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Wehde: Das Weglaufhaus
Uta Wehde
Das Weglaufhaus Zufluchtsort für Psychiatrie-Betroffene
Rezensionen
Heiner Keupp, München
Radikale Parteilichkeit für Psychiatrie-Betroffene
a. Uta Wehde: Das Weglaufhaus Zufluchtsort für Psychiatrie-Betroffene
Verstummt sind sie noch nicht, die antipsychiatrischen Stimmen, aber
sie sind leiser geworden. Eine Stimme jedoch ist deutlich vernehmbar:
Der Verein zum Schutz vor psychiatrischer Gewalt e.V. und Peter Lehmann
(die beide aus der Irrenoffensive hervorgegangen sind). Und diese Stimme
hat sich nun auch einen bemerkenswerten Verlag
[
Richtigstellung] zugelegt, den Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag.
Das erste Buch »Der
chemische Knebel« von Peter Lehmann wurde gleich zu einem großen
Erfolg. Jetzt sind zwei weitere Bücher in seinem Verlag erschienen.
Die Antipsychiatrie wird mit ihnen vielstimmiger.
zu a) Uta Wehde hat mit ihrem Buch eine der frühen Forderungen
der Irrenoffensive aufgegriffen: Das »Weglaufhaus« als alternative
Institution für Psychiatrie-Betroffene, die sich dem Zugriff oder
der »fürsorglichen Belagerung« durch psychiatrische Institutionen
entziehen wollen. Die Autorin ist aktives Mitglied der Weglaufhaus-Projektgruppe,
die der »Verein zum Schutz vor psychiatrischer Gewalt« gebildet
hat, um selbst eine solche Alternative für Psychiatrie-Betroffene
in Berlin aufzubauen. Uta Wehde ist während ihres Psychologiestudiums
auf der Suche nach Alternativen zur Psychiatrie zu dieser Projektgruppe
gestoßen. Der Selbstmord ihres Bruders während psychiatrischer
Behandlung gab den Anstoß für diese Suche.
Das Buch von Uta Wehde verfolgt zwei Ziele: Zum einen wird die Notwendigkeit
von alternativen Institutionen für Psychiatrie-Betroffene und das
Konzept des Weglaufhauses dargestellt und begründet, zum anderen
werden Erfahrungen aus Holland kritisch evaluiert.
Uta Wehde geht von der Annahme aus, dass im psychosozialen System oder
psychiatrischen Netz die Bedürfnisse der Betroffenen keinen zentralen
Orientierungspunkt bilden. Die ExpertInnen verschiedener fachlicher Provenienz
formulierenden Bedarf an fachlicher Hilfe, die natürlich im »wohlverstandenen
Interesse« der Betroffenen sei und gerade deshalb auch gegen den
Willen der Betroffenen zur Anwendung kommen kann. Das am medizinischen
Modell orientierte Denken in der Psychiatrie wird dafür verantwortlich
gemacht, dass die Bedürfnisse der Betroffenen im Zweifelsfall übergangen
werden, weil sie ja als Ausdruck ihrer »Verrücktheit« interpretiert
werden können. Das theoretische und praktische Inventar des psychosozialen
Expertensystems wird jeweils mit exemplarischen Sichtweisen von Betroffenen
konfrontiert. Selbst wenn deren Stimmen nicht ohne weiteres als repräsentative
Äußerungen des durchschnittlichen Psychiatrie-Betroffenen gewertet
werden können, zeigen sie doch eindrucksvoll, dass die professionelle
Unterstellung, »zum Wohle« der Betroffenen zu handeln, ein höchst
fragwürdiges Konstrukt darstellt.
