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in: Kerstin Kempker / Peter Lehmann (Hg.): Statt Psychiatrie, Berlin: Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag 1993, S. 38-40

Maths Jesperson

Was hilft mir, wenn ich verrückt werde?

Im März 1980 war ich freiwillig in der Psychiatrie. Es war eine große, alte ›Nervenheilanstalt‹ außerhalb der Stadt. Seit meiner Kindheit hatte ich andeutungsweise die entsetzlichsten Gerüchte über diesen Ort gehört. Aber jetzt blieb mir nichts anderes übrig als hinzugehen. Ich konnte draußen im Freien nirgendwo existieren.

Im November 1981 verließ ich die Psychiatrie, weil man mir dort nicht geholfen hatte. Man hatte nicht einmal versucht, mir zu helfen, mir stattdessen Neuroleptika gegeben, die mein Leiden steigerten. Auch meine ursprünglichen Qualen, meine Verrücktheit, waren schlimmer als je zuvor. Diese beinahe zwei Jahre waren für mich weggeworfene Zeit.

Meiner Meinung und Erfahrung nach gibt es keine ›psychischen Krankheiten‹. Verrücktheit ist keine Krankheit. Sie ist ein tiefgehender Konflikt. Und mehr noch: Sie ist der Versuch, einen Weg aus diesem Konflikt heraus zu finden. Die Verrücktheit ist also nicht nur negativ, sondern auch positiv, weil sie die Möglichkeit eröffnet, aus einer unerträglichen oder zwecklosen Situation herauszugehen, und ein authentischeres Leben einleitet.

Verrücktheit ist keine Krankheit, sondern ein Weg. Es gibt keinen Weg ›zurück zum normalen Leben‹, sondern nur den Weg zu einem neuen Leben. Die Verrücktheit ist eingetreten, um dieses neue Leben einzufordern. Sie ist kein wünschenswerter Zustand, eher ein Chaos, aber ein notwendiges Chaos, das (man) passieren muss. Durch dieses Chaos, die Verrücktheit, gelangt man zur anderen Seite.

Das Problem ist, wie man diesen Weg durch die Verrücktheit findet. Am besten ist es, einen Wegweiser zu finden, der einen ähnlichen Weg schon begangen hat (das kann ein ehemaliger Psychiatrie-Insasse sein). Letztlich geht man den Weg aber selber. Das kann man keinem anderen überlassen, am wenigsten den Psychiatern und ihren Untergebenen. Es ist ein schwieriger und schmerzhafter Weg. Aber er wird erträglich, wenn man weiß, dass es ein sinnvoller Prozess ist und dass dieser Durchbruch möglich ist.

Aber was heißt es, durch die Verrücktheit zu gehen? Wird man dann nicht nur immer verrückter? Nein, denn die Verrücktheit ist nicht nur Ausdruck eines Konflikts, sie ist auch der Versuch, diesen zu überwinden. Die Lösung ist schon in ihr verborgen. Man muss sie nur herausfinden. Wenn ihre Bedeutung sich herauskristallisiert, kann man all die Sackgassen erkennen, aber auch den richtigen Weg. So kann mitten im Chaos die Wende zu einem neuen, befreiten Leben stattfinden.

Die Verrücktheit ist nicht sinnlos, sondern im Gegenteil voller Sinn. Er versteckt sich hinter den sogenannten Wahnvorstellungen, die ihn ein bisschen verdrehen und verzerren. Meine Aufgabe, mein Weg war es, den Kern der Wahrheit zu finden. Meine Verrücktheit wurde von der Psychiatrie als ›Zwangsneurose‹ diagnostiziert, schwersten Grades und unheilbar. Das war eine Kategorisierung äußerer Symptome. Hätten die Psychiater meine innere Welt aufgesucht, so hätten sie diese wohl kaum von der der ›Schizophrenie‹ unterscheiden können.

Ich hatte Zwangsvorstellungen von Reinheit. Mein ganzer Tag war von magischen Ritualen besetzt. Immer musste ich einen unsichtbaren ›Schmutz‹ kontrollieren. Ich durfte mich nicht auf einen verkehrten Stuhl setzen oder die falschen Personen berühren. Dieser ›Schmutz‹ hatte nichts mit gewöhnlichem Schmutz oder mit Bazillen zu tun, die mich nicht kümmerten. Ich wusste genau, woraus dieser ›Schmutz‹ bestand, und hätte das den Psychiatern erzählen können. Aber sie haben mich nie danach gefragt.

Dieser ›Schmutz‹ war konkret, aber auch sehr symbolisch geladen. Er war ein tödliches Gift, ebenso stark wie die Radioaktivität von Tschernobyl. Jeden zweiten Tag musste ich in einem Reinigungsritual 10 (!) Stunden lang duschen, was eine unmenschliche Qual war. Außer diesem unsichtbaren ›Schmutz‹ hatte ich auch Zwangsvorstellungen von der symbolischen Bedeutung aller möglichen Dinge, denen ich begegnete. Insbesondere war ich von einer Ziffernmystik gefesselt, in der die Ziffern für verschiedene Personen standen. Ohne mein Zutun konnte ich Dingen begegnen, die von ferne diese Menschen beeinflussten, etwa wie Voodoo.

