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in: Kerstin Kempker &Peter Lehmann (Hg.): Statt Psychiatrie, Berlin: Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag 1993, S. 174-182

Peter Rippmann

PSYCHEX: ein schweizerisches Experiment – Versenken! Versenken!

Zu den klassischen Begriffen der umgangssprachlichen schweizerischen Mundart gehört das Verb »versenken«; wer, hochsprachlich orientiert, wissen will, was das Wort bedeuten könnte, sucht vergebens Hilfe beim Grossen Duden. Denn dort wird erklärt, mit besagtem Tätigkeitswort sei gemeint »untertauchen« oder »durch Untertauchen zerstören«. Das Substantiv »Versenkung« wird registriert, aber nicht erklärt; gemeinhin versteht der Psychologe darunter unter anderem ein nach innen gekehrtes Sich-Hingeben. Die alpenländische Variante des Wortes bleibt im Duden vollkommen ausgeblendet. Dabei stellt diese schweizerdeutsche Wendung die dramatischste und ungewöhnlichste Variante des Begriffs dar: Wer auf dem Gebiet der Eidgenossenschaft »versenkt« wird, wer Opfer einer Versenkung wird, der taucht zwar tatsächlich unter, aber nicht unter irgendeine Wasserfläche, sondern in einer Psychiatrischen Klinik.

Im übertragenen Sinn allerdings lässt sich der hochsprachliche Begriff durchaus direkt auf die schweizerische Redewendung anwenden: Wer oder was durch Untertauchen versenkt wurde, ein U-Boot vielleicht, kann in der Regel nicht mehr auftauchen. Ein derartig endgültiges, zwangsweise verfügtes Untertauchen eines Menschen, der zum chronisch kranken, unheilbaren Patienten abgestempelt wird, ist gemeint mit Versenken und Versenkung.

Über Zahl und Dauer der Versenkungen in der Schweiz existiert keine zuverlässige Statistik. Immerhin machte der Wille, der Europäischen Menschenrechtskonvention beizutreten, den EidgenossInnen in den 70er Jahren Beine, so dass auf den 1. Januar 1981 neue Bestimmungen gegen den unseligen Versenkungsmechanismus in Kraft gesetzt werden konnten. Sie zieren seither unter dem schönfärberischen Titel »Fürsorgerischer Freiheitsentzug« den sechsten Abschnitt im Kapitel Familienrecht des Schweizerischen Zivilgesetzbuches. Danach ist die Zwangseinweisung einer Person »wegen Geisteskrankheit, Geistesschwäche, Trunksucht, anderen Suchterkrankungen oder schwerer Verwahrlosung in einer geeigneten Anstalt« vorgesehen, »wenn ihr die nötige persönliche Fürsorge nicht anders erwiesen werden kann«.

Neu und für schweizerische Verhältnisse geradezu revolutionär war die Bestimmung: »Die betroffene Person muss entlassen werden, sobald ihr Zustand es erlaubt.« Sie, die versenkte Person also, hat – zentraler Punkt des FFE – das Recht, jederzeit den Richter anzurufen, der nach Anhören des Patienten oder der Patientin und der Psychiater über Andauern oder Beendigung des Zwangsaufenthaltes entscheidet.

In der Praxis hatten die neuen Bestimmungen zunächst nur geringe Bedeutung. Der gesetzliche Schutz der Internierten übte während der ersten Jahre zur Hauptsache eine Alibi-Funktion aus; die Zwangsuntergebrachten erhielten von der Möglichkeit, sich zur Wehr zu setzen, überhaupt nicht oder nur in unpräziser Weise Kenntnis, so dass Entlassungsgesuche nicht die Regel, sondern die Ausnahme bildeten.

