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des Antipsychiatrieverlags
In: Karin Roth (Hg.): "Antipsychiatrie. Sinnerzeugung durch Entfesselung
der Vielstimmigkeit", Dortmund: verlag modernes lernen 2001 (=
Zeitschrift für systemische Therapie, 19. Jg. [2001], Nr. 4),
S. 201-210
Thilo von Trotha
Unterwegs zu alten Fragen: Die Neue Antipsychiatrie
Zusammenfassung
Der Artikel versucht, einen gemeinsamen Standort der sozialen und
politischen Aktivitäten der unterschiedlichen Projekte und
Initiativen, die sich unter dem Begriff Neue Antipsychiatrie
zusammenfassen lassen, zu bestimmen. Dabei zielt er im Rahmen einer
summarisch skizzierten Auseinandersetzung mit den Positionen der
"klassischen" Antipsychiatrie der zweiten Hälfte
des 20. Jahrhunderts und den Strategien der Sozialpsychiatrie auf
die zunehmende Notwendigkeit für eine theoretische Reflexion
der aktuellen antipsychiatrischen Praxis und die psychiatriekritischen
Grundlagen für die noch weitgehend ausstehenden, öffentlichen
und fachlichen Diskussionen jenseits obsolet gewordener ideologischer
Fronten. Eine erneuerte Auseinandersetzung mit dem psychiatrischen
Grundwiderspruch, gleichzeitig Ordnungsmacht und Therapie zu sein,
könnte im Kontext einer Reflexion der ersten Praxiserfahrungen
der neuen Antipsychiatrie eine fruchtbare Basis für
weiterführende Überlegungen und Konzepte abgeben.
Antipsychiatrie ist seit mindestens 20 Jahren zumindest in einer
breiteren Öffentlichkeit kein Thema mehr. Die Parameter der
gesellschaftlichen und intellektuellen Auseinandersetzungen, die
in den Sechziger und Siebziger Jahren die verschiedenen Entwürfe
der Theoretiker der Antipsychiatrie [1] bestimmten, haben sich grundlegend
verändert. Fremd und sperrig ragen ihre neomarxistischen, existenzphilosophischen
und strukturalistischen Grundlagen in die aktuelle theorievergessene,
pragmatisch-postmoderne Beliebigkeit, naiv wirkt heute ihre sozialrevolutionäre
Emphase, anachronistisch ihre Hoffnung auf die emanzipatorischen
Potentiale der Ausgeschlossenen.
Doch ist das Wegbrechen des gesellschaftlichen Resonanzbodens nicht
der einzige Grund dafür, dass eine mit so großer Intensität
geführte Debatte nach und nach ausgetrocknet ist. Genauso entscheidend
war das zweifache Ergebnis, das die Konfrontation der antipsychiatrischen
Thesen mit der unübersichtlichen und widerborstigen psychiatrischen
Praxis hatte: Zum Teil zerschellten ihre mit weitgespannten Utopien
aufgeladenen Programme für einen Umbruch der gesamten sozialen
Verhältnisse, der in der Abschaffung der tradierten psychiatrischen
Strukturen prototypisch vorzubereiten sei, an der Trägheit
eines übermächtigen, mit dicken Pfründen ausgestatteten
Apparates und der uralten, unbesiegbaren Angst vor dem frei herumlaufenden,
gemeingefährlichen Irren. Zum anderen Teil adaptierte eine
unter massiven Reformdruck geratene Psychiatrie einzelne Fragmente
der antipsychiatrischen Forderungen verkürzt um ihre
politischen Dimensionen und abgeschnitten von ihren theoretischen
Begründungszusammenhängen.
Den deutlichsten praktischen Bezug hatte die antipsychiatrische
Kritik an der "totalen Institution", an den überdimensionierten,
unterversorgten Verwahranstalten am Rande der zivilisierten Welt
und an der Entrechtung ihrer Insassen. Diese Kritik fügte sich
nicht nur in die allgemeineren gesellschaftlichen Diskussionen um
autoritäre Strukturen, sondern korrespondierte auch mit einem
wachsenden Psychiatrie-internen Unbehagen an den bestehenden Verhältnissen
vor allem bei jungen Anstaltsärzten und -psychologen. Doch
hätten diese beiden Faktoren allein sicher nicht dafür
ausgereicht, dass sich nach und nach, beginnend in England und Italien,
die großen Anstalten öffneten und die im wesentlichen
noch heute gültigen Bausteine einer gemeindenahen, flexiblen
und kleinteiligen Sozialpsychiatrie herausbildeten.
Sozialpsychiatrie und Neuroleptika
Diese Reformen konnten nur vollzogen werden, weil sich der Psychiatrie
seit den Sechziger Jahren durch die flächendeckende Anwendung
von Neuroleptika ganz neue Spielräume eröffneten, die
eine Abkehr vom Konzept der Verwahrung und Ausschließung der
Geisteskranken ermöglichten, ohne dadurch die grundsätzlichen
Positionen des psychiatrischen Diskurses in Frage stellen zu müssen.
Denn unter Neuroleptika-Einfluss konnten die Verrückten in
offene, betreute Wohneinheiten oder unter ambulanter psychiatrischer
Behandlung ganz nach Hause entlassen werden. So hatten ähnlich
wie die "sexuelle Revolution" die Psychiatriereformen
der Sechziger und Siebziger Jahre eine von den großen ideologischen
Debatten verdeckte pharmakologische Basis.
Die Psychiatrie musste sicherstellen, dass die Einnahme der Psychopharmaka
auch außerhalb der Anstaltsmauern zuverlässig gewährleistet
war. Die Präsenz einer großen Zahl neuroleptisch behandelter
und auf diese Weise neurologisch zwangserkrankter Ex-Irrer mitten
in den Städten und Dörfern erforderte eine umfassende
Psychiatrisierung der Gesellschaft, die systematisch über die
Existenz und die weite Verbreitung medizinisch behandelbarer Krankheiten
der Psyche aufgeklärt werden musste. Die Einrichtung von psychiatrischen
Diensten, sozialpsychiatrischen Wohnformen und Gemeindezentren,
die Vervielfachung der Zahl der niedergelassenen Psychiater und
die immer stärkere Ausdifferenzierung des diagnostischen und
therapeutischen Angebots leitete einen bis heute anhaltenden Prozess
ein, der das öffentliche Bild der Psychiatrie von einem finsteren,
exterritorialen Ort des Schreckens zu einer kompetenten medizinischen
Dienstleistung verwandeln sollte.
