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Kerstin Kempker & Peter Lehmann (Hg.) Statt Psychiatrie
Kartoniert, 508 Seiten, ISBN 3-925931-07-4. Berlin: Antipsychiatrieverlag
1993. Restlos vergriffen.
Nachfolgetitel: "Statt
Psychiatrie 2", hg. von Peter Lehmann & Peter Stastny, 2007
(ebook 2021)
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Praxisbuch der Antipsychiatrie und Selbsthilfe. Psychiatriebetroffene,
Anwälte, Mediziner, TherapeutInnen, Psychiater und Angehörige
aus aller Welt berichten von ihrer anti- und nichtpsychiatrischen Arbeit,
den Zielen und Erfolgen, ihren Therapieansätzen und Erfahrungen. Originalausgabe
Original-Verlagsinfo
50 Anwälte, Mediziner/innen, Therapeut(inn)en, Psycholog(inn)en,
Psychiater, Angehörige, Politikerinnen, Sozialwissenschaftler/innen
und Psychiatriebetroffene aus aller Welt berichten von ihrer antipsychiatrischen
Arbeit, den Zielen und Erfolgen, ihren neuen Therapieansätzen und
Erfahrungen. Das Buch reflektiert die heute schon bestehenden Möglichkeiten
von echter Hilfe sowie von Selbsthilfe, auch im Fall akuter Verrücktheit.
Die Heilpraktikerin Anna Ochsenknecht stellt erstmalig naturheilkundliche
Hilfen bei psychischen Problemen und beim Psychopharmaka-Entzug vor. Jeffrey
Masson, ehemaliger Psychoanalytiker und Direktor des Sigmund-Freud-Archivs,
macht auf Missbrauchsgefahren von Psychotherapien aufmerksam. Weitere
Themen: »Wenn der Kinderpsychiater kommt...«, »Alte gegen
Psychiatrie: Vormund und Pillen oder eigener Willen«, »Ethischer
Kodex feministischer Therapie«, »Verrückte Gene. Psychiatrie
im Zeitalter der Gentechnologie«, »Auf dem Weg zum Verbot des
Elektroschocks« usw.
Inhaltsverzeichnis
Über die Autorinnen und Autoren
ANTIPSYCHIATRISCHE PRAXIS
-
Was
hilft mir, wenn ich verrückt werde? Die sehr persönlichen
Schilderungen einer Reihe von Menschen aus verschiedenen Ländern
zeigen, dass und wie es möglich ist, Zustände
akuter Verrücktheit, die normalerweise als »Psychose«
diagnostiziert werden und zur Anstaltsunterbringung und Zwangsbehandlung
führen, ohne psychiatrische Intervention zu durchleben oder bewältigen.
Mit Beiträgen von Paula Abalanda (Berlin), J. B. (Belgrad/Berlin),
Kerstin Friebel (Berlin/ehemalige DDR), Anna Guerrini (Italien), E.
H.-S. (Deutschland), A.H. (Berlin), Maths
Jesperson (Schweden), Kerstin
Kempker, Ernst Kostal (Österreich), Peter
Lehmann, Harold
A. Mayo (USA), Irit Shimrat (Kanada), Andy
Smith (England), Zoran
Solomun (Belgrad/Berlin), U.N.
Terwegs (Berlin), Thilo
von Trotha (Berlin), Christa Wyss (Schweiz). Originalartikel.
-
Wenn der
Kinderpsychiater kommt... SETH FARBER, Psychologe aus New York
City, warnt vor dem weltweit wachsenden Einfluss der Kinderpsychiatrie
auf das Erziehungswesen und ermutigt Eltern von Zappelphilipps, die
von der Diagnostizierung als »Kinder mit minimalen Hirnschäden«
und der Behandlung mit Psychopharmaka bedroht sind, zu ihren Kindern
zu halten. Aus dem Amerikanischen. Originalartikel.
