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des Antipsychiatrieverlags
Original in:
Co`med
Fachmagazin für Complementär-Medizin (BRD), 7. Jg. (2001),
Nr. 7, S. 98-101 (zuletzt überarbeitet am 28.12.2023)
Peter
Lehmann
Dem Tod entgegendämmern Psychopharmakavergabe
an alte Menschen
Die Verabreichung von psychiatrischen Psychopharmaka, oft verschrieben
aus Zeitnot und Unbeholfenheit gegenüber den Problemen des
Älterwerdens, kann jeden treffen und zerstört die Hoffnung
auf ein Älterwerden ohne Verlust von Lebensqualität.
Psychopharmaka aller Art, insbesondere Antidepressiva und Neuroleptika,
sind in der Arztpraxis und im Altersheim die häufigste Antwort
auf psychische Probleme. Folge ist oft die Einweisung in eine
Psychiatrische Anstalt. Ein Bett, ein Nachtschränkchen, ein
Handtuch, die Abhängigkeit vom Sozialamt und viele Pillen
ist alles, was einem so behandelten alten Menschen bis zum Tode
bleibt. Die unmittel- und mittelbaren Folgen tun ihr übriges
dazu, dass dieser Tod nicht allzu lange auf sich warten lässt,
und die Chance auf einen würdevollen Tod ist auch noch genommen.
Wenn alten Menschen zu reden gestattet wird
Dem Rundfunkjournalisten Bernd Kempker gelang es kürzlich
in einer Reportage des Deutschlandfunks, Pfleger, Ärzte und
betroffene alte Menschen zum lauten Nachdenken über die gesundheitsschädigenden
Praktiken zu bringen. In seiner Reportage zeichnete er ein beeindruckendes
Bild vom normalen Ablauf des Alltags in Altenheimen. Die dokumentierten
Originalaussagen von MitarbeiterInnen und psychopharmakagedämpften
alten Menschen regen an, sich kritische Gedanken über die
krankmachende chemische Ruhigstellung der Pflegebedürftigen
zu machen.
O-Ton, Heimleiter: »Ich finde es toll, dass Sie heute
hier sind, denn innerhalb unserer Gruppe wird was wachgerüttelt,
merken Sie das? Obwohl wir uns eigentlich relativ häufig
darüber unterhalten, auch in der Morgenrunde, wird mir
jetzt eigentlich bewusst, wie schlimm manche Bewohner mit ihren
Medikamenten dran sind.«
O-Ton, Pflegekraft: »Wir haben einen ganz witzigen Fall,
die hat ne Psychose, Frau Otto, ne Psychose, ganz hoch eingestellt,
also mit Stimmen hören und allem drum und dran, und die
hat die Nebenwirkungen dieser Medikamente immer deutlich gespürt
und darunter gelitten. Und dann hat sie eines Tages gesagt,
jetzt ist Schluss, jetzt nehm ich den Kram nicht mehr, also
erst hat sie gesagt, sie wird vergiftet und all solche Geschichten.
Aber sie hat sich strikt geweigert, das zu nehmen. Sie nimmt
es jetzt seit August letzten Jahres nicht mehr. Ja, und es geht.«
O-Ton, Heimleiterin: »Also inzwischen finde ich diese
Entscheidung goldrichtig. Aber das hat schon gedauert, bis wir
dann alle so weit waren, dass wir gesagt haben, gut, und wenn
sie diese schrecklichen Inhalte hat, aber sagt, sie kann damit
besser leben als mit diesen Nebenwirkungen, die sie so deutlich
spürt, dann ist es ja in Ordnung.«
Die genannte Hörkassette ist kein Hör-Spiel. Die geschilderte
Praxis in Altenheimen ist bittere Realität. Die MitarbeiterInnen
öffneten Akten, deren Inhalt sie vergessen oder durch häufigen
Personalwechsel nie zur Kenntnis genommen hatten.