Die Entwicklung vom physischen Ausschluss der Irren zur chemischen
Ruhigstellung der Geisteskranken war von den primär sozialwissenschaftlich
orientierten Ansätzen der Antipsychiatrie noch gar nicht begriffen
worden, als die Psychiatrie eine der öffentlichkeitswirksamsten
antipsychiatrischen Forderungen von sich aus schrittweise zu erfüllen
und die Großanstalten zugunsten der entstehenden Sektorpsychiatrie
abzubauen begann. Der augenfälligste und für eine kritische
Öffentlichkeit am leichtesten erkennbare Missstand der Psychiatrie
konnte also bekämpft werden, ohne aus den grundlegenderen,
politischen und philosophischen Aspekten antipsychiatrischer Theoriebildung
Konsequenzen zu ziehen. Sie wurden nach und nach als ideologische
Irrwege praxisferner Intellektueller marginalisiert.
Die Entstehung einer Neuen Antipsychiatrie
Obwohl sie aus den reformpsychiatrischen Diskursen verschwanden,
wirkten einzelne Thesen jener antipsychiatrischen Theoretiker im
Schatten der öffentlichen Aufmerksamkeit und der akademischen
Diskussionsforen fort: In verschiedenen Ländern fanden sich
Psychiatrie-Betroffene im Kontext der vielfältigen neuen sozialen
Bewegungen in den Siebziger und Achtziger Jahren zu Selbsthilfegruppen
zusammen, um über den Austausch ihrer Erfahrungen von Ausgrenzung
und Entmündigung und die gemeinsame Formulierung ihrer Ansprüche
auf ein selbstbestimmtes Leben eine neue Qualität der Psychiatrie-Kritik
zu entwickeln. Die antipsychiatrischen Klassiker lieferten dabei
die theoretischen Argumente, mit denen Betroffene ihr Leiden am
Stigma psychiatrischer Diagnosen und an den körperlichen, psychischen
und intellektuellen Verstümmelungen durch Psychopharmaka auch
intellektuell und begrifflich vermitteln konnten. Die Ausblendung
sozialer und psychologischer Verwerfungen bei der Entstehung "psychischer
Krankheiten", die systematische Individualisierung gesellschaftlicher
Missstände wie Armut, Vereinsamung, Missbrauch oder familiäre
Gewalt durch die soziale Fiktion des "psychisch Kranken"
und die Verwandlung von psychosozialen Krisen in durch Psychopharmaka
künstlich hergestellte neurologische Erkrankungen [2] wurden
zu zentralen Kristallisationspunkten einer sich neu formierenden
antipsychiatrischen Bewegung.
Diese neue Antipsychiatrie unterscheidet sich von der alten gerade
auch durch die Weise, wie sie an deren Positionen anknüpft:
Die Anleihen bei den großen Intellektuellen der Antipsychiatrie
der Sechziger und Siebziger Jahre dienen nicht dazu, Grundsatzdiskussionen
für eine gesamtgesellschaftliche Neuorientierung zu führen,
sondern bilden als Bausteine einer undogmatischen theoretischen
Orientierung die flexibel eingesetzten Verbindungsstücke zwischen
einer Vielzahl lokal operierender Initiativen, die praktische Konsequenzen
aus der Kritik an der Psychiatrie zu ziehen versuchen. Den Kern
der neuen antipsychiatrischen Konstellation bildet ihre Ausrichtung
nicht nur an den Bedürfnissen und Wünschen, sondern vor
allem auch an den Aktivitäten und Selbsthilfepotentialen der
Betroffenen. Ihre Protagonisten sind nicht mehr Dissidenten aus
den Universitäten oder Psychiatrien, die ihren Expertenstatus
gegen ihre Kollegen in Anschlag bringen und stellvertretend die
Interessen der von ihnen Behandelten zu vertreten versuchen, sondern
die Psychiatrie-Betroffenen selbst, die auf gleicher Augenhöhe
mit Journalisten, Hausbesetzern, Professoren, Frauenrechtlerinnen,
Politikern, Umwelt- und Verbraucherschützern, Juristen, Ärzten,
Psychologen und anderen gesellschaftlichen Gruppen zweckgerichtet
und punktuell koalieren. Statt um die pauschale Abschaffung der
Psychiatrie geht es dieser heterogenen, lose vernetzten antipsychiatrischen
Szene seit ungefähr 15 Jahren um die Verwirklichung Betroffenen-kontrollierter
Alternativen [3] zu den stationären, pharmakologischen, juristischen,
diagnostischen, sozialhilferechtlichen und therapeutischen Ausprägungen
des psychiatrischen Diskurses [4]. Lokal organisiert, pragmatisch
ausgerichtet und an der Verwirklichung konkreter Projekte weit mehr
interessiert als an politischen und weltanschaulichen Grundsatzfragen,
versammelt diese als Neue Antipsychiatrie apostrophierte
Bewegung eine große Bandbreite inhaltlicher Positionen, die
von dem reformatorischen Wunsch nach Verbesserungen der bestehenden
(Sozial-) Psychiatrie bis zu der radikalen Forderung nach deren
Auflösung reichen.
Das Defizit an Reflexion
Je zahlreicher die konkreten Erfolge dieser Aktivitäten werden
und je mehr deren übergreifender Organisationsgrad zunimmt,
desto deutlicher zeichnet sich jedoch auch die Möglichkeit
ab, dass die spezifisch antipsychiatrischen Elemente der neuen Bewegung
im bunten Durcheinander der psychiatriekritischen und Betroffenen-orientierten
Initiativen untergehen und ihre Funktion als diskursives Fundament
einer gemeinsamen Grundhaltung verlieren. Denn gerade die wenn auch
zäh, so doch kontinuierlich zunehmenden praktischen Erfolge
der Neuen Antipsychiatrie offenbaren einen signifikanten
Mangel an einer übergreifenden Reflexion ihrer theoretischen
Ursprünge, ihres wissenschaftlichen Status und ihres intellektuellen
Anspruchs. Diese philosophische und politische Arbeit am Begriff
der Antipsychiatrie verharrt im Bann ihrer intellektuellen Vordenker
der Sechziger Jahre, ohne dass deren Theoreme den veränderten
gesellschaftlichen Bedingungen, einer grundlegend reformierten Psychiatrie
und den praktischen Erfahrungen aus der antipsychiatrischen Arbeit
noch gerecht werden.
