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in: Kerstin Kempker & Peter Lehmann (Hg.): Statt Psychiatrie, Berlin: Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag 1993, S. 42-45

Thilo von Trotha

Was hilft mir, wenn ich verrückt werde?

Die Verrückung jener Gesetze, auf deren Dasein im Haupte jedes anderen man mit Zuversicht baut, als des einzigen, was er untrüglich mit uns gemein hat, trägt etwas so Grauenhaftes an sich, dass man sich nicht getraut, das fremdartige Uhrwerk zu berühren, dass es nicht noch grellere Töne von sich gebe und uns an dem eigenen irre mache. (Adalbert Stifter)

Vor über 100 Jahren formulierte der Dichter Adalbert Stifter eine Einstellung zum Verrückt-Sein, die ich auch heute noch für vorbildlich halte. Denn das ›Grauenhafte‹ des Wahnsinns besteht in aller Regel nicht aus dem Leid, das der für wahnsinnig Gehaltene in den Augen der anderen zu erleben scheint und auf das dann eine alarmierte Umgebung mit irgendeiner Art von Intervention ›zu dessen Bestem‹ reagiert. Nach meinen Erfahrungen ist es eher umgekehrt: Die tiefe Irritation, die das verrückte Verhalten bei Angehörigen, Freunden und Kollegen auslöst und die Stifter in so prägnanten und einfühlsamen Worten eingefangen hat, steht am Anfang einer Kette von Aktionen und Konflikten, an deren Ende die meist von niemandem beabsichtigte, mehr oder weniger verdeckte Gewalt einer psychiatrischen ›Lösung‹ steht. Die ›Töne‹, die anschließend aus dem irrenärztlichen Zwangsapparat dringen, sind tatsächlich zu ›grell‹, um die anderen noch erreichen zu können, ohne diese selber ›irre‹ zu machen – bevor sie meist für längere Zeit ganz und gar verstummen... Deshalb entscheidet die Kommunikation mit dem für verrückt Gehaltenen, die vor dem ersten Kontakt mit der Psychiatrie stattfindet, darüber, ob der Versuch gelingt, den Freund, die Mutter, den Onkel, die Arbeitskollegin, den Nachbarn, die Tochter oder den Unbekannten auf der Straße in verrückten Phasen zu begleiten oder nicht.

Aus diesen Gründen meine ersten beiden Bitten an alle, die in meiner Nähe sind, sollte ich noch einmal in meinem Leben für verrückt gehalten werden:

  1. Getraut Euch nicht, in das ›fremdartige Uhrwerk‹ einzugreifen, auch wenn es ›nicht richtig tickt‹! Nehmt Abstand von den spontanen Impulsen, die es Euch ratsam erscheinen lassen, schnell, ›effektiv‹ und drastisch einzuschreiten!

  2. Vermeidet unter allen Umständen auch nur den geringfügigsten Kontakt mit der Psychiatrie, und zwar in allen ihren stationären, ambulanten, beratenden, pharmazeutischen, psychologischen und ›therapeutischen‹ Varianten! Dennoch wünsche ich mir natürlich sehr, nicht allein gelassen, nicht ignoriert und nicht isoliert zu werden, sondern dass die Leute, an die ich mich wende, versuchen, den Mut und die Geduld aufzubringen, auch dann zu mir zu stehen, wenn ich ihnen als ein anderer, als ein Ver-rückter, gegenübertreten sollte. Ich weiß, dass ich mich in solchen Momenten befremdlich äußern und ungewöhnlich handeln kann, was einen solchen Wunsch zu einer unzumutbaren Belastung für andere werden lässt. Aber auch in Extremsituationen ist es mir allemal lieber, im Stich gelassen als der in jedem denkbaren Fall für mich vernichtenden psychiatrischen Aggression überantwortet zu werden. Deshalb:

  3. Bleibt so viel wie irgend möglich bei mir, physisch anwesend und persönlich erreichbar!

  4. Überschreitet dabei aber niemals die Grenzen Eurer eigenen Belastbarkeit! Solltet Ihr an diese Grenzen stoßen, zieht Euch zurück! Informiert andere Vertraute von diesem Rückzug, niemals aber Fremde oder gar Psychiater!