Obwohl ich gleichzeitig sehr ›normal‹ und ›vernünftig‹ war, war es mir unmöglich, diese Zwangsvorstellungen mit dem Willen auszuschalten. Sie waren nicht, wie es die Psychologen oft auffassen, Symptome der Problemflucht, sondern die temporäre Lösung eines sehr schweren inneren Konflikts. Dieser innere Konflikt war unlösbar, weil die zwei denkbaren Alternativen für mich beide unmöglich waren. Darum hatte ich mich in eine temporäre Mittelstellung einsperren lassen.

Der Konflikt war absolut unlösbar... aber... eines Tages eröffnete sich plötzlich und unerwartet ein dritter Weg. Ich wurde von unsichtbarer Hand zu einer christlichen Buchhandlung geführt. Dort sah ich die Bücher von dem großen katholischen Mystiker Juan de la Cruz (1542-1591). Seine Beschreibung von der Seelenfinsternis in seinem Buch "Die dunkle Nacht der Seele" (1952) war die erste adäquate Beschreibung meiner Verrücktheit. Mit seinem Reinigungsprozess konnte ich den Sinn meiner Symptome verstehen. Und am wichtigsten: Mit Juan de la Cruz musste ich meine Verrücktheit nicht mehr als etwas Negatives betrachten, sondern ich konnte sie als etwas Positives und Notwendiges erkennen, für das ich Gott lobpreisen muss! Nur durch die Nacht gelangt man zum Morgen. Sonst muss man – wie die Psychiater und ihr Personal – am konventionellen, langweiligen, leeren, geisttötenden, robotisierenden Abend für immer stehen bleiben!

Die Lektüre von Juan de la Cruz führte mich zur katholischen Kirche. Als ich 1984 konvertierte, war ich meine ›Zwangsneurose‹ sofort los.

Wahrscheinlich können andere ›Zwangsneurotiker‹ unmöglich meinem Weg folgen. Jeder muss doch seinen eigenen Weg finden. Aber einige allgemeine Erkenntnisse möchte ich vermitteln.

  1. Die Verschiebung der Reinheitsbemühungen von äußeren Ritualen ins Innerste des Herzens: Jesus hat gesagt, dass es nicht wichtig sei, reine Hände zu haben, wenn man zum Essen gehe. Wichtig ist aber die Reinheit des Herzens (Matthäus 15:1-20). Als ich dies in seiner Tiefe erfasst hatte, war es nicht schwer, die äußeren Zwangsrituale als sinnlos zu verwerfen. Zuvor waren die Rituale temporäre Notwendigkeiten gewesen, um überhaupt existieren zu können.

  2. Die Überwindung magischer Fernsteuerungsvorstellungen durch eine höhere, geistige Macht: Niemand weiß, ob es parapsychologische Kräfte gibt oder nicht. Die Möglichkeit anderer Realitäten, die wir durch unser Handeln bewusst oder unbewusst beeinflussen können, muss eine offene Frage bleiben (obwohl die Psychiatrie und die materialistischen ›Wissenschaften‹ dies leugnen). Für mich war es jedenfalls unmöglich, diese parapsychologische Eventualität zu bestreiten. Meine Probleme der magischen Fernsteuerungen waren unlösbar, bevor ich zur katholischen Kirche konvertierte. Ich fand heraus, dass diese parapsychologische Sphäre vielleicht existiert, dass es aber heidnisch sei, sich ihr zu unterwerfen. Christus ist eine höhere, geistige Macht. Die Zuwendung zu ihm bedeutete für mich das augenblickliche Abschneiden aller magischen Kausalzusammenhänge. Dann konnte ich dieses ganze Problem an den Nagel hängen.

Quelle

de la Cruz, Juan (1952): Die dunkle Nacht der Seele. Sämtliche Dichtungen, Salzburg: O. Müller


Über den Autor

1954 geboren. 1980 bis 81 Psychiatrie-Insasse. 1982-88 Produzent und Dramaturg der Schauspielergruppe Mercuriustheater sowie Kommunalpolitiker der Grünen in Lund/Schweden. Konvertierte 1984 zum Katholizismus. Seit 1988 Regionalsekretär des RSMH (Riksförbundet för Social och Mental Hälsa; nationaler Bund der schwedischen Psychiatrie-Betroffenen), seit 1990 Mitglied in dessen Vorstand. Parallel Forschungstätigkeit am Fachbereich Theaterwissenschaft der Universität Lund (Stand: 1993). Mehr zu Maths Jesperson


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