Dieses Versäumnis scheint in einer theoriemüden Zeit
nicht besonders gravierend zu sein, zumal die Psychiatrie selbst
unbekümmert nach dem Prinzip von trial and error vor
sich hinwurstelt: Auch nach 200 Jahren fehlt ihr eine stringente
wissenschaftstheoretische Grundlegung. Statt dessen gruppiert sie
widersprüchliche Versatzstücke aus verschiedenen medizinisch-naturwissenschaftlichen
Disziplinen, den Sozialwissenschaften und der Psychologie lose um
die Postulate, dass es psychische Krankheit als Entität mit
kategorisierbaren Ursachen, Verläufen und Prognosen gibt und
dass deshalb ihre Symptome auch irgendwelche Ursachen haben müssen.
[5]
Allerdings ist die Psychiatrie eine gigantische, mit Milliarden
finanziell ausgestattete und fest etablierte soziale Maschinerie,
die sich nicht über ihre wissenschaftliche Grundlegung und
rationale Kohärenz legitimiert, sondern ausschließlich
über die Tatsache ihres möglichst unauffälligen Funktionierens:
Solange sie den modernen Gesellschaften ohne zu große Reibungsverluste
das alte soziale Problem des Wahnsinns und der Verrücktheit
vom Leib hält, solange ist das allgemeine Interesse an ihrem
Fortbestehen übermächtig. In solch einer komfortablen
Lage ist die Neue Antipsychiatrie nun keineswegs, da sie
nicht nur den Nachweis führen muss, effektive Alternativen
anbieten zu können, sondern darüber hinaus überhaupt
erst die gesellschaftliche Sensibilität für die Missstände
und Verwerfungen wecken muss, gegen die sie sich wendet. Daher ist
sie im Unterschied zur Psychiatrie auch auf
eine kritische und systematische Selbstreflexion im Rahmen offener
gesellschaftlicher, intellektueller und wissenschaftlicher Diskurse
angewiesen, wenn sie nicht in der schrumpfenden Nische "alternativer"
Milieus verkümmern soll.
Sozialpsychiatrische Umarmungsversuche
Es gibt noch einen zweiten Grund für derartige theoretische
Anstrengungen. Er ergibt sich aus den veränderten Strukturen,
mit denen sich die moderne Psychiatrie in den gesellschaftlichen
Raum geöffnet hat [6]. Vermeintlich unideologisch, praxisorientiert
und mit dem persönlichen Engagement einer neuen Psychiatergeneration
erkannten reformwillige Vertreter der Psychiatrie, dass eine breite
soziale Verankerung ihrer neuen integrativen Konzepte viel gründlicher
zu erreichen war, wenn Betroffene, ihre Angehörigen, die Presse
und die kommunale Politik so weit wie möglich einbezogen werden
konnten. Mit teilweise großem Erfolg griff diese neue Psychiatrie
mit menschlichem Antlitz Forderungen und Initiativen von kritischen
Betroffenen auf, ergänzte sie um ihre eigenen Anliegen und
sorgte dafür, dass sich die daraus entstehenden Diskussionen
und vorsichtigen institutionellen Veränderungen auf dem sicheren
Boden der psychiatrischer Grundprämissen vollzogen: Die Hypothese,
dass es so etwas wie psychische Krankheiten in einem medizinischen
Sinn gebe, und die daraus folgende Notwendigkeit, diese wie auch
immer biologisch-genetisch oder psychosozial bedingten individuellen
Störungen von ärztlichen Experten mit sogenannten Medikamenten
behandeln zu lassen, konnten auf diese Weise vollkommen unangetastet
bleiben.
Dabei wurden die antipsychiatrischen und psychiatriekritischen
Anliegen und Haltungen der Betroffenen einer subkutanen Umwertung
unterzogen, um mit der zwar geschmeidigeren, im Kern aber unveränderten
psychiatrischen Orthodoxie kompatibel zu werden. Um jedoch unterscheiden
zu können, wann es sich bei jenen sozialpsychiatrischen Umarmungsversuchen
um wirklich ergebnisoffene Gesprächsangebote mit realistischen
Aussichten auf konkrete Veränderungen handelt oder bloß
um eine verdeckte Instrumentalisierung der Betroffenen, fehlt es
der Neuen Antipsychiatrie an verlässlichen Kriterien
für einen gemeinsam reflektierten und theoretisch durchdachten
Grundkonsens. Diese Schwierigkeit lässt sich an drei zentralen
Elementen des Diskurses konkretisieren, mit dem die (Sozial-) Psychiatrie
in den vergangenen 15 Jahren versucht hat, Anliegen der Neuen
Antipsychiatrie zu integrieren, zu entschärfen oder umzudeuten:
Behandlungsvertrag, Psychoseseminar und Trialog.
Behandlungsvertrag
In einem Behandlungsvertrag halten Betroffene gemeinsam
mit ihrem Psychiater fest, ab welchem Zeitpunkt sie im akuten Krisenfall
welche Psychopharmaka einnehmen, an welchen therapeutischen Angeboten
sie teilnehmen und unter welchen Voraussetzungen sie fixiert werden,
Besuch und Ausgang erhalten oder über ihr Geld verfügen
können. Er tritt damit in direkte Konkurrenz zu Patientenverfügungen
wie dem Psychiatrischen Testament, mit dem Betroffene in
einer Phase nicht angezweifelter Geschäfts- und Einsichtsfähigkeit
juristisch verbindlich dokumentieren, welchen psychiatrischen Behandlungsmaßnahmen
sie im Falle einer zwangsweisen Unterbringung zustimmen und welchen
nicht. Beide Instrumente helfen Betroffenen, ihre Erfahrungen für
eventuelle zukünftige Krisen fruchtbar zu machen. Aber nur
wenn sie sich die Gegensätzlichkeit der beiden Konzepte in
all ihren Konsequenzen bewusst machen, können sie eine verantwortliche
Wahl treffen, die ihrer individuellen Lage und persönlichen
Überzeugung gerecht wird.