-
Alte gegen
Psychiatrie Vormund und Pillen oder eigener Willen. TRUDE UNRUH
von den Grauen Panthern stellt den lebensgefährlichen
Begleiterscheinungen der Gerontopsychiatrie (Alterspsychiatrie), von
denen prinzipiell alle alten Menschen in Altersheimen und Krankenhäusern
bedroht sind, das Modell sowie ihre konkrete Lebenspraxis des familienähnlichen
Generationenverbunds mit gegenseitiger Hilfe und Schutz gegenüber.
Originalartikel.
-
Die seelische Balance Pflanzenheilkundliche Unterstützung beim
Psychopharmaka-Entzug und bei psychischen Problemen. ANNA OCHSENKNECHT,
Heilpraktikerin in Berlin, beschreibt Pflanzen und ihre Wirkstoffe,
deren Kombinationsmöglichkeiten und Mischungsverhältnisse,
um unerwünschte psychische Zustände positiv zu beeinflussen
und unabhängig von schädlichen Psychopharmaka zu werden.
Originalartikel.
-
Ein Blick, der nicht betrügt. J. B. und ZORAN SOLOMUN, beide
aus Belgrad stammend: Aus dem Serbokroatischen. Originalartikel.
MEDIZIN UND THERAPIE
-
Die
Tyrannei der Psychotherapie. JEFFREY M. MASSON, Berkeley/USA,
Autor von »Was hat man dir, du armes Kind getan?« und »Die
Abschaffung der Psychotherapie«, warnt: »Die Versuchung
des Missbrauchs, der Profitnahme, der Tyrannei ist ständig gegenwärtig.
Jeder Zugang zur Macht bietet Gelegenheit zu Machtmissbrauch. Im therapeutischen
Rahmen ist die emotionale Macht beinahe unbeschränkt... Die Botschaft,
die ich hervorheben möchte, lautet, dass wir uns gründlich
informieren sollten, bevor wir unser Einverständnis zur Psychotherapie
geben. Um wirklich umfassend informiert zu sein, müssen wir auch
mehr als bisher über die Kritik an Psychiatrie und Psychotherapie
wissen.« Aus dem Amerikanischen. Deutschsprachige Erstveröffentlichung.
-
Kopf
Bauch Psychoboom. URS RUCKSTUHL, Zürich: »Mit New Age,
d.h. mit seiner vereinnahmenden Form, erklimmt die freie Marktwirtschaft
eine neue Stufe. Ein Ausweg aus der Verknappung materieller Rohstoffe
liegt darin, sich der Erschießung geistiger Märkte zuzuwenden.
Die Förderung frühzeitlicher und mittelalterlicher Vorkommen
sowie die Kulturguteinfuhr aus Ländern der Dritten Welt
haben schon eingesetzt. Die Seele als Rohstoff mit unbegrenztem Schürfrecht!«
Der Schweizer Psychologe analysiert die Hintergründe des Psycho-
und Sektenbooms und stellt ihren geschlossenen Weltbildern und neuen
Hörigkeiten die Forderung nach emanzipativer Psychotherapie entgegen.
Der Text ist eine überarbeitete und komprimierte Fassung des
Artikels »Psychoboom und Imitation« (in: »Imitationen.
Nachahmung und Modell«, Basel/Ffm 1989).
-
Ethischer
Kodex feministischer Therapie. BONNIE BURSTOW, Toronto/Kanada:
»Dieser Text ist ein Auszug aus meinem Buch Radical Feminist
Therapy: Working in the Context of Violence (Radikale
feministische Therapie: Arbeit in einer gewalttätigen Gesellschaft).
Ich schrieb es für Therapeutinnen, die in ihrer Praxis wirklich
im feministischen Sinne handeln wollen. Indem ich die Antipsychiatrie
als wesentlichen Bestandteil des Feminismus erkannte, bildete sich
ein ethischer Kodex, der Antipsychiatrie ausdrücklich mit einbezieht.
Dies ist einer der ersten Versuche, Therapie in Richtung Antipsychiatrie
zu entwickeln.« Aus dem Amerikanischen. Deutschsprachige Erstveröffentlichung.