Psychopharmakaverordnungen an alte Menschen
Ältere Frauen sind von psychiatrischen Verordnungen besonders
betroffen. Als Geschäftsführer der Arzneimittelkommission
der deutschen Ärzteschaft wies Karl Kimbel schon 1987 darauf
hin, dass 1985 auf 100 Frauen im Alter zwischen 71 und 80 Jahren
228 Verordnungen für Psychopharmaka kamen, bei den Über-80-Jährigen
sogar 282. Verordnet werden psychiatrische Psychopharmaka vornehmlich
von Allgemein- und praktischen Ärzten, von Psychiatern und
Internisten.
Wie es ihr erging, als sie ihrem Arzt ihr Leid über ihre
Herzprobleme klagte, schilderte 1994 die 71jährige Lore Häberle
aus dem Schwarzwald in dem Buch »Schöne neue Psychiatrie
Wie Chemie und Strom auf Geist und Psyche wirken«:
Im Herbst 1993 litt ich an Herzjagen und innerer Unruhe. Überhaupt
war mein Allgemeinzustand seit einer Krebsoperation vor zwölf
Jahren miserabel. Mein Zustand verschlechterte sich jetzt dermaßen,
dass ich mich immer mehr einkapselte und schließlich einen
praktischen Arzt aufsuchte. Dieser gab mir sofort eine Imap-Spritze.
Da ich am Abend sehr unruhig wurde und dieser Zustand über
Nacht anhielt, ging ich am nächsten Tag wieder zu diesem
Arzt, der mir eine weitere Spritze Imap gab. Mein Zustand verschlechterte
sich weiter, am dritten Tag erhielt ich die dritte Spritze Imap.
Ich lief in einer Art Trance umher, war völlig verzweifelt,
hatte bereits mit dem Leben abgeschlossen. Ich hielt die Angstzustände
nicht mehr aus. Zum Glück riet mir meine Freundin, der
ich mich in meiner Not anvertraute und die kritische Informationen
über Imap einholte, weitere Spritzen abzulehnen und die
vorgesehene Serie abzubrechen. Ich wechselte den Arzt und drängte
darauf, ins Krankenhaus eingewiesen zu werden. Meine Unnachgiebigkeit
war erfolgreich. Im Krankenhaus bestand ich auf einer gründlichen
Untersuchung, weigerte mich, dieses vorher zu verlassen. Man
stellte eine ernste akute Herzschädigung fest, so dass
ich in den ersten Tagen nicht mal zum Waschen aufstehen durfte.
Die stationäre Behandlung dauerte fünf Wochen. (zit.n.
Lehmann 1996, I, S. 90f.)
Neben der Geschlechtszugehörigkeit ist das zunehmende Alter
ein gewichtiger Risikofaktor für die Verordnung der riskantesten
Psychopharmakagruppe, der Neuroleptika. Besonders aus den USA
kommen immer wieder besorgniserregende Nachrichten. Während
dort der Bevölkerungsanteil der über 60 Jahre alten
Menschen 1985 bei 11% lag, betrug ihr Anteil an Neuroleptikaverschreibungen
über 33%. Können ältere Menschen nicht mehr weglaufen,
werden besonders häufig Neuroleptika verabreicht. Eine Untersuchung
von 1986, die sich 2000 chemischen Substanzen und Millionen von
Verschreibungen widmete, ergab, dass 60,5% der Verordnungen an
die über 65 Jahre alten AltenheimbewohnerInnen Neuroleptikaverschreibungen
waren. Laut einer 1989 publizierten Studie von Jerry Avorn und
Kollegen der Harvard Medical School in Boston, durchgeführt
in 55 Altenheimen in Massachusetts, erhielten 55% von 1201 Untersuchten
zumindest ein psychiatrisches Psychopharmakon. 39% bekamen Neuroleptika
verabreicht, die übrigen Antidepressiva, Lithium und Tranquilizer.