In den Psychiatrien wird über das Psychiatrische Testament
gar nicht, über den Behandlungsvertrag nicht angemessen
informiert. Denn schon das Etikett "Vertrag" oder "Vereinbarung"
für das von Psychiatern entwickelte Modell ist irreführend,
insofern die darin getroffenen Verabredungen keineswegs den Status
von vertraglichen Festlegungen haben, sondern nur von unverbindlichen
Absichtserklärungen, die jederzeit aufgrund aktueller "Komplikationen"
einseitig von der Psychiatrie ignoriert werden können: Im Zweifel
entscheidet der behandelnde Psychiater unabhängig vom Behandlungsvertrag
im Sinne des "nervenärztlichen Erkenntnisstandes".
Formal verschlechtert sich die Position des Betroffenen durch einen
solchen "Vertrag" sogar, weil die Betroffenen ihren Psychiatern
implizit die Zustimmung erteilen, in Konfliktsituationen nicht nur
gegen ihre jeweils aktuellen Wünsche, sondern auch gegen die
im Vorfeld getroffenen Vereinbarungen zu verstoßen. Dagegen
versucht das Psychiatrische Testaments das Grundrecht auf
körperliche Selbstbestimmung gerade für den Fall zu schützen,
in dem Betroffenen dieses Recht aufgrund fehlender "Krankheitseinsicht"
aberkannt und ihr "wohlverstandenes Eigeninteresse" gegen
ihren Willen durchgesetzt werden soll. Das Psychiatrische Testament
unterläuft auf diese Weise das ausschließlich in der
Psychiatrie praktizierte "Recht auf Zwangsbehandlung",
während der Behandlungsvertrag es letztlich zementiert.
Psychoseseminar und Psychoseerfahrung
Auf ganz ähnliche Weise verwischt eine diffuse Verwendung
des Begriffs Psychose Differenzen, deren Wahrnehmung eine selbstbestimmte
und kritische Haltung zu bestimmten psychiatrischen Diskursformen
überhaupt erst ermöglichen. In einem Psychoseseminar
diskutieren Psychoseerfahrene mit psychiatrischen Professionellen,
Angehörigen und anderen Interessierten über die Erlebnisse,
die aus unterschiedlichen Perspektiven im Umfeld einer verrückten
Krise gemacht wurden. Das Wort Psychose fungiert dabei als kleinster
gemeinsamer Nenner für die äußerst heterogene Erfahrungen,
die in einer solchen Runde aufeinander stoßen. Es scheint
sich besonders dafür zu eignen, weil es im Konzert der im allgemeinen
ohnehin schon recht interpretationsfähigen psychopathologischen
Termini der am wenigsten bestimmte, inhaltlich leerste ist. Doch
vollzieht seine als selbstverständlich vorausgesetzte Verwendung
indirekt eine folgenreiche Transformation, deren Mechanismen, Ziele
und Effekte offengelegt werden müssten, bevor der Anspruch
von Psychoseseminaren eingelöst und Erfahrungen gleichberechtigt
ausgetauscht werden könnten. Denn unreflektiert stellt er kaum
mehr dar als eine neue Sprachregelung, die in der Grauzone zwischen
aufgeschlossener Sozialpsychiatrie und kooperationsbereiter Betroffenenbewegung
für systematische Verwirrung sorgt.
"Psychose" ist ein fachsprachliches Kunstwort, mit dem
eine Fülle unterschiedlicher Erscheinungen auf eine ganz spezifische
Weise aufbereitet wird * eine Art psychopathologisches Skalpell,
mit dessen Hilfe aus einem schwer zu überblickenden Ausschnitt
sozialer und psychischer Wirklichkeit ein Sachverhalt zurechtgeschnitten
wird, der psychiatrischen Diskursen kompatibel ist. "Psychose"
ist also zunächst einmal etwas, das man sich als diskursiven
Verweis aneignen, richtig oder falsch verwenden, beschreiben, kritisieren,
analysieren * auf keinen Fall aber erfahren kann. Verrückte
erfahren keine "Psychosen", sondern Visionen, panische
Angst, Euphorie, Verfolgung, Verzweiflung oder andere emotional
hochintensive Zustände, deren unmittelbare Anlässe und
Auswirkungen für Andere nicht mehr einfühlbar sind. Es
gibt zwischen den Werten, die ein bestimmter Diskurs dem Element
"Psychose" zuschreibt und den Erfahrungen einer überwältigenden
subjektiven Evidenz, die im Kontext dieses Diskurses "psychotisch"
genannt werden, keinen inhaltlich bestimmbaren Berührungspunkt.
Denn das eine ist die objektivierende Außenbeschreibung eines
Phänomens, das gerade dadurch definiert ist, dass seine spezifischen
Qualitäten die Grenzen des intersubjektiv Vermittelbaren sprengen.
"Psychosen" erfahren also zunächst einmal nur psychiatrisch
Tätige, die sich innerhalb des Diskurses, dem dieser Fachbegriff
entstammt, bewegen, weil das ein wesentlicher Teil ihres Jobs ist.
Und "psychoseerfahren" sind Menschen, die Verrücktes
erlebt haben, nur in dem Maß, in dem sie sich diesen Diskurs
für die Beschreibung ihrer Erlebnisse vorgeben lassen oder
zu eigen machen.
Trialog
Das Kunstwort Trialog wurde erfunden, um z.B. auf Fachtagungen
praktizierte Formen des Dialogs zwischen psychiatrisch Tätigen,
Betroffenen und deren Angehörigen als neuartiges, reformorientiertes
Angebot im sozialpsychiatrischen Diskurs zu verankern [7]. Auf ähnliche
Weise wie bei den zuvor genannten Beispielen verbirgt sein Konzept
unter einer unverfänglichen Oberfläche eine voraussetzungsreiche
Transformation der Bedingungen, unter denen sich dieser Dialog entwickeln
soll. Zunächst suggeriert der Ausdruck Trialog einen
gleichberechtigten Austausch zwischen drei Gesprächspartnern
über ein gemeinsam festgelegtes Thema. Dabei werden jedoch
signifikante Asymmetrien einfach ausgeblendet, die die eigentliche
Komplexität des Gegenstandes überhaupt erst ausmachen:
der Umstand, dass es ohne aufwendige und potentiell kontroverse
Vorüberlegungen gar kein gemeinsames Thema für einen solchen
Dialog gibt [8], und die Tatsache, dass die psychiatrische Seite
über ein Vielfaches an Macht, Einfluss und materiellen Ressourcen
in all den institutionellen, wissenschaftlichen und gesellschaftlichen
Bereichen verfügt, die thematisch für jenen Trialog
relevant sind.