  5. Wenn die Zwangseinweisung trotz Eurer Zurückhaltung nicht vermieden werden konnte, achtet darauf, dass die Verfügungen für diesen Fall, die ich in meinem Psychiatrischen Testament niedergelegt habe, auch gegen alle Regeln und Gewohnheiten der psychiatrischen ›Kunst‹ eingehalten werden. Ich bitte Euch darum zu respektieren, dass ich ohne Ausnahme lieber physischem Zwang (Einsperrung, Fixierung, selbst Schlägen und anderen Formen körperlicher Disziplinierung) ausgesetzt sein will, als auch nur ein Milligramm irgendeines Neuroleptikums zu schlucken, selbst wenn Ihr diese Haltung nicht teilt und vielleicht sogar darunter (mit-)leidet.

  6. Wenn Ihr könnt, versucht mich rauszuholen und bedenkt dabei, dass jeder Ort (selbst der Knast, ein finsteres Versteck oder ein ferner, unbekannter Ort) mir bessere Überlebenschancen und größere Aussichten bietet, mein außerordentliches Gebaren wieder nachvollziehbaren Regeln anzugleichen, als eine Irrenanstalt, und sei sie noch so ›fortschrittlich‹, ›human‹ oder ›offen‹.

  7. Auch wenn ich fremd oder verwirrt auf Euch wirken sollte, versucht nicht, Euch zu verstellen, auch nicht in bester Absicht, sondern reagiert, wie ich es von Euch gewohnt bin! Nichts wirkt schlimmer, nichts mündet unmittelbarer in einen (in so einem Fall ja auch nicht mehr ganz unbegründeten) ›Verfolgungswahn‹ als eine Umgebung, die sich beim kleinsten Anzeichen für ein verrücktes Benehmen in eine Horde selbsternannter Therapeuten und Einfühlungsartisten verwandelt. Ihr werdet mich in einem solchen Moment nicht begreifen. Lasst Euch davon nicht allzusehr irritieren! Denn ich selbst werde wahrscheinlich Jahre brauchen, um mir über die euphorischen und die verzweifelten Augenblicke, aus denen ein Wahnerlebnis besteht, wenigstens in groben Umrissen bewusst zu werden. Jedes ehrliche Eingeständnis der eigenen Hilflosigkeit wiegt alle Versuche, psychologisch ›angemessen‹ oder therapeutisch ›professionell‹ zu agieren, hundertfach auf. In meinen Augen unübertroffen, hat ein junger Mann namens Birger Sellin, den seine Umwelt als ›Autisten‹ bezeichnete, diese so verhängnisvolle wie gut gemeinte Haltung in seiner Beschreibung der Bemühungen einer Psychologin charakterisiert:

    »... ursprünglich siebte sie sozusagen mein denken wie ein verunreinigtes auszusiebendes auszugsmehl wie eine irrtumsbehaftete ideensammlung mit exotischem charakter und jetzt sucht sie wie angst in appetitlicher weise totgemeistert wird.« (zitiert nach Klonovsky, 1992, S. 35)

    Versagt es Euch, meinen Wahnsinn (und Euer Erschrecken) in appetitlicher Weise totzumeistern!

  8. Dennoch bitte ich Euch, mir zu helfen, wenn Ihr bemerkt, dass ich in meinem Leben (in finanziellen Angelegenheiten, bei meiner Arbeit, in meinem Studium, gegenüber Fremden oder Institutionen) ein nur schwer wieder zu ordnendes Chaos anrichte. Versucht mich in einem solchen Fall (ohne Krankschreibung und ärztliches Attest!), von diesen Bereichen fernzuhalten und mich zu überreden, an einem ruhigen Ort den Lauf der Dinge erst einmal abzuwarten. Mir ist bewusst, dass dieser Wunsch in Widerspruch zu der zuvor geäußerten siebten Bitte geraten kann. Doch lässt sich nicht alles hypothetisch regeln, so dass ich keinen Weg sehe, dieses Dilemma prinzipiell zu vermeiden.

  9. Am Selbstmord möchte ich gehindert werden, notfalls auch mit Gewalt. Doch bildet diese Situation einer ›Selbstgefährdung‹ das klassische Alibi für alle psychiatrischen Zwangsmaßnahmen. Deshalb bitte ich Euch darum, auch dann niemals die Psychiatrie einzuschalten, wenn Ihr den Eindruck gewonnen habt, ich könnte meinem Leben ein Ende setzen – nicht zuletzt, weil die Angst, ein weiteres Mal in das Räderwerk der psychiatrischen Maschine zu geraten, solche Selbstmordneigungen bei mir mit Sicherheit drastisch verschärfen würde.

  10. Vertraut darauf, dass die verrückte Phase in meinem Leben – wahrscheinlich früher als Ihr denkt – abklingen wird! Lasst Euch dieses Vertrauen nicht durch noch so ›fachkundige‹ und ›kompetente‹ Agenten der psychiatrischen Propaganda nehmen, seien es nun raffinierte und beredte, von ihrer Sache überzeugte Psychiater, seien es andere Betroffene, Mitglieder meiner Familie oder Bekannte, die dem Mythos einer heilsamen Wirkung der von einer pseudomedizinischen ›Wissenschaft‹ inszenierten Rituale zur Austreibung des Irreseins aus scheinbar kranken Gehirnen immer noch verfallen sind.

  11. Es könnte sein, dass ich in einer Zeit, in der das, was ich sage und unternehme, ungewöhnlich, zusammenhanglos oder übertrieben wirkt, auf ebenso verrückte Weise produktiv bin. Ich wäre Euch dankbar, wenn Ihr die dabei entstehenden Zettel, Notizen, Zeichnungen, Kritzeleien, vielleicht sogar die Aussprüche, Geschichten und Ideen, nicht möglichst schnell vergesst und vernichtet, auch dann nicht, wenn sie verworren, kindisch, anstößig oder peinlich erscheinen. Bewahrt diese Zeugnisse für mich auf, da sie später zu Schlüsseln für die Rekonstruktion und Verarbeitung des wahnsinnigen Erlebens werden könnten!

  12. Seht in mir nicht einen Kranken, der einen Rückfall erleidet, sondern jemanden, der aus zwingenden, wenn auch nicht unbedingt offensichtlichen Gründen genötigt ist, seine Position zu den anderen und zu sich selbst in ein neues Verhältnis zu verrücken!

Quelle

Klonovsky, Michael: »ich ertrinke in einsamkeit«, in: Die Zeit, 47. Jg. (1992), Nr. 32, Magazin, S. 28-35

Über den Autor

Thilo von TrothaGeboren 1960, schreibt nach einem Studium der Philosophie und der Germanistik in Freiburg/Breisgau und Berlin zur Zeit an einer Arbeit über den Einfluss der Auseinandersetzung mit dem Wahnsinn im Werk des französischen Philosophen Michel Foucault. Nach Aufenthalten in unterschiedlichen Psychiatrischen Anstalten arbeitet er seit 1989 in antipsychiatrischen Projekten mit. Dabei engagiert er sich vor allem für die Errichtung des Berliner Weglaufhauses für Psychiatrie-Flüchtlinge. Veröffentlichung: "Die Kampfschrift und das Schreibspiel", in: Wolfgang Fehse / Klaus Wehmeier (Hg.), "Renntag im Irrgarten. Beiträge zur labyrinthischen Situation 3", Berlin: Labyrinth 1991 (Stand: 1993).

© 1993 by Thilo von Trotha