Bei der Neuroleptikagruppe war der Prozentsatz der Mehrfachverordnungen
mit Abstand am höchsten. Die Verschreibungen waren immer
wieder automatisch erneuert worden. Eine zweite Arbeit brachte
1989 ähnliche Ergebnisse:
In einer Folgestudie untersuchten wir 837 Bewohner in 44 Altenheimen
mit teilweise hohen Dosen antipsychotischer Medikamente. Bei
ungefähr der Hälfte von ihnen war im Untersuchungsjahr
offensichtlich kein Arzt an Entscheidungen über ihren psychischen
Zustand beteiligt. (...) Wir kommen zum Schluss, dass Psychopharmaka
in Altenheimen weit verbreitet sind, wobei die Mitarbeiter nur
ein geringes medizinisches Verständnis von den möglichen
Nebenwirkungen besitzen und der Gebrauch nur wenig medizinisch
überwacht wird. (zit.n. Lehmann 1996, II, S. 19)
Da Frauen sehr viel öfter mit der Diagnose »Depression«
versehen werden als Männer, ist es selbstverständlich,
dass ihnen häufiger Antidepressiva verordnet werden. Mit
zunehmendem Alter steigt bei Männern wie bei Frauen die Wahrscheinlichkeit,
Antidepressiva zu erhalten, und ab Beginn des Rentenalters bleibt
die Verordnungsrate auf konstant hohem Niveau.
Alte Menschen unter Tranquilizern
Dass man 1960 mit Chlordiazepoxid den ersten Tranquilizer zuerst
bei psychiatrisierten älteren Menschen ausprobierte, ist
sicher kein Zufall. Die bei der Verabreichung neben Sprachstörungen
und Koordinationsstörungen von Bewegungen auftretende
Ruhigstellung führte dazu, dass in der Folgezeit viele unzufriedene
BewohnerInnen von Alten- und Pflegeheimen, unbequeme und fordernde
Menschen, verstärkt in den 'Genuss' von Tranquilizern gekommen
sind. Hendrik U. Peters von der Universitätsklinik Mainz
und sein Kollege M. Seidel teilten 1970 in der 'Arzneimittel-Forschung'
ihre Freude angesichts der Arbeitserleichterung dank Benzodiazepinen
mit: »Es gelingt dem Arzt, mit Hilfe von Diazepam gerade
von den klagsamen Patienten einen gewissen Abstand zu gewinnen.«
(zit.n. ebd., S. 23)
Zunehmendes Alter und weibliches Geschlecht stehen mit dem steigenden
Einsatz von Tranquilizern in Wechselbeziehung. Ab dem 40. Lebensjahr,
wenn sich viele vermehrt über ein sinnentleertes Leben Gedanken
zu machen beginnen, gehen die Tranquilizerverordnungen sprunghaft
in die Höhe. Die Hälfte aller Verschreibungen betreffen
Personen zwischen 60 und 80 Jahren. Menschen im höheren Lebensalter
erhalten besonders häufig und dauerhaft Tranquilizer, meist
Benzodiazepine. Cornelia Krause-Girth von der Universitätsklinik
Frankfurt/Main kritisierte die Anwendung in Form von Großpackungen
und schrieb: »Die massenhafte Verordnung von Benzodiazepinen
an alte Menschen, bei denen sie gehäuft zu unerwünschten
oder paradoxen Wirkungen führen, ist besorgniserregend.«
Wie in Altenheimen Druck auf alte Menschen und auf kritische
BetreuerInnen ausgeübt wird, berichtete die Sozialarbeiterin
Gaby Sohl, nachdem sie Mitte der 90er Jahre resigniert ihr Engagement
für ein psychopharmakafreies Leben in betreuten Einrichtungen
in Rheinland-Pfalz eingestellt hatte. Erpressung, Drohungen, Verängstigung,
scheinheilige Erziehungstouren, Bagatellisierung von schädlichen
Auswirkungen und schlichte Lügen seien an der Tagesordnung,
um die alten Menschen gegen ihren erklärten oder natürlichen
Willen unter Psychopharmaka zu setzen. Selbst das heimliche Beimischen
von Neuroleptika in das Essen sei gang und gäbe und werde
von so mancher Betreuerin und Heimleiterin gerne befürwortet
(Sohl 1998).