-
Verrückte
Gene Die Psychiatrie im Zeitalter der Gentechnologie. MARC RUFER,
Arzt und Therapeut aus Zürich und Autor von »Irrsinn Psychiatrie«
und »Wer ist irr?«, zeigt, wie angesichts des politischen
Rechtsrucks biologisch orientierte Psychiater erneut ihre Hemmungen
verlieren, sozial unerwünschten Verhaltensweisen durch rassentheoretisch
begründete gentechnologische Maßnahme vorzubeugen. Originalartikel.
-
Auf
dem Weg zum Verbot des Elektroschocks. PETER R. BREGGIN, Psychiater
aus den USA, warnt vor einer barbarischen Behandlungsmethode, die
in Schlachthöfen des faschistischen Italiens entwickelt wurde
und jetzt weltweit verstärkt bei wehrlosen Menschen eingesetzt
wird: Alten, Frauen, Kindern. Was tun dagegen? 1982 stimmten die BürgerInnen
von Berkeley/Kalifornien für ein Verbot des Elektroschocks. 1986
wurde es vom Appellationsgericht wieder aufgehoben. 1990 prüfte
der Ausschuss für kommunale Dienste im benachbarten San Francisco,
wie ein Verbot dennoch durchgesetzt werden kann. Aus dem Hearing des
Ausschusses, mit Hintergrundinformationen zum Elektroschock. Aus dem
Amerikanischen. Deutschsprachige Erstveröffentlichung.
RECHT UND UNRECHT
-
Zwangspsychiatrie und Zwangsbehandlung in Deutschland
Ein Ratgeber für Psychiatrie-Betroffene. RUDOLF WINZEN, München.
Über Möglichkeiten und Gefahren des Betreuungsgesetzes vom
1. Januar 1992 sowie der Unterbringungsgesetze der Bundesländer.
Juristendeutsch für Laien verstehbar gemacht. Originalartikel.
-
Zwangspsychiatrie
in der Schweiz Was tun? EDMUND SCHÖNENBERGER, Rechtsanwalt
aus Zürich, gibt Ratschläge, wie sich Anstaltsinsassinnen
und -insassen gegen psychiatrische Menschenrechtsverletzungen wehren
können. Mit Musterbeschwerden. Originalartikel.
-
Zwangsanhaltung
und Zwangsbehandlung in Österreich Ein Erfahrungsbericht zum
Bundesgesetz von 1990. GÜNTHER FISSLTHALER und PETER SÖNSER,
Patientenanwälte der Landesnervenklinik Salzburg, geben Orientierungspunkte,
um sich in der undurchsichtigen Rechtslage nicht zu verlieren: Entmündigungsordnung,
Einweisungsvorgang, Zwangsbehandlung, Alternativen zum Zwang. Originalartikel.
-
PSYCHEX
ein schweizerisches Experiment. Versenken! Versenken! PETER RIPPMANN,
Ex-Chefredakteur der Halbmonatsschrift Der Schweizerische Beobachter,
berichtet von der Arbeitsweise des Pilotprojekts PSYCHEX, das in wachsendem
Ausaß psychiatrisch zwangsuntergebrachten Menschen zur Freiheit
verhilft. Originalartikel.
-
Theorie
und Praxis des Psychiatrischen Testaments. PETER LEHMANN, berichtet
über die Geschichte des Psychiatrischen Testaments, von Psychiatern
verfasste (pro-)Psychiatrische Testamente, Konsequenzen (incl. Musterbeispiel).
Originalartikel.
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Das Psychiatrische Testament
Zum vorbeugenden Schutz vor willkürlicher Zwangsbehandlung. Mustertext
und Gebrauchsanweisung. HUBERTUS ROLSHOVEN und PETER RUDEL. Wie
man die Formblätter selbst ausfüllt.
SELBSTHILFE
-
Die
Irren-Offensive Möglichkeiten und Grenzen antipsychiatrischer
Selbsthilfe. TINA STÖCKLE, Autorin des Buches »Die
Irren-Offensive. Erfahrungen einer Selbsthilfe-Organisation von Psychiatrieopfern«
(Ffm 1983), gab kurz vor ihrem Tod 1992 die Nachdruckerlaubnis. Die
beiden zusammenfassenden Kapitel, bearbeitet und mit einem aktuellen
Vorwort versehen von Peter Lehmann.