Während Betroffene im Rahmen des Trialogs über
sich und ihr persönliches Erleben reden, sprechen Psychiater
und Angehörige über andere und ihre jeweiligen Reaktionen
auf verrücktes Erleben und das davon ausgelöste Verhalten.
Während Betroffene und Angehörige auf ihre individuellen
und alltäglichen Deutungsmuster angewiesen sind, verfügen
Psychiater über einen komplex strukturierten Fachdiskurs, der
ihnen die Möglichkeit gibt, sich als Privatpersonen auszuklammern.
Damit läuft der Trialog Gefahr, das klassische psychiatrische
Muster einer Fallpräsentation bloß zu variieren: Der
eine hat was erlebt, und der andere weiß schon, was jener
"eigentlich" erlebt hat. Der eine berichtet von sich,
und der andere interpretiert diesen Bericht auf der Folie "wissenschaftlicher"
Erkenntnisse, seiner ärztlichen "Verantwortung" für
Kranke und seines Auftrags, die Gesellschaft vor ihnen zu schützen.
Auch wenn Betroffene sich ernster genommen fühlen als auf der
Station und Psychiater sich selbst für fortschrittlicher, offener,
verständnisvoller als konventionell vorgehende Kollegen halten,
bleiben diese Bemühungen subtil verschleierte Neuauflagen der
altbekannten psychiatrischen Objektivierung des verrückten
Gegenübers zum medizinischen Ding. [9]
Kooperation und Selbstbewusstsein
Behandlungsvertrag, Psychoseseminar und Trialog sind
Elemente einer sozialpsychiatrischen Kommunikationsoffensive, die
an sich gegenüber der klassischen psychiatrischen Reklamation
einer exklusiven Deutungshoheit einen Fortschritt darstellen. Lässt
sich die Neue Antipsychiatrie jedoch direkt auf die von Psychiatern
festgelegten Rahmenbedingungen dieser neuen Foren ein, riskiert
sie, indirekt und schleichend ihre auf den Erfahrungen der Betroffenen
basierende Authentizität und ihre psychiatriekritische Identität
preiszugeben. Ob sozialpsychiatrische Gesprächs- und Teilhabeangebote
an Betroffene etwas zu den dringend gebotenen Veränderungen
beitragen können oder nicht, lässt sich recht einfach
überprüfen, wenn die Betroffenen der Neuen Antipsychiatrie
folgende, aus den bisherigen Überlegungen resultierende Modifikationen
einfordern würden:
Bei allen Formen eines möglichen Austauschs gilt es die Ebenen
persönlich-subjektiven Erlebens und sachlich objektivierbaren
Expertentums strikt zu unterscheiden. Wenn Betroffene oder Angehörige
ihre private Geschichte und ihre oft in intime Bereiche reichenden
Erfahrungen darlegen sollen, dann müssen Psychiater das ebenfalls
tun und etwa erzählen, wie es ihnen persönlich auf der
Station ergeht, welche Konflikte sie mit ihren Chefärzten austragen,
wie die Institution ihre persönlichen Ambitionen und Hoffnungen
korrumpiert, wie es für sie ist, als Arzt gleichzeitig Ordnungshüter
und Gefängniswärter sein zu müssen, wie ihre Ehe
an den permanenten Überstunden und Nachtschichten zugrunde
geht oder wie sie sich erklären, dass Psychiater nach wie vor
den Berufsstand mit der höchsten Selbstmordrate bilden. Wie
die Betroffenen und die Angehörigen wären sie in einem
solchen Gespräch als Menschen mit ihren individuellen Leidenschaften,
Stärken und Fehlern gefordert, konkrete Ergebnisse wären
von solchen Gruppentreffen nicht zu erwarten, wohl aber ein wachsendes
gegenseitiges Verständnis als atmosphärisch-emotionale
Grundlage für eine gemeinsam zu formulierende Kritik an den
bestehenden institutionellen und diskursiven Bedingungen der Psychiatrie.
Es steht zu befürchten, dass fast alle Psychiater ein solches
Ansinnen empört als eine mit ihrer professionellen Distanz
unvereinbare Zumutung ablehnen würden. Es würde dann aber
überdeutlich, wie wenig selbstverständlich und letztlich
unfair die Praxis ist, dass Betroffene als Individuen über
sich Auskunft geben, während Psychiater als Vertreter eines
Berufsstandes diese "Daten" bewerten, klassifizieren und
als Quelle professioneller Weiterbildung nutzen.
Grundlegend anders wäre eine zweite Konstellation, bei der
Experten unterschiedlicher Herkunft und Ausbildung zusammenkommen,
um über die Psychiatrie, ihre Reform oder Auflösung, ihre
soziale Funktion und ihre medizinischen Voraussetzungen zu diskutieren,
um konkrete Veränderungen zu erarbeiten. Für alle Beteiligten
wären dabei Mindeststandards an fachlichen Kenntnissen verbindlich,
deren wissenschaftlicher und praxisbezogener Kanon zu gleichen Teilen
aus psychiatrischen wie nicht-psychiatrischen Quellen zusammengesetzt
sein müsste. Persönliche Erfahrungen hätten darin
genau den Wert, der ihnen in einem bestimmten Expertendiskurs als
nicht weiter reduzierbare subjektive Komponente eingeräumt
werden muss. Psychiatrie-Betroffenheit an sich wäre in einem
solchen Setting weder eine hinreichende, noch eine notwendige Bedingung
des alternativen Expertenstatus.
Schließlich muss nicht nur der qualitativ-interne, sondern
auch der äußerlich-materielle Rahmen für alle Beteiligten
derselbe sein. Psychiater nehmen in der Regel in ihrer hochbezahlten
Arbeitszeit an den trialogischen Veranstaltungen teil, etwa
bei Kongressen, oder beziehen angemessene Honorare und Spesen für
ihre Mitwirkung als Vortragende. Deshalb müssen alternative
Experten im Sinne der Neuen Antipsychiatrie finanziell in
gleicher Weise für ihre Teilnahme bezahlt werden [10].