Altersbedingtes Nachlassen der Abwehrkräfte
In allen Einrichtungen, in denen man bevorzugt Psychopharmaka
verabreicht, wie in den meisten Altenheimen, leben die BewohnerInnen
gefährlich. Da sie infolge des Altersprozesses von erheblichen
körperlichen Veränderungen betroffen sind, nimmt ihr
Körper pharmakologische Substanzen anders auf und verarbeitet
sie schlechter: Magen-Darm-Beweglichkeit, Blutfluss und Magensäureproduktion
sind herabgesetzt; Plasmaeiweiße sind vermindert, das Gesamtkörperwasser
hat relativ ab- und das Körperfett relativ zugenommen, wodurch
sich die Verteilungsvolumina verändern; Lebergröße
und -durchblutung sowie Enzymaktivitäten sind vermindert;
die Filtrationsrate der Nierengefäße ist gesunken;
die Rezeptorenempfindlichkeiten haben zugenommen. Diese Prozesse
haben zur Folge, dass Veränderungen der Plasmaspiegel auftreten,
fettlösliche Substanzen länger wirken, der Abbau der
Psychopharmaka im Organismus eingeschränkt und ihre Ausscheidung
verzögert ist. Rezeptordichte und Dopamingehalt im Gehirn
nehmen im Alter ab, deshalb sind ältere Menschen speziell
von neuroleptikabedingten Muskel- und Bewegungsstörungen
besonders stark betroffen.
Gefährliche Arzneimittelreaktionen kommen besonders häufig
in Langzeitpflegeeinrichtungen für alte Menschen vor. Dämmern
sie unter Psychopharmakawirkung dahin, dann trinken sie zu wenig
und sind dadurch einem erhöhten Risiko von Altersverwirrtheit
ausgesetzt, denn mangelnde Flüssigkeitszufuhr ist bis zu
50% für den Abbau der geistigen und körperlichen Fähigkeiten
verantwortlich.
Schädliche Wirkungen von Antidepressiva und Neuroleptika
Wie schädlich die normale psychopharmakologische Behandlung
ist, haben in den letzten Jahren einige Studien zutage gebracht.
So haben MedizinerInnen z.B. nachgewiesen, dass neuroleptikabehandelte
alte Menschen unter der psychopharmakologischen Wirkung überdurchschnittlich
oft
-
sich verbrühen
-
gegen Möbel prallen
-
umfallen
-
aus dem Bett fallen
-
beim Gang zur Toilette stürzen
-
sich Schürfwunden, Blutungen und Brüche zuziehen,
insbesondere Oberschenkelhalsbrüche.
Eine 1984 in 'Lancet' veröffentlichte Studie von Pamela
J. Stephen und J. Williamson vom City-Hospital in Edinburgh zeigt
das Ausmaß der Bedrohung:
Von 95 neuen Fällen mit einer Parkinson-Krankheit, die
man in eine Geriatrieabteilung überwies, hingen 48 (51%)
mit der Verschreibung von Medikamenten zusammen. Die klinischen
Merkmale der medikamentenbedingten und der idiopathischen Fälle
waren sehr ähnlich, einschließlich des Anteils von
typischem Tremor. 25% der Patienten mit medikamentenverursachtem
Parkinsonismus waren bei der Aufnahme nicht gehfähig, und
45% mussten stationär aufgenommen werden (für einen
durchschnittlichen Aufenthalt von 23 Tagen; Schwankungsbereich:
5 101 Tage). Die klinischen Merkmale des medikamentenverursachten
Parkinsonismus verschwanden auf Dauer bei zwei Drittel der Fälle
nach durchschnittlich sieben Wochen, jedoch mit einem Schwankungsbereich
von 1 36 Wochen. Fünf Fälle von medikamentenverursachtem
Parkinsonismus verschwanden anfänglich, allerdings entwickelte
sich nach einer Zwischenzeit von drei bis 18 Monaten ein idiopathischer
Parkinsonismus. (...) Das am häufigsten beschuldigte Medikament
war Chlorperazin (in den deutschsprachigen Ländern derzeit
nicht im Handel, P.L.) (21 Fälle). In keinem einzigen Fall
schien dieses Medikament indiziert. (zit.n. ebd., S. 183)
Die American Psychological Association legte 1989 eine eigene
Studie vor. Ihr Direktor Bryant Welch meinte, ältere Menschen
würden zu oft »sinnlos und unmenschlich allein gelassen
und psychologisch einem medikamentenbedingten Stupor ausgesetzt«;
Psychopharmaka würden missbräuchlich verschrieben, um
das Verhalten älterer Menschen zu kontrollieren.
