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Kerstin Kempker

Teure Verständnislosigkeit – Die Sprache der Verrücktheit und die Entgegnung der Psychiatrie

Nachwort

Kerstin Kempker schreibt über Verrücktheit aus der Distanz der verständigen und Anteil nehmenden Beobachterin, die um die Zerbrechlichkeit und Rätselhaftigkeit der verrückten Phänomene weiß. Sachkundig ›entfremdet‹ sie die gewohnte Betrachtung dessen, was als verrückt erscheint, ›zur Kenntlichkeit‹. Fraglos und ganz von selbst teilen wir die ursprüngliche Form des Sprechens miteinander, doch nur solange, bis sich in ihrem scheinbar so vertrauten Gewand etwas zu Wort meldet, das über sie hinausreicht und hinter sie zurück will, als Sprache der Verrücktheit, die das bislang von allen geteilte und von ihr plötzlich zerteilte Sprechen zu einer Antwort herausfordert. Diese Antwort kann sehr unterschiedlich ausfallen: irritiert oder interessiert, erschrocken oder inspiriert, verbissen oder aufhorchend, voller Angst und Hass oder in einer Mischung aus Humor, Verwunderung und einfühlender Toleranz. Im Ordnung erzwingenden Blick der Psychiatrie ist das erst im Entstehen begriffene, wundersame Gewächs des verrückten Sprechens immer schon ein zu vertilgendes Unkraut. Neuroleptika sind das ›Agent Orange‹ im Dschungelkrieg der Supermacht ›Normalität‹ gegen die merkwürdigen und vaterlandslosen Partisanen, die in den Rissen des mühsam zementierten Fundaments einer bestehenden Ordnung die lästige Arbeit der Ver-rückung leisten. Der Unfug der ›Idioten‹, all jener ganz und gar Eigentümlichen, die in einem ›Idiom‹, einer Eigensprache, scheinbar nur sich selber etwas erzählen, erweist die vermeintlich so glatten Fugen, an denen sich das allen Gemeinsame zum Gesetz verfestigt, als brüchige und grob zugeschüttete Spalten und Verwerfungen. Das aber ist nicht nur für die Verrückten allein gefährlich, sondern auch für alle anderen. Und es bedarf der Mobilisierung einer ganzen als Wissenschaft getarnten Disziplin, einer medizinischen Armee, um dieser Gefahr zu trotzen. Eindringlich lässt Kerstin Kempker im ersten Teil ihres Buches meist die Psychiatrie selbst beschreiben, wie es an dieser Front zugeht, ein selbstentlarvender Lagebericht eines mit wissenschaftlichen Versatzstücken hochgerüsteten ›Grenzschutzes‹. Sprache erweist sich hier als eine Technik der Macht, die als Instrument der Unterdrückung eine Ordnung stabilisiert. Ihr antwortet allenfalls Schweigen.

Im zweiten Teil ihres Textes folgt die Autorin der Sprache ins ›Niemandsland‹, ein augenscheinlich paradoxes Unterfangen. Doch bereichert um die bittere Kenntnis der psychiatrischen Tilgungsstrategien, gibt das aus höchst verschiedenartigen Elementen gewobene Textgefüge der Versuchung nicht nach, einen eigenen Standort in der Welt zu inszenieren, in den Wissenschaften, in den Bibliotheken, im literarischen Getriebe, in der politischen Opposition oder gar in den ›authentischen‹ Sprachzeugnissen der Verrückten. Die Autorin zeigt, wie Sprache im Prozess des Schreibens vor dem Horizont der Verrücktheit über sich hinausweisen kann. Dabei wird das selbst wiederum literarische Mittel der Montage von sehr verschiedenartigen Zitaten aus wissenschaftlichen, philosophischen, lyrischen und epischen Texten zu einer Technik, die Ohnmacht der Sprache der Verrücktheit zu überlisten: Zwar spricht nicht die Verrücktheit selbst, doch spiegelt die facettenreiche Konstellation des fragmentarisch Zitierten die Struktur der gleichzeitigen Verdichtung und Entkopplung von gewohnten Sprachmustern, die beide auch der Sprache der Verrücktheit zugrunde liegen. Wer zitiert, gibt anderen das Wort. Wer, wie Kerstin Kempker, aus einer großen Anzahl verschiedenartiger Quellen so zitiert, dass die vielen Textabschnitte miteinander ins Gespräch geraten und sich zu einem atonalen Chor verbinden, nutzt die Kunst der Montage, um sonst nur getrennt wahrgenommene Diskurse aufeinander zu beziehen. Durch den auf diese Weise sichtbar gemachten Abstand zwischen den Büchern, Kapiteln, Zeilen, Wörtern und Buchstaben wird dem Raum gegeben, was in der ausdifferenzierten Dichte dessen, was ist, weil es akzeptiert ist, weder gesehen noch gehört werden kann. Die Qualität des Textes beruht nicht darin, Unbekanntes zu erforschen und exakter zu benennen, sondern umgekehrt darin, Bekanntes, in dessen Namen die allgemeingültige Auffassung von Wirklichkeit alles Andere denunziert, wieder in Richtung auf die Namenlosigkeit zu öffnen, aus der das scheinbar Objektive selbst einmal entstanden ist. Es geht nicht darum, Erkenntnis an die Stelle von Unkenntnis zu setzen, sondern darum, das ›Selbst-Verständliche‹ an die Fragen rückzukoppeln, denen es sein Dasein verdankt, es frag-würdig zu machen.

Berlin, im Dezember 1990
Thilo von Trotha

Pfeil Ungekürzter Text: Thilo von Trotha: Die Kampfschrift und das Schreibspiel

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