Bei der reflexiven und begrifflichen Arbeit, die von der Neuen
Antipsychiatrie zu leisten wäre, scheint es sich mir nicht
bloß um eine verzichtbare intellektuelle Kür zu handeln,
sondern um eine notwendige Voraussetzung für die Weiterentwicklung
einer in sich schlüssigen, auf transparenten Grundlagen beruhenden
und gesellschaftlich wirkungsvollen Praxis. Schon aus einer groben
Skizze der theoretischen Implikationen jener drei schillernden Fachwörter,
die den sozialpsychiatrischen Diskurs um neue Techniken erweitern,
resultieren praktische Konsequenzen und konkrete Forderungen. Die
Auseinandersetzung mit komplexeren Fragen, die sich im Umfeld antipsychiatrischer
Praxis heute stellen, erfordert dagegen ein deutlich höheres
Maß an geistigem und materiellem Aufwand, an Koordination
zwischen den Protagonisten der Neuen Antipsychiatrie und
an Kooperation mit größeren Institutionen wie z.B. den
Universitäten. Solche Fragen, für die es heute nicht nur
keine überzeugenden Antworten, sondern nicht einmal nennenswerte
und koordinierte Lösungsbemühungen gibt, kreisen in unterschiedlichen
Facetten um ein Gravitationszentrum: die fortbestehende Janusköpfigkeit
der Psychiatrie und das darauf antwortende Ringen um ein antipsychiatrisch
fundiertes Gleichgewicht zwischen der Selbstverantwortung und der
Hilfsbedürftigkeit von Menschen in verrückten Krisen.
Die Spaltung eines Januskopfs
Um die verschiedenen Ansätze einer grundsätzlicheren
Kritik an der Psychiatrie und ihre theoretischen Quellen und intellektuelle
Wahlverwandtschaften wuchsen weiße Flächen, als die sozialkritischen
Ansätze der Sechziger und Siebziger Jahre an Überzeugungskraft
verloren. Deren philosophische und soziologische Begründungsfiguren
wurden sowohl aufgrund historischer und gesellschaftlicher Entwicklungen
als auch der empirischen Unüberprüfbarkeit ihrer Fundamentalkritik
immer fragwürdiger. Und die sperrigen, häufig tristen,
immer unberechenbaren Wirklichkeiten der Verrückten sprengten
die gedankenvollen, aber praxisfernen Synthesen aus Marxismus, Psychoanalyse,
strukturaler Linguistik, Ethnologie und Existentialismus, mit denen
die antipsychiatrischen Intellektuellen von Cooper und Laing bis
Basaglia und Guattari den Irren neue soziale Räume zu öffnen
versuchten. Weder als unverdaubare Splitter eines total gewordenen
"gesellschaftlichen Verblendungszusammenhangs" noch als
neues Subproletariat kapitalistischer Klassenstrukturen war das
spezifische Anderssein der Irren adäquat zu erfassen. Auch
die Versuche, eine mit psychoanalytischen Erkenntnissen verfeinerte
Kritik am Kapitalismus bis in die Verästelungen einer kritischen
Psychologie der Familie [11] voranzutreiben, oder die poststrukturalistische
Romantisierung des "Schizos", der die ödipalen Zwangsstrukturen
des Kapitalismus subversiv unterlaufe, verfehlten die beharrliche
Eigendynamik des verrückten, psychiatrisch überformten
Elends. Vor diesem Hintergrund verpuffte die große Verheißung,
den alten Skandal des Wahnsinns und seiner Repression mit den Mitteln
einer aufgeklärten Ideologiekritik zu bannen. Die persistierenden
Aporien der Verrücktheit und die hartnäckig überlebenden
Widersprüche im Umfeld von Psychiatrisierung und Therapie ließen
sich am Ende doch nicht bruchlos aus den sozialen, ökonomischen
und politischen Grundkonflikten der modernen Gesellschaften, ihren
Produktionsverhältnissen, ihren Kommunikationsstrukturen oder
ihren besonderen Weisen, Unbewusstes hervorzubringen, ableiten.
Nicht nur die übergreifenden gesellschaftskritischen Debatten,
sondern auch das wendigere Auftreten der Sozialpsychiatrie hatten
für einige Jahrzehnte einen alten Widerspruch, der die Psychiatrie
seit ihrer Entstehung vor zweihundert Jahren in ihrem innersten
Kern prägte, in den Hintergrund gedrängt: Einerseits erfüllt
sie mit der Wahrnehmung eines bestimmten Aspekts des staatlichen
Gewaltmonopols eine soziale Ordnungsfunktion, indem sie die Gemeinschaft
der Nicht-Verrückten vor den Provokationen der Verrückten
schützt. Andererseits nimmt sie als medizinische Disziplin
therapeutische Aufgaben wahr und hat den Anspruch, zu heilen und
individuelles Leiden zu lindern. Jede einzelne ihrer Interventionen
muss daher im selben Augenblick zwei sich widersprechenden Ansprüchen
genügen: Was hilft dem Verrückten am meisten? Was schadet
der Gemeinschaft der Nicht-Verrückten am wenigsten? Aber nicht
nur wenn sich diese beiden Grunddispositionen des psychiatrischen
Denkens und Handelns im direkten Konflikt widersprechen, sondern
auch im weniger dramatischen Alltag von der Anamnese über die
Diagnostik bis hin zum Behandlungsvertrag und zum Trialog
durchkreuzt die Pflicht, die eine Hälfte des psychiatrischen
Auftrags zu berücksichtigen, den Wunsch, der anderen zu genügen.
Die Psychiatrie bleibt auf diese Weise ein zur eigenständigen
Fachdisziplin aufgerüsteter Kompromiss zwischen zwei sich widersprechenden
gesellschaftlichen Anforderungen [12]. Und "faul" ist
er genau in dem Maß, in dem das Bewusstsein über die
Strukturen seines Zustandekommens verloren geht oder gezielt verschleiert
wird. [13] Das Verblassen der akademischen Konzepte der "alten"
Antipsychiatrie und die sich langsam durchsetzende Erkenntnis, dass
auch die Sozialpsychiatrie im Kern nichts anderes als Psychiatrie
ist, geben den Blick auf jenes altbekannte, nie gelöste Problem
wieder frei. Dabei steht nicht die ganz konkrete, von vielen täglich
bitter erlebte Relevanz jenes Widerspruchs zur Diskussion, sondern
der Mythos, dass er nur um den Preis der programmatischen Verschmelzung
seiner beiden Gesichter zum Januskopf, zu einem medizinischen Monstrum
also, zu lösen sei.
