Homepage
des Antipsychiatrieverlags
in:
Kerstin
Kempker & Peter Lehmann (Hg.): Statt Psychiatrie, Berlin: Peter
Lehmann Antipsychiatrieverlag 1993, S. 394-397
Beiträge von
Lothar
Jändke,
Don
Weitz,
Alfredo
Moffatt,
Bonnie
Burstow,
Wolfgang Fehse,
Sylvia
Marcos,
Gisela
Wirths,
Peter
Stastny,
Theodor
Itten,
Sabine
Nitz-Spatz,
Kerstin
Kempker,
Thilo von Trotha,
Uta Wehde
Peter R. Breggin
Persönliche
Beweggründe für antipsychiatrisches Handeln
(1)
Ich bin 56 Jahre alt. Ich bin Jude. Ich glaube, dass diese Tatsache
und meine Kenntnisse über den Holocaust, die ich schon als
Kind erlangte, es mir ermöglichten, die Lage der Psychiatrie-Patienten
und -Patientinnen zu verstehen. Als Neunjähriger habe ich
in einem Filmbeitrag in Newsreel zum ersten Mal Filme
über KZs gesehen. Außerdem erzählte mir mein Onkel
davon; als Armeeoffizier war er an der Befreiung eines KZs beteiligt.
Vieles von dem, was ich hier äußere, läuft auf
einen Vergleich von Anstaltsinsassen mit Juden im KZ hinaus.
Neun Jahre, nachdem ich diese Geschichten gehört und den
Film gesehen hatte, betrat ich zum ersten Mal eine Psychiatrische
Anstalt. Das war im Jahr 1954; ich war Praktikant am Harvard-College
in Cambridge, Massachusetts. Diese unmittelbare Erfahrung ließ
mich all das fühlen, was ich mir in meinen schlimmsten Alpträumen
über die KZs ausgemalt hatte. Zuerst einmal war da dieser
Geruch, ein fürchterlicher Gestank. Dazu kam der Ausdruck
in den Augen der Leute, dermaßen niedergeschlagene Geschöpfe.
Und schließlich noch die Gleichgültigkeit, ja sogar
Hass derjenigen, die dort arbeiteten, gegenüber den Insassen.
Am ersten Tag sah ich eine Studentin aus unserem benachbarten
College Radcliff, wie sie sich in die Ecke einer Zelle drückte.
Weil ich aber noch kein 'ausgebildeter' Arzt war, wusste ich,
dass das verkehrt war und dass ich, müsste ich hier bleiben,
genauso enden würde, in eine Ecke gekauert.
Schließlich wurde ich Leiter des ersten großen Praktikumprojekts
an einer Psychiatrischen Landesnervenklinik. Ich war immer noch
Student. Ich wurde Zeuge, wie man an Patientinnen und Patienten
Elektroschocks vollzog, und ich erlebte, wie man sie mit Überdosen
von Insulin ins Koma beförderte. Der Psychiater sagte mir,
dass durch diese Behandlung lediglich die schlechten Gehirnzellen
abgetötet würden; aber da ich 'jung und unwissend' war,
glaubte ich ihm nicht. Wenn es im Sommer brütend heiß
und im Winter klirrend kalt war, sagten mir die Psychiater, dass
'Schizophrenen' solche Hitze und Kälte nichts ausmache. Aber
ich war nicht 'geschult', und darum sprach ich mit den Betroffenen,
und die schienen mir wesentlich empfindsamer zu sein als die meisten
anderen Leute.
Über den tatsächlichen historischen Zusammenhang zwischen
Psychiatrischen Landesanstalten und KZs wusste ich damals nichts.