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Erfahrungen
und Zukunftsorientierungen der Selbsthilfebewegung in Nordamerika.
JUDI CHAMBERLIN, Boston: »Die Bewegung stellt das medizinische
Modell der psychischen Krankheit infrage und besteht darauf, dass
Menschen, die als psychisch krank abgestempelt werden, für sich
selbst reden. Mit einer eigenen Philosophie umfasst sie eine Vielfalt
von Projekten der Selbsthilfe und gegenseitigen Unterstützung,
in denen ehemalige PatientInnen die Angebote selbst bestimmen
und kontrollieren. Allen Hindernissen zum Trotz ist es eine Bewegung,
die sich weiterentwickelt und wächst.« Aus dem Amerikanischen.
Deutschsprachige Erstveröffentlichung.
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Das
Europäische Netzwerk von Psychiatrie-Betroffenen. KARL BACH JENSEN
aus Kolding/Dänemark, Mitbegründer der internationalen
Selbsthilfebewegung, schreibt über die Entstehung des Netzwerks,
seine Programmatik, die Chancen und Risiken der Organisierung. Originalartikel.
-
Rückblick
auf zwölf Jahre antipsychiatrische Selbsthilfe. Zwei Interviews
(1981 und 1992). LUDGER BRUCKMANN, Berlin, stellte sich zehn Jahre
nach seinem Interview mit Tina Stöckle (in: »Die Irren-Offensive«)
erneut den Fragen zu seinen Erfahrungen in der Antipsychiatrie-Bewegung.
Eine persönliche Rückschau, desillusioniert, zum Teil bitter,
zum Teil ermutigend. Teil II: Originalartikel.
POLITIK
-
Psychische
Krankheit ein Phantom. KATE MILLETT, New York City: »Wir
sind die Überlebenden eines der übelsten Unterdrückungsapparate,
die je entwickelt wurden, seine Opfer ebenso wie seine KritikerInnen.
Wir sind diejenigen, die die Wahrheit erzählen müssen, die
klarmachen müssen, dass psychische Krankheit ein Phantom ist,
sowohl intellektuell als auch wissenschaftlich, aber auch ein System
zur sozialen Kontrolle von noch nie dagewesener Gründlichkeit
und Allgegenwart.« Kate Milletts Artikel basiert auf einer Vorlesung
zum Thema Justiz und Medizin, die die Autorin von »Sexus und
Herrschaft« im März 1992 an der Juristischen Fakultät
der Law of Queen's University in Kanada hielt. Aus dem Amerikanischen.
Deutschsprachige Erstveröffentlichung.
-
Antipsychiatrie
und Politik 20 Jahre Widerstand in den USA. DAVID OAKS aus Eugene,
Oregon: »Wir können Alternativen anbieten, die auch funktionieren.
Wir können andere lehren, dass Normalität gefährlich
ist und kreatives Denken und Fühlen not tut. Unsere Basis, die
in verschiedenen sozialen und basisdemokratischen Bewegungen verwurzelt
ist, müssen wir erneuern. Dabei dürfen wir nicht vergessen,
dass staatliche Finanzierung und unsere Unabhängigkeit, die beide
wichtig sind und sich ergänzen, zwei unterschiedliche und voneinander
getrennte Grundlagen unseres Kampfes darstellen.« Aus dem Amerikanischen.
Originalartikel.
-
Frauen gegen
Gewalt in Gesellschaft und Psychiatrie Eine feministische Analyse
psychiatriebetroffener Frauen. Eine Philippika von sieben Frauen
aus Kanada und den USA gegen die männlich dominierte Psychiatrie
und Psychotherapie. Mit Vorworten von Judi Chamberlin und Jeanne Dumont.
Aus dem Amerikanischen. Deutschsprachige Erstveröffentlichung.