Die Neue Antipsychiatrie steckt mit anderen Vorzeichen
zwar, doch nicht weniger grundsätzlich in einer analogen
Zwickmühle, insofern sie in ihrer Praxis versucht, der alten,
genuin antipsychiatrischen Postulat nach der Abschaffung von Zwang
und Bevormundung im Umgang mit den Verrückten gerecht zu werden:
Einerseits folgt aus dem praktischen Bemühen, jene Forderung
zumindest bis an die Grenze realer physischer Verletzung umzusetzen,
in enger Wechselwirkung mit den Konsequenzen aus der Ablehnung des
psychiatrischen Krankheitsbegriffs, dass auch die Verrückten
in ihren Äußerungen und Handlungen ernst zu nehmen sind
und ihnen ihre Zurechnungsfähigkeit, die Verantwortung für
sich selbst und ihr Recht auf Selbstbestimmung nicht beschnitten
oder gar aberkannt werden dürfen. Andererseits werden für
Menschen in Phasen der Verrücktheit die ihnen selbst lange
Zeit vertrauten und mit anderen umstandslos teilbaren Muster des
Erlebens, Fühlens, Wahrnehmens und Agierens in prekärer,
manchmal bedrohlicher und beängstigender Weise fremd. Sie missverstehen
und werden missverstanden, ihre gewohnten psychischen Schutzschilder
und sozialen Rückkopplungssysteme versagen, ihr geistiger Horizont
weitet sich ins Unermessliche oder schnurrt auf einige wenige, sich
mit unwiderstehlicher Intensität aufdrängende Motive zusammen,
sie sehen, hören und fühlen, dass die Welt sich auf eine
bis dahin unbekannte, aber als keineswegs weniger evident und real
erlebte Weise auf sie bezieht. Zumindest ihre alltäglichen
Beziehungen zu der intersubjektiv geteilten Welt erfahren eine folgenreiche
und tiefgreifende Krise. Sie sind deshalb in solchen Zeiten auf
Verständnis, Sensibilität, Toleranz und Geduld, aber auch
auf Rat, Unterstützung und Schutz angewiesen, in einem Maß,
das die Möglichkeiten und Fähigkeiten der sie umgebenden
Menschen häufig übersteigt. Sie bedürfen aus diesem
Grund vorübergehend eigens dafür eingerichteter und spezifisch
qualifizierter Orte, deren interne Regeln einen größeren
Spielraum für ungewöhnliches, auch anstößiges
Verhalten und gleichzeitig ein dichtes Netz von psychischer, physischer,
sozialer Präsenz, eine ihren besonderen Bedürfnissen angepasste
Gewichtung von Nähe und Distanz, ein durch (eigene) Erfahrungen
geschultes Feld erhöhter Aufmerksamkeit bieten. An solchen
Orten konkretisiert sich Antipsychiatrie zum Anderen der Psychiatrie,
dessen Verwirklichung das stärkste Argument des psychiatrischen
Diskurses nach und nach entkräften könnte: seine faktisch
geltende und praktisch (fast) unbestrittene Alternativlosigkeit.
Die Praxis der Neuen Antipsychiatrie etwa im Bundesverband
Psychiatrie-Erfahrener oder im Berliner Weglaufhaus
entfaltet sich im Bewusstsein, dass auch sie weit davon entfernt
ist, eine prinzipielle und eindeutige Antwort auf jenen Widerspruch
gefunden zu haben. Die Anzahl ihrer pragmatischen Lösungsversuche
ist ziemlich exakt genau so groß, wie die Zahl der Menschen,
die von ihr unterstützt werden. Ihr theoretischer und konzeptioneller
Horizont bleibt notwendig offen. Denn die von ihrer Reflexion aufzuwerfenden
Fragen zielen weit über die Grenzen ihrer konkreten Handlungsmöglichkeiten
hinaus. Wenn heute das Echo der ideologischen Nachhutgefechte um
die antipsychiatrischen Dinosaurier des letzten Jahrhunderts langsam
von den weniger spektakulären und verstreuten Stimmen der Neuen
Antipsychiatrie übertönt wird, könnte auf der
Grundlage der ersten Betroffenen-kontrollierten Praxiserfahrungen
eine neue Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Verwerfungen
beginnen, die sich hinter immer neuen sozialen Mustern im Schatten
des Wahnsinns und seiner Ausschließung, der Verrücktheit
und ihrer Therapie, der Irren und ihrer Pathologisierung verbergen.
Fußnoten
-
Franco Basaglia, David Cooper, Ronald Laing, Michel Foucault,
Thomas Szasz, Gilles Deleuze, Félix Guattari, Erving Goffman
und andere
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Unverstellt konstatieren Dörner und Plog: "Wir verwandeln
den seelisch leidenden vorübergehend in einen hirnorganisch
kranken Menschen, bei der Elektro-Krampf-Therapie nur globaler,
dafür aber kürzer als bei der Pharmakotherapie"
(Dörner & Plog, 1980: 377).
-
So gilt z. B. für das Berliner Weglaufhaus, dass
mindestens die Hälfte der MitarbeiterInnen Psychiatrie-betroffen
sein müssen. Außerdem ist in der Satzung des Trägervereins
des Vereins zum Schutz vor psychiatrischer Gewalt
g.e.V. ein Vetorecht der Mehrheit der Psychiatrie-betroffenen
Vereinsmitglieder festgeschrieben.
-
Konkret: die Einrichtung von Weglaufhäusern, Krisenwohnungen,
Beratungsstellen und einer weltweit vernetzten politischen Interessenvertretung
von Psychiatrie-Betroffenen, das Absetzen von und der selbstbestimmte
Umgang mit Psychopharmaka, Patientenverfügungen wie das
Psychiatrische Testament, die Ersetzung der stigmatisierenden
und willkürlichen psychiatrischen Diagnostik durch alltagssprachliche,
inhaltlich orientierte Beschreibungen, die Nutzung sozialhilferechtlicher
Hilfen jenseits des sozialpsychiatrischen Netzes der "Wiedereingliederungshilfen
für seelisch Behinderte", die Wiederbelebung nicht-psychiatrischer
Soteria-Konzepte, die Auseinandersetzung mit den Inhalten
von verrückten Erfahrungen, die Einführung von Möglichkeiten
für intensive, individuell angepasste Formen der Krisenbegleitung
und, nicht zuletzt, die Dokumentation und Reflexion der Beteiligung
der Psychiatrie an den nationalsozialistischen Massenmorden.
-
Mehr steckt letztlich auch nicht hinter den euphemistischen
Konzepten einer "multifaktoriellen" Verursachung psychischer
Krankheit, die konzeptionelle Grundfragen der Psychopathologie
schlicht ausblenden.
-
Bei dem sozialpsychiatrischen Aufbruch vom äußersten
Rand der Zivilisation in die Mitte der Gemeinden entpuppte sich
das Versiegen der allgemeinen Diskussion prinzipieller Fragen
wie etwa der Plausibilität des psychiatrischen Krankheitsbegriffs
sogar als taktischer Vorteil.
- Auch wenn es sinnvoll sein kann, für neue Sachverhalte
eigene Fachwörter einzuführen, so beziehen auch sie
ihre Aussagekraft aus einem allgemeineren sprachlichen Kontext.
Der jedoch entlarvt den Neologismus Trialog als puren Nonsens:
Auch wenn drei, vier oder hundert miteinander reden, bleibt das
ein Dialog, dem altgriechischen Wort für Unterhaltung: "
dia? loyos,
??dia" als Präfix für "durch, mit",
und nicht "di" als Vorsilbe für "zwei,
doppelt" wie in "Di-chotomie" oder "Di-lemma".
Manchmal rächt sich die Sprache selbst für ihre Misshandlung,
denn korrekt übersetzt, bedeutet "Tri-a-log" so
etwas wie die drei, die nicht miteinander reden oder die
keine gemeinsame Sprache haben: "tri" für "drei"
wie in "Trinität", das Präfix "a",
das wie z.B. in "a-symmetrisch" eine Negation einleitet,
und "logos" für Sprache. Doch wird damit immerhin
ein anderer, durchaus relevanter Aspekt der Beziehung zwischen
den drei Parteien prägnant erfasst ... Folgt man jedoch der
Logik solcher Begriffsbildung, wäre als nächstes das
vielversprechende Modell einer "Triagnose" einzufordern
* im Sinne einer von Patient, Angehörigen und Arzt "trialektisch"
auszuhandelnden Diagnose.
-
Dazu gehört unter anderem die bereits erläuterte
Differenz zwischen "Psychose" und "Erfahrung".
-
Dazwischen bleibt den Angehörigen, die weder Psychiatrie
noch Verrücktheit am eigenen Leib erfahren haben, noch
den Fachdiskurs beherrschen, nur, sich zumindest in den kontroversen
Kernbereichen des Trialogs zwischen der einen, oder der
anderen Position zu entscheiden.
-
Steht dafür kein Budget zur Verfügung, sind die teilnehmenden
Psychiater dazu aufgefordert, den Anteil ihres Nettogehalts,
den sie im Zeitraum der jeweiligen Veranstaltung verdienen,
mit den Experten, die ihre Freizeit dazu nutzen müssen,
zu teilen.
-
So etwa die "schizophrenogene Mutter" oder die "double
bind"-Struktur
-
Psychoanalytisch erfüllt sie als "Kompromissbildung"
die Struktur eines neurotischen Symptoms.
-
Aus diesem Blickwinkel sind im Vergleich zur simplen Repressivität
der klassischen Psychiatrie die charakteristischen Veranstaltungen
der Sozialpsychiatrie "oberfaul".
Literatur
-
Castel, Robert (1980): Vom Widerspruch der Psychiatrie. In:
Basaglia, Franco & Basaglia-Ongaro, Franca. Befriedungsverbrechen
Über die Dienstbarkeit der Intellektuellen. Frankfurt/
Main: 81ff.
-
Deleuze, Gilles & Guattari, Félix (1977): Anti-Ödipus
Kapitalismus und Schizophrenie. Frankfurt/Main.
-
Dörner, Klaus & Plog, Ursula (1980): Irren ist menschlich
oder Lehrbuch der Psychiatrie/ Psychotherapie. Rehburg-Loccum.
-
Hölling, Iris (1997): Das Ziel: Vertrauen in die eigene
Realität. Ein Jahr Weglaufhaus in Berlin eine Erfahrungsbilanz.
In: Sozial Extra, Juli/August: 22f.
-
Kempker,
Kerstin (Hg.) (1998): Flucht in die Wirklichkeit Das
Berliner Weglaufhaus. Berlin.
-
Kempker,
Kerstin (1995): Vom Rechtsanspruch zum Bittebitte. Infoblatt
Psychiatrie, 22, April, Nürnberg: 4f.
-
Kempker,
Kerstin (1991): Teure Verständnislosigkeit Die Sprache
der Verrücktheit und die Entgegnung der Psychiatrie.
Berlin.
-
Lehmann,
Peter (1996): Schöne neue Psychiatrie, Band 1: Wie Chemie
und Strom auf Geist und Psyche wirken. Berlin (E-Book 2022).
-
Lehmann,
Peter (1996): Schöne neue Psychiatrie, Band 2: Wie Psychopharmaka
den Körper verändern. Berlin (E-Book 2022).
-
Trotha,
Thilo v. (1991): Die Kampfschrift und das Schreibspiel.
In: Fehse, Wolfgang & Wehmeier, Klaus (Hg.) Renntag im Irrgarten
Beiträge zur labyrinthischen Situation 3. Berlin:
139ff.
-
Wehde,
Uta (1991): Das Weglaufhaus Zufluchtsort für Psychiatrie-Betroffene.
Berlin.
Summary
The essay tries to locate a common position for all those social
and political projects and initiatives being summarized as New
Antipsychiatric Movement. Discussing the main features of the
"classical" antipsychiatric theories dominating in the
second half of the 20th century and analyzing the strategies of
social psychiatry, the author claims a growing necessity for a theoretical
reflection of the actual antipsychiatric praxis in order to initiate
new forms of public and expert discussions beyond the old ideological
front lines. The reflection of the central contradiction of psychiatry
to guarantee for social order and individual therapy at the same
time and an evaluation of the practical experiences made by new
antpsychiatric projects could provide for a fertile basis for further
considerations.
Kurzbiographie
Thilo von Trotha, Berlin
geb. 1960
Studium der Philosophie, Literaturwissenschaft, Linguistik und
Politologie in Freiburg und Berlin, 1993 Magister (Freie Universität
Berlin)
Mitgründer des Berliner
Weglaufhauses und seines Trägers, des Vereins
zum Schutz vor psychiatrischer Gewalt e.V.
Seit 1.1.1998 Mitarbeiter des Weglaufhauses
Angaben darüber, ob ich selbst Psychiatrie-betroffenen
bin oder nicht, würden der Intention meines Artikels zuwiderlaufen... (Stand: 2001)
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