Als alternative Orientierung zu diesem expertInnendominierten Ansatz
schlägt Uta Wehde das Konzept der »NutzerInnenkontrolle«
vor:
»Eine radikale Orientierung an den Bedürfnissen der
Betroffenen bei einer qualitativen Umgestaltung des psychosozialen Systems
ist unabdingbar. Das Problem sozialer Kontrolle im Fürsorgebereich
und besonders im Bereich Psychiatrie kann nicht gelöst werden, wenn
nicht Möglichkeiten für eine Kontrolle durch die NutzerInnen
geschaffen werden... letztlich können nur die Betroffenen selbst,
als Nutzer, entscheiden, was sie von den Angeboten der Professionellen
halten und welche sie als hilfreich erleben« (S. 19).
Das Weglaufhaus war für die Irrenoffensive eine exemplarische Realisierung
dieser Forderung nach Betroffenenkontrolle. Der Verweis auf die Existenz
solcher alternativer Institutionen in Holland war die Antwort auf den
Vorwurf des Utopismus. Es ist eine wichtige Etappe in der Diskussion um
Weglaufhäuser, dass Uta Wehde sich die holländische Realität
selbst angeschaut hat und mit diesem Buch das Ergebnis ihrer kritischen
Evaluation vorlegt. Die kritische Realitätsprüfung hat keineswegs
die Forderung nach einem Weglaufhaus unterminiert, sondern sie differenziert
und zur Entwicklung von institutionellen Anforderungsprofilen geführt.
Die Grundpfeiler der Weglaufhäuser werden in der Trias »Existenzraum«,
»Freiraum« und »Unterstützung« benannt.
Für Uta Wehde zeigen die holländischen Beispiele, dass Weglaufhäuser
auf der Basis rein ehrenamtlicher Tätigkeit nicht funktionieren können
oder nur um den Preis, dass sich das Spektrum der Betroffenen, die unter
solchen Bedingungen den Weg zu einem selbständigen Leben gehen, sehr
einschränkt. Gerade für diejenigen, die sich mit massiven psychosozialen
Problemen auseinanderzusetzen haben, wird das zuverlässige Unterstützungspotential
zu gering:
»Da viele Betroffene, die ins Weglaufhaus kommen, nicht
nur ein Bedürfnis nach einem Zimmer und einer lebenspraktischen Hilfestellung
durch die MitarbeiterInnen haben, sondern auch ein Bedürfnis nach
emotionaler Zuwendung und nach Unterstützung bei emotionalen Problemen,
ist die Gruppe von Betroffenen sehr klein, für die das Weglaufhaus
... unter den derzeitigen Bedingungen den richtigen Ort darstellt«
(S. 128)
Die Folge dieser unzureichenden Ressourcen ist eine hohe Fluktuation
und die resignierte Rückkehr in psychiatrische Institutionen. Wenn
Uta Wehde dann auch noch betont, welch große Bedeutung das soziale
Netzwerk für eine positive Lebensperspektive der Betroffenen hat,
dann ist auf einmal gar nicht mehr so einsichtig, warum eine so klare
Grenzziehung zu sonstigen sozial-psychiatrischen Institutionen auf Reformniveau
vorgenommen wird.
Ein zentrales Unterscheidungskriterium ist die Stellung zu Psychopharmaka.
Für die Autorin ist die Arbeit in einer alternativen Institution
unvereinbar mit Psychopharmaka. Ein zweiter Differenzpunkt wird von der
Autorin als »kritisches Bewusstsein« bezeichnet ein nicht
gerade einfach zu konkretisierendes Kriterium. Zumindest meint es die
Erkenntnis, dass die Menschen, die vor den bestehenden psychiatrischen
Einrichtungen davonlaufen, dafür »gute Gründe« haben,
und dass sie am Aufbau und der Arbeit alternativer psychosozialer Institutionen
beteiligt sein müssen. Dass diese Forderungen politisch quer liegen,
zeigt der Anhang des Buches: Hier wird die Geschichte des Weglaufhausprojektes
in Berlin ausführlich dokumentiert. Es ist finanziell noch immer
nicht gesichert. Das Buch von Uta Wehde imponiert mir durch seine Klarheit
der Sprache und der Gedankenführung. Es liefert nützliche Informationen
über Idee und Wirklichkeit der Weglaufhäuser. Es ist pragmatisch
und radikal zugleich.