Zwei Jahrzehnte hinter Anstaltsmauern und dann plötzlich frei

Entscheidende Impulse zur grundlegenden Veränderung dieser Situation gingen von Carlo W. aus, einem in der Zürcherischen Psychiatrischen Klinik Rheinau internierten »Patienten«, der mit seinen Entlassungsgesuchen mehrmals gescheitert war und beinahe zwei Jahrzehnte hinter den Mauern der Anstalt zugebracht hatte. Diesmal sollte er Erfolg haben. Er wandte sich nicht an ein Advokaturbüro an der vornehmen Zürcher Bahnhofstrasse, sondern vertraute sich dem im (eher verrufenen) Langstrassenquartier etablierten Rechtsanwalt Edmund Schönenberger an. Dieser hatte eine Doppelstrategie entwickelt: Erstens identifizierte er sich mit seinem Klienten Carlo W. (und seither mit zahlreichen weiteren SchicksalsgenossInnen) in ungewöhnlicher Weise; Carlo W. war ihm von allem Anfang nicht in erster Linie Kunde oder Patient, sondern partnerschaftliches Gegenüber. Da er dessen Eigenheiten und Absonderlichkeiten unbesehen akzeptierte, schuf er ein Vertrauensverhältnis, das die wichtigste Grundlage für den erfolgreichen Kampf gegen die Internierung wurde. Zweitens bemühte sich Schönenberger erfolgreich darum, die Problematik des Fürsorgerischen Freiheitsentzuges (FFE) in der breiten Öffentlichkeit diskutieren zu lassen. Die Mängel im bisherigen Vollzug der Bestimmungen über den FFE mussten publik gemacht werden, weil nur auf diese Weise der Bewusstseinswandel ausgelöst werden konnte, der schliesslich auch die Justiz erfassen sollte. Als Vehikel der Botschaft konnte Schönenberger den Schweizerischen Beobachter gewinnen, eine Zeitschrift mit der für hiesige Verhältnisse enormen Auflage von 400000 abonnierten Exemplaren. Dort wirkte ich, der Autor dieses Artikels, als Redakteur und hatte punktuell schon verschiedentlich öffentlich über die Problematik der psychiatrischen Institutionen nachgedacht.

Carlo W. wurde, nachdem sich der Beobachter direkt bei der Klinikleitung für ihn eingesetzt hatte, von einem Tag auf den andern entlassen. Man darf annehmen, dass er von der ärztlichen Leitung mit einigem Zynismus auf freien Fuss gesetzt wurde, nämlich in der (naheliegenden) Erwartung, man werde den angeblich schwer Schizophrenen schnell genug wieder zu betreuen haben. Diese Spekulation ging nicht auf: Als ausgesprochenes Original, das in zwei Jahrzehnten Anstaltsaufenthalt vor allem etwas gelernt hatte, nämlich geradezu professionelles Betteln, lebt Carlo W., vorher erbarmungslos vollgepumpt mit hohen Dosen von Psychopharmaka, seit seiner Entlassung ohne jedes Medikament und verfolgt mit Staunen die andauernden, aber noch nicht abgeschlossenen Bemühungen seines Rechtsanwalts um Zusprechung einer angemessenen Schadenersatz- und Genugtuungssumme für die Jahre ungerechtfertigter Internierung in einer geschlossenen Psychiatrischen Anstalt.

Vom Einzelfall zur flächendeckenden antipsychiatrischen Aktion

Edmund Schönenberger gab sich mit diesem Meisterstück der Einflussnahme auf die schweizerische Versenkungspraxis nicht zufrieden. Er entwickelte ein besonderes Gespür für die vertrackten Verhältnisse der Zwangsinternierten. Vor allem erkannte er sehr schnell, dass das menschenverachtende Verschwindenlassen von angeblich Geisteskranken eine derart selbstverständliche Übung geworden ist, dass jeweils elementare rechtliche Erfordernisse unbeachtet bleiben. Das Erkennen dieser Verfahrensmängel wurde zu einem Leitmotiv seines anwaltlichen Kampfes um die Befreiung seiner KlientInnen.

Da die Aufgabe der Betreuung von Schicksalgefährten des Carlo W. ihn zu überfordern drohte, setzte Schönenberger die Gründung einer speziellen Vereinigung mit dem Ziel, Hilfe zur Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechts Internierter zu organisieren, in Gang – mit durchschlagendem Erfolg: Nach der »Erfindung« des Wortes »PSYCHEX« gewann er zur Vereinsgründung am 7. Juni 1990 praktisch alle Persönlichkeiten, die in der Schweiz im Zusammenhang mit verschiedenen Varianten von Antipsychiatrie Rang und Namen haben:

  • Beatrice Mazenauer ist Verfasserin der juristischen Dissertation »Psychischkrank und ausgeliefert? Die Rechte des psychiatrischen Patienten im Vergleich zum Somatischkranken« (2. Aufl., Bern: Verlag Volk & Recht 1986). Sie erhob erstmals die institutionelle Rechtlosigkeit der Psychiatriepatienten nicht nur zum wissenschaftlichen, sondern zum gesellschaftspolitischen Thema. Ein Zitat über die gewaltsame Verabreichung von Psychopharmaka: »Der angewendete Zwang ist ... illegal.«