Tödliche Gefahren
Studien in unterschiedlichen Ländern zeigten bei älteren
Menschen außerordentlich hohe Sterblichkeitsraten innerhalb
kurzer Zeit psychopharmakologischer Behandlung. Ein Bericht des
US-Department of Health and Human Services von 1989 führte
die Todesursache von US-AmerikanerInnen über 60 Jahre in
51% und die Hospitalisierungsgründe in 39% auf Arneimittelreaktionen
zurück.
Es gibt keinen Grund anzunehmen, in Deutschland oder in anderen
Ländern sei für die Sicherheit der alten Menschen gesorgt.
Henning Hülsmeier beschrieb in einer Untersuchung von 222
Zwangsuntergebrachten einer Psychiatrischen Anstalt in Rheinland-Pfalz
schon 1980 die lebensgefährlichen Folgen der oft formalgesetzlich
fragwürdigen vorläufigen psychiatrischen Unterbringung,
unter der alleinstehende, ältere Frauen aus sozial benachteiligten
Schichten besonders zu leiden haben. Der jeweilige Richter würde
zu einem »Erfüllungsgehilfen« der Betreiber der
Unterbringung (Familie, Gemeinde, Psychiater), statt deren Berechtigung
objektiv zu überprüfen: »... Er wird zu einer Art
Jasager, wenn ein Minimum an Begründungen formell und inhaltlich
zusammengekommen ist.« Einmal vorläufig in der Anstalt,
zögern Gerichte und Psychiater eine Anhörung, bei der
sich die Untergebrachten verteidigen könnten, oft über
mehrere Wochen hinaus. Dann sind letztere mit Psychopharmaka so
vollgepumpt und apathisch, dass sie sich nicht mehr wehren können,
oder es kommt überhaupt nicht mehr zum Gerichtstermin: »Der
Grund lag einmal im Tod des Untergebrachten. Die Häufung
der Todesfälle in den ersten zwei bis drei Wochen ist erschreckend:
40%. (...) 95,5% aller Todesfälle lagen bei Personen jenseits
des 50. Lebensjahres.« (zit.n. Unruh 1993, S. 73)
Von den 57 untersuchten über 62jährigen, die den Gerichtstermin
nicht mehr erlebten, waren 15 innerhalb von zwei Wochen tot, 19
innerhalb eines Monats und 28 innerhalb zweier Monate. Hülsmeier:
»... dass 60% dieser 57 Patienten in der Altersgruppe über
62 Jahre in den ersten Wochen nach der Entwurzelung sterben, ist
barbarisch. Selbst von den Patienten zwischen 52 und 61 Jahren
stirbt ja auch fast noch ein Viertel ziemlich kurz nach der Zwangsunterbringung.«
(zit.n. ebd., S. 74)
Dass sich Wesentliches geändert hat in den letzten Jahren,
ist nicht erkennbar. Auch in nichtpsychiatrischen Pflegeeinrichtungen,
die ärztlich 'betreut' werden oder in denen Pflegepersonal
Psychopharmaka verabreicht, wie z.B. in den meisten Altenheimen,
können sich die Betroffenen ihres Lebens nicht sicher sein.
Auf einem Rechtsmedizinerkongress wurde 1990 entsprechend gewarnt,
wie die 'Frankfurter Rundschau' am 13. September 1990 unter der
Überschrift »Welle von 'unnatürlichen Todesfällen'
in Altenheimen?« berichtet:
»Rechtsmediziner befürchten in der Bundesrepublik
eine starke Zunahme unnatürlicher Todesfälle bei alten
Menschen in Pflegeheimen und Krankenhäusern. Es gebe 'genügend
Anhaltspunkte, dass wir am Beginn einer solchen Entwicklung
stehen', erklärte der Rechtsmediziner an der Universität
des Saarlandes, Professor Hans-Joachim Wagner, am Mittwoch in
Köln zum Auftakt der 69. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft
für Rechtsmedizin. Zur Begründung seiner 'makabren
Prognose' führte Wagner an, dass aus Sicht der Rechtsmediziner
schon jetzt die Zahl der Todesfälle 'in besonderem Maße'
zugenommen hat, bei denen Patienten offenbar zu viel Psychopharmaka
oder Herzmittel verabreicht bekommen haben und vergiftet worden
seien. Bei den seltenen Ermittlungsverfahren in diesen Fällen
sei es für den Rechtsmediziner aber schwierig, sämtliche
Hintergründe des Todes zu erhellen. Es sei zu fragen, ob
die in Kliniken und Pflegeheimen in Wuppertal, Nürnberg
und Wien bekannt gewordenen Fälle von Morden an Patienten
nur 'die Spitze eines Eisberges' seien.«
Der US-amerikanische Sozialwissenschaftler Wolf Wolfensberger
von der Syracuse University, der 'große alte Mann des Kampfes
um die Rechte von Alten und Behinderten', sprach in seinem 1987
in den USA und 1991 in deutscher Übersetzung erschienenen
Buch »Der neue Genozid an den Benachteiligen, Alten und Behinderten«
die gefährlichen vegetativen Auswirkungen der psychiatrischen
Psychopharmaka an:
Vor allem bewusstseinsverändernde Medikamente in Institutionen
wie Pflegeheimen, Krankenhäusern und Gefängnissen
können auf verschiedenen Wegen das Leben gefährden
oder verkürzen: (a) Vitale Funktionen werden soweit geschwächt,
dass die Widerstandskraft gegen Infekte abnimmt. (b) Die Sinnesorgane
werden stumpf, so dass jemand Gefahrensignale wie Schmerz nicht
mehr wahrnehmen kann. (c) Das Bewusstsein ist vermindert, so
dass man nicht mehr imstande ist, den todbringenden Maßnahmen
des Personals entgegenzuwirken, nicht mal, mit anderen über
dies Unrecht zu reden. (d) Andere körperliche Funktionen
sind eingeschränkt. Der Tod tritt aber durch ganz andere,
sekundäre Ursachen ein, etwa über Flüssigkeitsretention,
über vermindertes Schwitzen (verursacht Hitzschlag) oder
über Einschränkung des Schluckens und Hustens, was
wiederum die offizielle Diagnose 'Tod durch Lungenentzündung'
erlaubt. (...) Man steht fassungslos davor, in welchem Ausmaß
alltäglich getötet werden kann, ohne dass jemand auch
nur auf die Idee kommt, dass dies Töten sei. (Wolfensberger
1991, S. 59/63)
Was tun?
Psychopharmaka, sind der leichteste Weg, Probleme zu verdrängen.