In den 20er und 30er Jahren, also noch vor der Machtübergabe
an Hitler, waren weltweit aus Psychiatrischen Anstalten riesige
überfüllte Todeslager geworden. Hirnverletzungen bei
Patientinnen und Patienten infolge der Behandlungsmethoden und
der Prügel waren an der Tagesordnung, Hungertod war keine
Seltenheit. (Ich mache darauf aufmerksam, dass ich versehentlich
Worte wie Patient und Patienten gebrauche, obwohl ich von Betroffenen
gelernt habe, dass Insasse bzw. Insassin der treffendere Ausdruck
ist.) Zu dieser Zeit waren Deutschland und die USA führend
auf dem Gebiet der biologischen Psychiatrie, was Psychiatrie ja
eigentlich ist. Vom Schädigen von Gehirnen bis zum direkten
Mord ist es nur ein kleiner Schritt. Zur selben Zeit sterilisierten
Psychiater in der ganzen Welt 'Patientinnen' und 'Patienten' in
Massen, was auf einer anderen Ebene ebenfalls Mord darstellt.
Es war eine unbarmherzige Psychiatrie, die ihre 'Patientinnen'
und 'Patienten' in KZ-ähnlichen Todesfallen zugrunde richtete.
1920, also bevor Hitler an die Macht kam, schrieben in Deutschland
ein Psychiater namens Hoche und ein Jurist namens Binding
beide führten die Titel »Prof. Dr.« das
erste Buch, in dem die systematische Vernichtung einer ganzen
Gruppe von Menschen gefordert wurde: »Die Vernichtung lebensunwerten
Lebens«. Ich finde das deshalb so wichtig, weil damit eine
offene Diskussion über den Mord an Psychiatrie-'Patientinnen'
und -'Patienten' eingeleitet wurde bevor Hitler an die
Macht kam. Im Laufe des Jahres 1938 hatte man in Deutschland ohne
ausdrückliche Genehmigung Hitlers damit begonnen, deren massenhafte
Vernichtung vorzubereiten. Ich frage mich, wievielen Menschen
eigentlich klar ist, dass die Psychiatrie Wegbereiter des Holocaust
war. Dieser Vorstoß war nicht auf Deutschland begrenzt,
denn sogar in den USA forderte ein einflussreiches psychiatrisches
Fachblatt die Ermordung von fünfjährigen 'zurückgebliebenen'
Kindern. Der Verfasser von Hitlers ersten Sterilisationsgesetzen
war ein Psychiater, Ernst Rüdin; und in den USA gab es einen
in Deutschland ausgebildeten Psychiater namens Franz Kallmann,
nach dessen Meinung Rüdin nicht radikal genug war.
Alexander Mitscherlich als Vertreter der deutschen Ärztekammer,
Andrew Ivy von der US-amerikanischen Ärztekammer und Leo
Alexander von der US-amerikanischen Armee kamen in Nürnberg
zu dem Schluss, dass der Holocaust ohne die Psychiatrie vermutlich
nicht stattgefunden hätte.
Wir befinden uns heute in einer Phase des Wiederauflebens und
Wiedererstarkens der Psychiatrie; die Entwicklung ähnelt
der vor dem Zweiten Weltkrieg. Derzeit erlebt zum Beispiel der
Elektroschock weltweit eine Renaissance. Wir haben Medikamente
entwickelt, die weit giftiger sind als jene, die vor dem Krieg
eingesetzt wurden. Wir wissen heute, dass Neuroleptika bei bis
zu 50% der Langzeit-'Patienten' und -'Patientinnen' einen bleibenden
Hirnschaden verursachen. Diese Schädigung heißt tardive
Dyskinesie (oft bleibende veitstanzartige Muskelstörung);
wenn Neuroleptika über einen Zeitraum von sechs Monaten bis
zu zwei Jahren verabreicht wurden, stellt sie sich in bis zu 20%
aller Fälle ein. Bei anderen Betroffenen verursachen die
Psychopharmaka eine tardive Dystonie mit schmerzhaften Muskelkrämpfen
oder eine tardive Akathisie (u.U. bleibende innere Unruhe
in den Extremitäten, die zu Bewegungen drängt, aber
keine Erleichterung schafft) mit Angstgefühlen und starkem
Bewegungszwang. In meinem Buch über psychiatrische Psychopharmaka
habe ich außerdem zum ersten Mal den Begriff der tardiven
Demenz entwickelt. Diese bringt den Verlust aller geistiger Fähigkeiten
in verschiedenem Ausmaß mit sich. Schließlich können
Neuroleptika auch noch eine dauerhafte tardive Psychose verursachen.