- Persönliche
Beweggründe für antipsychiatrisches Handeln. Mit Beiträgen
von Lothar
Jändke (Berlin), Don
Weitz (Kanada), Alfredo
Moffatt (Argentinien), Peter
R. Breggin (USA), Bonnie
Burstow (Kanada), Wolfgang
Fehse (Berlin), Sylvia
Marcos (Mexiko), Gisela
Wirths (Berlin), Peter
Stastny (USA / Österreich), Theodor
Itten (Schweiz), Sabine
Nitz-Spatz, Kerstin
Kempker, Thilo
von Trotha und Uta
Wehde (alle Berlin). Betroffene, Angehörige, Psychiater und
Psycholog(inn)en schildern hier, aufgrund welcher einschneidender persönlicher
Erfahrungen sie antipsychiatrisch aktiv wurden und in verschiedenen
Bereichen für Möglichkeiten echter Unterstützung kämpfen.
Originalartikel.
ANHANG
Einführung
Antipsychiatrie gibt es die denn noch? Ja, aber nicht mehr als universitären
Ausfluss der 68er, auch nicht als reformerische Variante der Psychiatrie à
la Italien, der Sozialpsychiatrie oder gemeindenaher Anstaltsfortsätze. Sondern,
und das ist das Neue, initiiert und getragen von kritischen Psychiatrie-Betroffenen,
den eigentlichen ExpertInnen in Sachen Psychiatrie, und orientiert am Recht auf
Selbstbestimmung, körperliche Unversehrtheit und soziale Unterstützung.
Die vorliegende Sammlung von Beiträgen antipsychiatrischer AktivistInnen
und UnterstützerInnen aus vielen Ländern soll kein weiteres
Stück Verständigungsliteratur (»Wir sind doch auch Menschen!«)
sein, sie beschert Psycho-Voyeuren keine schauerlich-schönen Geschichten
aus dem Reich der Psychosen; statt dessen liefert das Buch
Berichte aus dem anti- und nichtpsychiatrischen Alltag, den Versuch einer
Bestandsaufnahme der Bewegung in verschiedenen Ländern, Hintergründe
und Informationen, Rat und Adressen. Es soll ein Praxis- und Ideenbuch
sein, eher persönlich als verallgemeinernd, eher Vorschläge
machen, Anregungen geben und Widersprüche benennen, als Ratgeber
sein zu wollen für alle Lebenslagen.
Die Idee zum Buch entstand bei unseren Zusammenkünften mit Thilo
von Trotha, Mitstreiter im Verein zum Schutz vor psychiatrischer Gewalt
e.V. Die Treffen sollten eigentlich dem Zweck dienen, Thilos philosophische
Abschlussarbeit über die frühen Schriften von Michel Foucault
ebenso voranzutreiben wie Peters schon zehn Jahre währendes Promotionsvorhaben
über Schizophrenie und Normalität. Zwischen Foucault
und Neuroleptika drängten sich dabei immer deutlicher die eigentlich
interessanten Fragen der Praxis in den Vordergrund unserer Diskussion:
Wie bist du in der Anstalt gelandet? Wie wieder herausgekommen? Woher kommt die
Ausdauer im Widerstand? An wen können wir die vielen Hilfesuchenden verweisen,
die sich aus dem gesamten deutschsprachigen Raum mit immer denselben Fragen an
uns wenden: »Welche Alternativen zur Psychiatrie gibt es?
Sind sie bereits irgendwo verwirklicht? Wie habt Ihr es geschafft, dem Teufelskreis
der Drehtürpsychiatrie zu entkommen? Wie kann ich mich am Aufbau von Alternativen
beteiligen? Wo kann ich mich mit Gleichgesinnten über meine Psychiatrie-
und Lebensgeschichte austauschen? Wie schütze ich mich vor Zwangsunterbringung
und Zwangsbehandlung? Was soll ich tun, wenn ich verrückt werde? Was schlagt
Ihr vor..... statt Psychiatrie?« Uns reizte die Suche nach
Antworten, nicht nach der einen, sondern den vielen verschiedenen persönlichen.
Da sich die antipsychiatrisch Bewegten ehrenamtlich engagieren und nicht, wie
die bezahlten Psychiater, von Pharmafirmen gesponsert von Kongress zu Kongress
jetten können, ist es uns um so wichtiger, auf diesem Weg Meinungen, Informationen
und Adressen auszutauschen, Verbindungen herzustellen und die gegenseitige Unterstützung
voranzutreiben.