Ihre Wirkung ist durchschlagend und ohne jedes Erbarmen. Leider
werden sie von Angehörigen und Betroffenen meistenorts noch
immer bereitwillig akzeptiert. Engagiertes Pflegepersonal sowie
Angehörige könnten mit Kenntnissen von der Wirkungsweise
und den Risiken dieser Substanzen der unreflektierten Argumentation
von MedizinerInnen einen eigenen, an den Interessen der Pflegebedürftigen
orientierten Standpunkt entgegensetzen und verhindern, dass alte
Menschen ärztlichen Autoritäten alleine und wehrlos
entgegentreten müssen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang
die Kenntnis der Biographie des betroffenen Menschen, insbesondere
ob Einbrüche wie z.B: der Tod des Partners zu einer seelischen
Entgleisung führte. Eine fürsorgliche Trauerarbeit kann
den Missbrauch von Psychopharmaka und den dadurch entstehenden
Verlust der Lebensqualität verhindern.
Als hilfreich haben sich Vorausverfügungen erwiesen: Psychiatrische
Testamente, Betreuungsverfügungen, Betreuungsvollmachten
u.v.m. Eine Übersicht über die Vor- und Nachteile diverser
Verfügungen findet sich auf der Website des Antipsychiatrieverlags
unter www.antipsychiatrieverlag.de/info/voraus.htm.
Neben flankierenden sozialen und strukturellen Umgestaltungen
von Abläufen in Altenpflegeeinrichtungen, veränderten
Geriatrieausbildungsgängen usw. bieten naturheilkundliche
und andere potentiell weniger riskante Therapieformen Hilfen an,
die den gefährlichen, für viele BehandlerInnen bequemen
und für die Aktienmärkte nicht uninteressanten Gebrauch
synthetischer Psychopharmaka verringern könnten. Und natürlich
wollen nicht alle ÄrztInnen und Pflegekräfte alte Menschen
einzig mit Psychopharmaka ruhig stellen. Aufgrund der schlechten
Erfahrungen der letzten Jahre gilt es deshalb, sich eigene Informationen
zu holen, Pflegekräfte gezielt und evtl. unter Verweis auf
die kritisch-moderate Hörkassette von Bernd Kempker auf ihre
Haltung zum Psychopharmakaeinsatz anzusprechen und sich bewusst
nach verantwortungsvollen ÄrztInnen, HeilpraktikerInnen und
sonstigen Pflegekräften umzuschauen, die auch bei großer
Arbeitsbelastung nicht das Wohl derjenigen Personengruppe aus
den Augen verlieren, für deren Pflege sie bezahlt werden.
Möglicherweise warten Altenpflegekräfte auf Ihre Unterstützung.
Weiterführende Literatur
-
Kempker, Bernd (2000): »Dem eigenen Ableben emotionslos zusehen
Psychopharmaka in Altenheimen«, Hörkassette, Berlin: Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag
-
Lehmann, Peter (1996): »Schöne neue Psychiatrie«,
Band 1: »Wie
Chemie und Strom auf Geist und Psyche wirken«; Band
2: »Wie
»Psychopharmaka den Körper verändern«,
Berlin: Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag (E-Book Ausgaben 2022)
-
Shamoian, Charles A. (Hg.) (1992): »Psychopharmacological treatment
complications in the elderly« (Clinical Practice 23),
Washington: American Psychiatric Press
-
Sohl,
Gaby (1998): »Professionelle Logik, Psychopharmaka und das hoh(l)e
Lied der Sachzwänge«, in: Peter
Lehmann (Hg.): »Psychopharmaka absetzen. Erfolgreiches Absetzen
von Neuroleptika, Antidepressiva, Lithium, Carbamazepin und
Tranquilizern«, 1. Auflage, Berlin: Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag, S. 236-244
-
Unruh,
Trude (1993): »Alte gegen Psychiatrie: Vormund und Pillen oder eigener
Willen«, in: Kerstin Kempker & Peter Lehmann (Hg.): »Statt
Psychiatrie«, Berlin: Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag,
S. 68-77
-
Wolfensberger, Wolf (1991): »Der neue Genozid an den Benachteiligen,
Alten und Behinderten«, Gütersloh: Verlag Jakob van Hoddis
Copyright by Peter Lehmann 2001