Für all die genannten Schädigungen gibt es keine Heilungsmöglichkeit.
Doch damit nicht genug. Man diskutiert auch wieder solche genetischen
Theorien, die schon einmal zu Sterilisationsgesetzen geführt
haben. Und im Zusammenhang mit der Kostenfrage bei 'psychisch
kranken Chronikern' rückt der Gedanke an Euthanasie oder
Ermordung kranker Menschen mehr und mehr in den Vordergrund. Ich
habe gehört, dass in Deutschland vereinzelt über eine
erneute Einführung von Sterilisationsgesetzen nachgedacht
wird. Und in den Niederlanden versucht man, die Lobotomie wieder
zu etablieren. Die moderne Psychiatrie unterscheidet sich grundsätzlich
nicht von der Vorkriegspsychiatrie, die zum Holocaust führte.
Zum einen ist die Geisteshaltung dieselbe: Es gibt kein Mitgefühl
mit dem einzelnen Menschen, der der Behandlung ausgesetzt ist.
Zum anderen ist das theoretische Gebäude dasselbe, es basiert
auf einem biologisch-genetischen Ansatz. Sogar die Behandlungstechnik
ist dieselbe: Elektroschocks und giftige Präparate wie Neuroleptika,
Lithium und Antidepressiva.
Als ich zum ersten Mal die Zustände in Psychiatrischen Landesanstalten
sah, hielt ich sie für reformierbar. Aber heute ist mir klar,
dass die Psychiatrie als Ganzes eine umfassende Fehlentwicklung
darstellt. Zwei grundlegende Irrtümer sind das medizinische
Krankheitsmodell und die Zwangsbehandlung, aber hinter allem steckt
diese verfehlte geistige Haltung, die aus Menschen Objekte macht,
Gegenstände, Krankheiten. Jede psychiatrische Theorie ersetzt
Vorstellungen von der Persönlichkeit, der Seele, dem Geschöpf
durch Krankheitsbegriffe und Diagnosen und ermöglicht so
barbarische Behandlungsmethoden.
Aus dem Amerikanischen von Rainer Kolenda
Anmerkung der Herausgeber
(1) Dieser Text ist eine Überarbeitung der Rede, die Peter
Breggin am 26. September 1988 auf der (gemeinsam mit Peter Lehmann,
Jeffrey M. Masson, Erwin Pape und Tina Stöckle durchgeführten)
Veranstaltung »NS-Psychiatrie, Elektroschock, Psychopharmaka
und Psychoanalyse Lehren für die Zukunft« an
der Technischen Universität Berlin gehalten hat. 
Über den Autor
Dr.med., Psychiater mit Privatpraxis in Bethesda, Maryland (USA),
und Autor einer Reihe von Büchern und Artikeln zum Thema Psychiatrie.
Direktor des Center for the Study of Psychiatry (Zentrum zur
Erforschung der Psychiatrie), eines internationalen Netzwerks
von Personen, die sich mit der Reform der Psychiatrie beschäftigen.
Außerdem ist Peter Breggin Professor für Konfliktanalyse und -lösung
an der George-Mason-Universität in Fairfax, Virginia. Veröffentlichungen:
"Elektroschock ist keine Therapie", München/Wien/Baltimore: Urban
& Schwarzenberg 1980; "Psychiatric Drugs: Hazards to the Brain",
New York: Springer Publishing Co. 1984; "Toxic Psychiatry: Why
Therapy, Empathy, and Love Must Replace the Drugs, Electroshock,
and Biochemical Theories of the 'New Psychiatry'", New York: St
Martin's Press 1991; "Beyond Conflict: From Self-Help and Psychotherapy
to Peacemaking", New York: St Martin's Press 1992; u.v.m. (Stand:
1993)
© 1993 by Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag