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des Antipsychiatrieverlags
In: Pro mente
sana aktuell (Zürich), 2005, Nr. 4, S. 30-31 /
PDF. Aktualisiert
am 23.8.2012
Peter
Lehmann
Betroffenenkontrollierte Fortbildung ein Schlüssel
zur wirksamen Reform?
Wie andere Verbände auch, nutzt der Berliner Verein
"Für alle Fälle" den Erfahrungsschatz Psychiatriebetroffener
für seine betroffenenkontrollierte Fortbildung und als Antidiskriminierungsmassnahme.
Ist solch ein Angebot auch für die Schweiz interessant?
Nutzerkontrollierte Fortbildung ist die derzeitige Antwort
auf einen multiplen Missstand im psychiatrischen System:
-
Eigenerfahrungen mit psychischen Krisensituationen
samt deren Verarbeitung gelten als Hinderungsgrund für
Beschäftigungsverhältnisse.
-
Bei der Vermittlung des medizinischen Krankheitsmodells
werden Menschen mit psychischen Problemen sozialer Natur
auf blosse Träger von Stoffwechselstörungen reduziert.
- In Forschungsvorhaben spielen Betroffene lediglich eine
Rolle als zu beforschende Objekte.
In
einer Studie für den Paritätischen Wohlfahrtsverband benannten
Mitglieder vom Berliner "Für alle Fälle e.V."
verschiedene Ursachen dieser Situation:
"Die psychosozialen Angebote basieren auf dem fachlichen
Wissen und Verständnis der Professionellen, die in den
Projekten und den entsprechenden Entscheidungsgremien
tätig sind. Professionelle beschreiben die Bedürfnisse
der KlientInnen, definieren die Zielgruppen, für die sie
sich zuständig fühlen, legen Qualitätsmerkmale und Standards
der Arbeit fest. In diese wichtigen Entscheidungsprozesse
werden bisher diejenigen, an die sich die Angebote richten,
kaum miteinbezogen. Neben allen historischen, ökonomischen
und sonstigen Gründen hat dies sicherlich auch mit der
in unserer Gesellschaft allgemein niedrigen Wertschätzung
von Erfahrungswissen zu tun. Akademischem Wissen wird
eine vergleichsweise erheblich grössere Bedeutung beigemessen.
Es kann jedoch Erfahrungswissen nicht ersetzen."
("Beteiligung von Betroffenen in der psychosozialen
Arbeit", Der Paritätische Wohlfahrtsverband Berlin
2005, S. 4)
Erfahrungsschatz oder Ausschuss?
Zur Überwindung der alltäglichen, oft unbemerkten Diskriminierung
wurde ein ganzes Massnahmenpaket erarbeitet, u.a. die Förderung
von Betroffenenbeteiligung auf allen Ebenen, die Publikmachung
von Musterprojekten sowie die Unterstützung der Organisierung
der Psychiatriebetroffenen. Gefördert werden sollen "(kostenfreie)
Angebote für Psychiatriebetroffene, um sie zu trainieren,
sich selber gegen Diskriminierung zu schützen, als Betroffene
in allen Bereichen angestellt zu werden und in Programmen
zur Bekämpfung von Diskriminierung und Schikane selber Trainer
oder Trainerin zu werden". Die Erfahrungen und Sichtweisen
von Psychiatriebetroffenen sollten von Anfang an in alle
Stufen der Ausbildung im Gesundheitsbereich einbezogen sein.
... Ein gutes Prinzip sei es, Psychiatriebetroffene an Einstellungsverfahren
zu beteiligen." Die kompletten Empfehlungen finden
sich im Internet unter www.peter-lehmann-publishing.com/articles/enusp/empfehlungen.pdf
Für alle Fälle
Als Musterprojekt wurde u.a. der Berliner Verein "Für
alle Fälle e.V." vorgestellt, der für nutzerkontrollierte
Forschung und Fortbildung steht. Wie ein ernstzunehmendes
Miteinander in Aus-, Fort- und Weiterbildung aussehen
könnte, wird am Beispiel der Fortbildungsangebote deutlich.
Ihre Besonderheit besteht darin, dass die FortbildnerInnen
(Betroffene und sogenannte ExpertInnen) seit teilweise
über 20 Jahren im Bereich der Selbsthilfe und des Aufbaus
von Alternativen zur Psychiatrie tätig sind.
Seit 2003 bieten die ReferentInnen Fortbildung in den eigenen
Räumlichkeiten in Berlin-Mitte oder je nach Wunsch auch
gerne vor Ort bei den Einladenden an. Die Fortbildung umfasst
die Themenkomplexe, die in der traditionellen Fortbildung
gemeinhin ausgeblendet sind: Alternativen zur Psychiatrie
/ Selbstbestimmter Umgang mit Psychopharmaka incl. Absetzmöglichkeiten
/ Antipsychiatrie und Betroffenenbewegung / Psychiatrisches
Testament und andere Vorausverfügungen / Selbsthilfe, Empowerment
und Projektaufbau. Auf der (im August 2012 abgeschalteten)
Website www.faelle.org
kann man sich informieren über Fortbildungsangebote, zum
Beispiel
-
"Stimmenhören", gerichtet an Betroffene,
die einen neuen Umgang mit den Stimmen und einen Weg
aus dem Kreis der Psychiatrisierung suchen, sowie
an ihre professionellen und nichtprofessionellen HelferInnen
und UnterstützerInnen.
-
"Absetzen von Psychopharmaka und was dann?",
gerichtet an alle im psychosozialen Bereich Tätige,
Psychiatriebetroffene und Angehörige, um Möglichkeiten
eines relativ gefahrlosen Absetzens auszuloten und
Fehler infolge Unbedachtheit und Uninformiertheit
beim Absetzen zu minimieren.
Ausblick
Die Bedeutung der Einbeziehung von Psychiatriebetroffenen
wird von vielen nicht hoch genug angesiedelt. Dass eine
wirksame Beteiligung auch auf Widerstände stossen wird,
ist selbstverständlich, Beispiele sind die penetrante
Festschreibung der überkommenen Rollenteilung "Fachperson
versus Laie" oder "Kranker versus Gesunder".
Die Bereitschaft, betroffenenkontrollierte Fortbildungsangebote
anzunehmen, lässt sich als Prüfstein für die Offenheit
psychiatrisch Tätiger für den Erfahrungsschatz kompetenter
Psychiatriebetroffener betrachten. Es ist noch ein weiter
Weg, bis solche Fortbildungen systematisch von qualitätsbewussten
betroffenenkontrollierten Verbänden angeboten und zertifiziert
werden. Hierzu bedarf es zudem kompetenter Psychiatriebetroffener
unterschiedlichster Erfahrungen und Ausrichtungen. Eine
qualitative Veränderung des psychosozialen Systems erscheint
ohne betroffenenkontrollierte Fortbildung allerdings unmöglich.
Copyright by Peter Lehmann 2005