  • Berthold Rothschild, Zürcher Psychiater mit normalem eidgenössichen Arztdiplom, aber vor allem mit dem davon nicht korrumpierten Bewusstsein, dass »psychisch Kranke« von der Schulmedizin zu Unrecht ausgegrenzt und diskriminiert werden, Verfasser einschlägiger Fachbücher, darunter »Seele in Not« (Zürich: Fach-Verlag 1990). Daraus ein Zitat: »Es gibt (in der Psychiatrie, P.R.) nicht einfach ein Richtig oder Falsch. Menschliche Situationen sind immer wieder neu und erstmalig und können nicht einfach nach einem Schema bewältigt werden.«

  • Mariella Mehr, von Fahrenden abstammende und deshalb als Kind und Jugendliche in Erziehungs- und Psychiatrischen Anstalten untergebrachte schweizerische Schriftstellerin, die in ihren Werken nicht zuletzt die (selbsterlebte) Zwangsinternierung als Angehörige einer ausgegrenzten Minderheit thematisierte, unter anderem in: »Steinzeit«, Roman, 7. Aufl., Bern: Zytglogge Verlag 1990)

  • Marc Rufer, Zürcher Arzt und Psychotherapeut, hat seinerseits mit zwei fulminant antipsychiatrischen Werken seine Studienzeit, in der ihm klassische Versenkungspsychiatrie beigebracht worden war, hinter sich gelassen. Aus seiner Publikation »Irrsinn Psychiatrie« (2. Aufl., Bern: Zytglogge Verlag 1989): »Bei hospitalisierten 'PatientInnen' sind unter Bedingungen, wie sie in den meisten Kliniken herrschen, sinnvolle Therapieresultate praktisch ausgeschlossen.«

  • Barthold Bierens de Haan, Genfer Psychiater, schockierte mit der Anlehnung an antipsychiatrisches Gedankengut in seinem »Dictionnaire critique de Psychiatrie« (Paris/Lausanne: Verlag Pierre-Marcel Favre 1979 und 1986) zwangsläufig die an herkömmliche Schemata glaubende Öffentlichkeit: »Um eine Grundsatzdiskussion überhaupt auslösen zu können, haben die Antipsychiater die Dinge mit Erfolg auf den Kopf gestellt, das heisst sie versahen den Wahnsinn mit positiven Vorzeichen und den psychiatrischen Apparat mit negativen.« (Übersetzung P.R.) So viel Eigensinn liess sich allerdings kaum durchhalten: De Haan wirkt heute als ärztlicher Mitarbeiter des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK), hat aber jetzt bei der Gründung von PSYCHEX sein ursprüngliches Engagement wieder reaktiviert.

  • Zu PSYCHEX zählt schliesslich (neben Peter Rippmann, dem Verfasser des vorliegenden Berichts) noch Peter Lehmann, vielgerühmter und vielgescholtener Autor von »Der chemische Knebel« (Berlin, 2. Aufl. 1990). Er verfolgt als »zugewandter Ort« die Tätigkeit von PSYCHEX mit Sympathie und dient als Bindeglied zum Europäischen Netzwerk von Psychiatrie-Betroffenen. In seinem »Knebel« beschreibt er Psychiater: »Ihre eigene Tätigkeit besteht darin, gesunde Menschen mit – 'Medikamente' genannten – Giften krank zu machen.«

Neues Fahrgefühl ...

Mit so viel kompetenter Antipsychiatrie munitioniert, schlug Edmund Schönenberger in seinen Rechtsschriften von allem Anfang an einen in der schweizerischen Rechtspraxis bislang unüblichen, vollkommen unbefangenen Ton an und löste damit bei der Justiz in einer ersten Phase schiere Verblüffung aus. Es handelt sich hier in erster Linie um die »Psychiatrische Gerichtskommission«, die im Kanton Zürich die Entlassungsgesuche von Opfern des Fürsorgerischen Freiheitsentzuges (FFE) zu beurteilen hat. Diese richterliche Instanz reagierte mit Erstaunen auf die Tatsache, dass da ein Anwalt und seine KlientInnen aus der Alibi-Übung des FFE Ernst machten, dass aus der blossen Fiktion der Menschenrechte auch für Zwangsinternierte Wirklichkeit wurde.