b. Kerstin Kempker:
Teure Verständnislosigkeit
in: Psychologische LiteraturUmschau Kritische Rezensionszeitschrift
für Psychologie, 2. Jg. (1992), Heft 1, S. 7-10 / PDF
Richtigstellung: Die Verlagsgründung entstand
nicht aus der genannten Betroffeneninitiative, sondern war ein individueller
Schritt in Richtung geistiger und ökonomischer Freiheit und Unabhängigkeit.
(P.L.) 
Benjamin Sage
Einfach abhauen
Dieses Buch bringt einen zum Nachdenken darüber, wie eine echte
Alternative zur Psychiatrie aussehen müsste. Denn die wenigen mutigen
Menschen, die es schaffen, sich aus dem immer feiner gesponnenen Netz
psychiatrischer Kontrolle zu befreien, haben oft keinen Ort, an dem sie
Schutz und Aufnahme finden. Uta Wehdes Plädoyer für einen psychopharmakafreien
und nutzerkontrollierten Hilfs- und Schutzraum ist wegweisend.
in: FAPI-Nachrichten, 19. März 2007
Sophie Blau
Weglaufen und ein alternatives Leben finden
"In der DDR kam der erste Hoffnungsschimmer der Freiheit, als ein paar
mutige Menschen tatsächlich wegliefen. Uta Wehde zeigt uns, dass
dies auch im Bereich der Psychiatrie möglich ist und dass die Mauern
dieser maroden Institution ebenfalls eingerissen werden können",
schreibt Jeffrey M. Masson der ehemalige Leiter des Sigmund Freud
Archivs in seinem Geleitwort zu dieser kritischen Recherche.
Obwohl die Reform der Anstaltspsychiatrie in Deutschland gern in Sonntagsreden
gelobt wird, fehlt es bis heute weitgehend an Institutionen, die eine
echte Alternative zur Psychiatrie und ihren Zwangsmethoden darstellen
könnten. Uta Wehde hat die bekannten Alternativen kritisch unter
die Lupe genommen und die Befunde für die Konzeption des Berliner
Weglaufhauses nutzbar gemacht. Das sind namentlich die kalifornische (!)
Soteria von Loren Mosher, das Diabasis-Projekt von John Perry und die
niederländischen Weglaufhäuser. Dabei stehen Letztere im Zentrum
ihrer Untersuchung. Die mit wissenschaftlicher Genauigkeit geführte
Analyse der Praxis in den Niederlanden fällt ziemlich bedenklich
aus. Der oft kritiklose Umgang mit Psychopharmaka hat Uta Wehde besonders
gestört. Ihre Vorort-Recherche in Holland zeigt, dass Psychopharmaka
die Lebensqualität der vormals psychiatrisierten Menschen oft entscheidend
vermindert. Sie sind nicht selten dafür verantwortlich, wenn die
Weggelaufenen nicht in ein Leben außerhalb sozialer Hilfssysteme
zurückfinden. Die liberale Institution wird so schnell zur Scheinalternative.
Im Berliner Weglaufhaus an dessen politischer Durchsetzung die
Autorin wesentlich beteiligt war herrscht in der Konsequenz eine
äußerst kritische Einstellung zu diesen Präparaten vor.
Am Schluss gibt Uta Wehde nicht nur eine Übersicht über die
Konzeption des Berliner Weglaufhauses, sondern dokumentiert auch die Geschichte
seiner politischen Durchsetzung. Dieses Buch ist sicherlich keine leichte
Gutenachtlektüre. Eine große Empfehlung jedoch für alle,
die sich ernsthaft Gedanken über Alternativen zu den Zwangsmechanismen
der herrschenden psychiatrischen Praxis machen wollen.
in: FAPI-Nachrichten, 23. November 2002
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