Kerstin Kempker, Peter Lehmann
Rezension in:
Dr.med.Mabuse Zeitschrift im Gesundheitswesen, 19. Jg. (1994), Nr. 92,
S. 75 »Statt Psychiatrie« ist ein sorgfältig ausgestattetes
Handbuch, speziell für Psychiatrie-Betroffene, aber auch für Angehörige,
TherapeutInnen, JuristInnen und psychiatrisch Tätige. Es liefert eine Vielzahl
von Hilfen und Anregungen, Adressen und Ratschlägen: Wie übersteht man
die Psychiatrie, wie findet man den Ausstieg, welche konkreten Wege gibt es, im
akuten Fall das Behandlungszimmer des Psychiaters zu meiden? 50 AutorInnen
aus aller Welt geben einen Überblick über die gegenwärtige Antipsychiatriebewegung,
wobei die Unterschiede zur universitären Antipsychiatrie der 70er-Jahre deutlich
werden: Es ist eine von ehemals Psychiatrisierten initiierte und getragene Bewegung,
eher praxisorientiert als ideologisch. Primär kommen also Psychiatrie-Betroffene
zu Wort, zum Beispiel in dem Kapitel »Was hilft mir, wenn ich verrückt
werde?«, in dem 17 Mal völlig unterschiedlich und durchaus auch konträr
geschildert wird, wie akute Verrücktheitszustände durchlebt und umgangen
wurden, ohne psychiatrisiert zu werden. Im einem eigenen Kapitel legt Kate Millett
offen, wie sich eine ganze psychiatrische Industrie mit vielen Arbeitsplätzen
und Profitmöglichkeiten auf dem Krankheitsmodell aufgebaut hat, Grund für
das allgemeine zähe Festhalten an der psychiatrischen Ideologie. Nur
noch in zweiter Linie, sozusagen flankierend, äußern sich Fachleute
wie die Rechtsanwälte Peter Rudel und Hubertus Rolshoven mit »Das formelle
Psychiatrische Testament- Gebrauchsanweisung und Mustertext« oder der Psychiater
Peter Breggin (Protokoll seiner Anhörung vor dem City Services Committee
in San Francisco am 27. November 1990) zur Frage eines Elektroschockverbotes;
oder der Schweizer Arzt Marc Rufer in seinem Beitrag »Verrückte Gene
Psychiatrie im Zeitalter der Gentechnologie«. Auch die Texte der Fachleute
sind durchaus konträr. Während sich zum Beispiel Jeffrey Masson in »Die
Tyrannei der Psychotherapie« gegen jede Art professioneller Psychotherapie
ausspricht, liefert die Kanadierin Bonnie Burstow, Autorin des Buches »Radical
feminist therapy«, mit ihrem »Ethischen Kodex feministischer Therapie«
überzeugende Vorschläge, wie eine parteiliche und psychiatrieferne Therapie
aussehen könnte. Obwohl das Buch Wege in eine psychiatriefreie Zukunft
eröffnet, sind alle Texte am konkret Machbaren orientiert, sei es nun Seth
Farbers »Wenn der Kinderpsychiater kommt...«, Trude Unruhs »Alte
gegen Psychiatrie Vormund und Pillen oder eigener Willen« oder Anna
Ochsenknechts »Die seelische Balance Pflanzenheilkundliche Unterstützung
bei psychischen Problemen und beim Psychopharmaka-Entzug«. Durchaus selbstkritisch
passieren 20 Jahre nichtpsychiatrischer Selbsthilfe Revue, in den USA und in Deutschland.
»Statt Psychiatrie« ist kein männergemachtes Theoriebuch. Kerstin
Kempker und Peter Lehmann haben ein ermutigendes, verständliches und schon
durch die verschiedenen Sprachstile abwechslungsreiches Buch herausgebracht. Es
gibt vielfältige lebensnahe persönliche, aber auch handfeste juristische
und politische Antworten auf die eingangs gestellte Frage: »Was hilft mir
statt Psychiatrie?«
Iris Hölling |