Mehrfach gelangte Schönenberger ans Schweizerische Bundesgericht, die höchste richterliche Instanz in der Schweiz, um ein gesetzeskonformes Verfahren durchzusetzen. So war die gesetzliche Vorschrift, wonach die Betroffenen von der richterlichen Instanz persönlich anzuhören seien, in Zürich zunächst gar nicht respektiert worden: Das richterliche Gremium begnügte sich damit, die GesuchstellerInnen durch das psychiatrische Mitglied der Kommission befragen zu lassen. Das Gremium selbst hatte also keine persönliche Vorstellung vom Zustand der »psychisch Kranken«. Schönenberger erwirkte ein bundesgerichtliches Urteil, wonach die GesuchstellerInnen vom Gesamtgremium anzuhören sind. Aus dem höchstrichterlichen Urteil vom 1. Juni 1989:

Erheblich verstärkt werden die Bedenken gegenüber der blossen Befragung durch ein delegiertes Mitglied der Kollegialbehörde durch den Umstand, dass es sich beim Referenten um den mitwirkenden Sachverständigen (also Arzt, P.R.) handelt; diesem wird dadurch eine sehr mächtige Stellung eingeräumt, die gerade unter dem Gesichtspunkt eines grösstmöglichen Rechtsschutzes nicht zu befriedigen vermag. (AZ 5C. 32/1989/ch)

Eine weitere Episode soll den Prozess verdeutlichen, der durch PSYCHEX ausgelöst worden ist: Eines Tages forderte mich Edmund Schönenberger auf, mit ihm zusammen die rechtliche Vertretung einer jungen, ebenfalls in Rheinau internierten Frau zu übernehmen. Sie wurde von zwei (klinisch weiss gewandeten) Angehörigen der Sanitätspolizei von Rheinau ins Gebäude des Zürcher Obergerichts »überstellt« und dort angehört. Wie sie eine Frage des Vorsitzenden nicht richtig erfasst, versuche ich, ihr mit einer knappen Bemerkung das Thema deutlich zu machen. Da fährt der Vorsitzende dazwischen: »Hier bestimme ich, wer was mit wem spricht. Isch das klar?« Ich bin für eine paar Augenblicke ob dieser rüden Rüge perplex. Dann aber fasse ich mich und gebe zurück: »Total unklar, Herr Präsident.« Dieser hat nun seinerseits einen Moment der Unsicherheit zu überwinden, führt dann die Anhörung der Gesuchstellerin zu Ende, schaltet eine Pause ein und verkündet schliesslich, ohne auch nur die Plädoyers abzuwarten, die sofortige Freilassung der jungen Frau.

Nicht auf allen Ebenen liess sich die PSYCHEX-Konzeption durchsetzen. So sind bisher alle Versuche gescheitert, aufgrund der kritischen Analyse von Beatrice Mazenauer die Rechtswidrigkeit der Zwangsmedikation in Psychiatrischen Kliniken feststellen zu lassen. Insbesondere ist es nicht gelungen, Entscheide zu erzwingen, wonach um ihre Entlassung kämpfende GesuchstellerInnen Anspruch darauf haben, der Psychiatrischen Gerichtskommission »ungedopt« vorgeführt zu werden. Das psychiatrische Geheimmonopol auf Zwangsbehandlung in der Klinik ist noch immer intakt. Bei jedem Versuch, in diese Front eine Bresche zu schlagen, hat sich jeweils die zentrale These von Beatrice Mazenauer bestätigt: Hinter den Klinikmauern liegt für die InsassInnen ein rechtsfreier oder genauer: ein rechtloser Raum.

PSYCHEXodus: Die PSYCHEX-Provokation

Der Verein PSYCHEX kann stolz auf seine Tätigkeit zurückblicken. Die Zahlen über Entlassungsgesuche und ihre Erledigung aufgrund der Bestimmungen über den FFE belegen, dass mit dem Tätigwerden der Vereinigung merklich mehr angeblich Psychischkranke als bisher ihre Freiheit erwirken konnten (siehe Abbildungen).

