmchen und das Menschenexperiment.
Forschungsalltag und Patientenrechte in der Psychiatrie,
in: Tageszeitung vom 1. Juli 1982, S. 9
Copyright by Peter Lehmann 1988