Psychex

Anzahl der PSYCHEX-KlientInnen (links) und Anzahl der Entlassungen durch die Psychiatrische Gerichtskommission des Kantons Zürich (rechts).
Quelle: »Jahresbericht 1992«, Zürich: PSYCHEX 1993

Dem Verein PSYCHEX ist es gelungen, gleichzeitig eine Infrastruktur zur Unterstützung Betroffener zu schaffen: 250 Personen aus den verschiedensten Berufen, darunter über 70 Anwältinnen und Anwälte, haben dem Verein ihre Bereitschaft erklärt, die Internierten ehrenamtlich oder professionell bei ihren Entlassungsbemühungen und bei der Re-Organisation ihres Lebens ausserhalb der Anstalt zu unterstützen. PSYCHEX gibt diesen HelferInnen Rückhalt und beliefert sie mit Informationen, um nur einen Aspekt zu nennen.

Indessen ist allen Eingeweihten längst bewusst geworden, dass die bisher erzielten Erfolge nur einer Minderheit zugute kommen; nur wer sich als internierte(r) PatientIn zur Wehr setzt, nur wer von dieser Möglichkeit des Kampfes um Befreiung weiss, und vor allem: nur wer von sachkundiger Seite über seine bzw. ihre Rechte orientiert wird, kann überhaupt die Chance eines Entlassungsgesuches erfolgreich wahrnehmen.

Für uns war und bleibt diese Einschränkung ein eigentliches Ärgernis. Um eine umfassende Orientierung aller Versenkten sicherzustellen, konzipierte Schönenberger das Projekt PSYCHEXodus: Danach sollen in zweckmässigen Intervallen sämtliche in Anstalten untergebrachten »PatientInnen« mit Nachdruck auf ihre Rechte aufmerksam gemacht werden, insbesondere darauf, dass sie unter Berufung auf die Europäische Menschenrechtskonvention sowie die gesetzlichen Bestimmungen über den FFE Anspruch auf gerichtliche Haftprüfung erheben und ausserdem den Verein PSYCHEX beauftragen können, der dann für korrekte anwaltliche Vertretung sorgen wird.

In einem ersten Schritt am 25. Mai 1992 forderte Schönenberger die bereits mehrfach erwähnte, vom Kanton Zürich betriebene Psychiatrische Klinik Rheinau auf, eine von PSYCHEX verfasste Orientierung als Brief jedem einzelnen Insassen und jeder einzelnen Insassin zukommen zu lassen, wobei er sich auf eine weitere EMRK-Bestimmung stützte, diejenige, die den freien Briefverkehr gewährleistet (Art. 8). Der Vorstoss erregte beim kantonalzürcherischen Gesundheits-Establishment einen Sturm der Entrüstung: Auf der Gesundheitsdirektion ist man bestens vertraut mit Schönenbergers unerbittlichem Kampf für die Durchsetzung von Menschenrechten unabhängig von psychiatrischen Diagnosen, unter anderem vertraut auch mit einem gegenwärtig noch hängigen Zivilprozess, den er zugunsten des eingangs erwähnten Carlo W. führt, um dessen Entschädigung für die jahrzehntelange ungerechtfertigte Internierung in einer geschlossenen Anstalt zu erwirken. Jetzt war für die Zürcher Behörden der Zeitpunkt des Zurückschlagens gekommen. Die Gesundheitsdirektion gelangte an die Aufsichtskommission über die Rechtsanwälte und beschuldigte Schönenberger, er würde »das Verbot aufdringlicher Berufsempfehlung massiv umgehen«. Blauäugig schliesst die Anzeige mit der Bemerkung, es werde »jedem Patienten unmittelbar bei Klinikeintritt vom Aufnahmearzt ein Merkblatt mit vollständigen Rechtsmittelbelehrungen abgegeben.« Wohlweislich fehlt jede Antwort auf die Frage, wie es denn mit der korrekten Orientierung der Dauer-Internierten bestellt ist ...

Jetzt liegen die kantonalen und eidgenössischen Stellen mit der Gesundheitsdirektion im Clinch: Die Zürcher Finanzdirektion hatte schon mit Entscheid vom 26. Januar 1988 verfügt, es werde »der Verein PSYCHEX wegen Verfolgung von gemeinnützigen Zwecken von der Staatssteuer und den allgemeinen Gemeindesteuern befreit.« Genau ein Jahr und zwei Tage später doppelte das Bundesamt für Sozialversicherung in Bern nach und anerkannte PSYCHEX vorbehaltlos als subventionsberechtigte »Organisation der privaten Invalidenhilfe«. Diesen positiven Signalen setzte nun die Gesundheitsdirektion (eigentlich das kantonale Gesundheitsministerium) das negative der Intervention bei der Aufsichtsinstanz entgegen. Jetzt geht es darum, die erfolgreiche Ausdehnung der Vereinstätigkeit zu hintertreiben: Der Vorstoss der Gesundheitsdirektion hat ein – von der Aufsichtskommission über die Rechtsanwälte beschlossenes – Disziplinarverfahren ausgelöst, dem man mit Neugierde und Gelassenheit entgegenblicken kann.

Risiken

Völlig unabhängig vom jetzt hängigen Verfahren werden die PSYCHEX-PromotorInnen ihre Ziele weiterverfolgen; sie sind, wie jede auf Veränderung abzielende Aktivität, nicht ohne Risiken: Ob das Angebot der Unterstützung an alle potentiellen »Nestflüchter« in den geschlossenen Anstalten möglich ist, bleibt ungewiss – und ebenso, wie viele von ihnen bereit und fähig sein werden, ihre Chance wahrzunehmen und ein Leben in ungeschützter Freiheit ins Auge zu fassen. Auch steht nicht fest, in welcher Weise die zuständigen Justiz- und Verwaltungsinstanzen auf die Provokation dieser Befreiungsbewegung reagieren werden. Kaum jemand wird bestreiten wollen, dass auf seiten aller Beteiligten und Involvierten mit unvermeidlichem Beharrungsvermögen gerechnet werden muss: Die Hierarchie von den verordnenden Vormundschaftsbehörden über die Halbgötter in Weiss bis hinunter zu den PflegerInnen und natürlich auch bis hin zu den Betreuten selber betreibt zwangsläufig die Aufrechterhaltung der bisherigen »bewährten« Strukturen; es soll alles beim alten bleiben, beim alten Beherrschungsmechanismus oder bei der ebenso alten Akzeptanz dieser Herrschaft durch die Betroffenen.

Es gibt ausserhalb dieser Hierarchie eine weitere Kraft, die über Gelingen oder Misslingen des Experiments entscheidet: die Nichtinternierten, die angeblich Gesunden, speziell jene, die sich mit den angeblich Kranken zu befassen haben. Von ihnen hängt es mit ab, ob die erste Genugtuung über eine Entlassung aus dem FFE wirklich in die Freiheit führt oder aber beispielsweise in den »Rückfall«. Nur soll man die Skepsis nicht zu weit treiben: Auch dort, wo solche Rückfälle genüsslich registriert und interpretiert werden als Widerlegung der angeblich utopischen antipsychiatrischen Vorstellungen, kann sogar eine bloss vorübergehende Anstaltsentlassung einen nicht zu unterschätzenden Einfluss ausüben: zum Beispiel eine massive Verringerung der früheren Dosis, weil ein wohlmeinender Anstaltspsychiater dann eben doch abstellt auf die offenbar unbeschadet überstandene medikamentenfreie Phase nach der vorübergehenden Entlassung. (Dass nicht weniger Wohlmeinende nach der Rückkehr des »Patienten« die Zwangsmedikation bewusst als eigentliche Bestrafung einsetzen, ist natürlich auch möglich.)

Grundsätzlich gilt: Der Verein PSYCHEX wird unabhängig von der Entwicklung der Dinge in den hier skizzierten Bereichen seine Ziele verfolgen. Eine der ersten gemeinsam und fast gleichzeitig formulierten Grundannahmen ist ebenso banal wie überzeugend: Jeder Tag eines als psychisch krank abgestempelten Menschen in selbstverantworteter Freiheit ist ein Gewinn. Auch wenn einmal ein Experiment misslingt und damit die Befürworter der »bewährten« Strukturen der Anstaltspsychiatrie scheinbar Oberwasser gewinnen, bleibt jede antipsychiatrische Aktivität ein Stein im Mosaik eines von Vorurteilen und Normierungszwang befreiten Menschenbildes.


Über den Autor

Dr. phil., geboren am 9. August 1925 in der Schweiz in Stein am Rhein, ursprünglich Germanist, war vier Jahrzehnte an leitender Stelle als Redakteur der kritischen Halbmonatsschrift Der Schweizerische Beobachter tätig; auf ihn gehen unter anderem die Publikationen zurück, die den Anteil der schweizerischen Behörden an der Diskriminierungspolitik des Nazi-Regimes gegenüber jüdischen EmigrantInnen nachwiesen. Während Jahren auch Vorstandsmitglied des Schweizer psychiatriekritischen und gemeinnützigen Vereins PSYCHEX. Peter Rippmann starb am 30. Juli 2010.


© 1993 by Peter Rippmann