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Online-Ressource vom 12. August 2024. Letzte Aktualisierung am 6. September 2025. Publiziert auch in: Biographisches Archiv der Psychiatrie – https://www.biapsy.de/ (in Vorbereitung)

Tina StöcklePeter Lehmann

Zum Gedenken an Tina Stöckle – Aktivistin der humanistischen Antipsychiatrie

Tina Stöckle (1948-1992) war eine humanistisch orientierte engagierte Psychiatriebetroffene.

Kindheit und Ausbildung

Tina (eigentlich: Martina) Stöckle kam am 12. September 1948 in Günzburg in Bayern zur Welt. Ihr Vater war Lehrer, ihre Mutter Hausfrau. Später wurden noch zwei jüngere Brüder geboren. Aufgewachsen in einem katholischen Dorf im schwäbischen Teil von Bayern, machte ihre rote Haarfarbe sie schon als Kind verdächtig – hatte doch die katholische Kirche Frauen mit roten Haaren früher gerne als ›Hexen‹ verbrennen lassen. Und noch nicht einmal zwei Jahrhunderte war es her, dass Kirchenleute die letzte ›Hexe‹ im nahegelegenen Kempten ermordeten.

Nach ihrem Abitur studierte Tina Stöckle Pädagogik und wurde Hauptschullehrerin. In einem Interview (Lehmann 1982) schilderte sie 1981, dass es ihr in einem kleinen Dorf im Spessart schwerfiel, der Rolle der netten jungen Lehrerin zu entsprechen. Ihr Versuch, mit Alkohol ihrer sie überfordernden Alltagssituation zu entkommen, schlug fehl und endete in einem Autounfall. Nach einem körperlichen Zusammenbruch landete sie wieder in ihrem Elternhaus.

Psychiatrisierung

Angesichts ihres Alkoholproblems riefen diese den Hausarzt, der wiederum eine Behandlung in der psychiatrischen Klinik Günzburg veranlasste. Dort ersetzten die Psychiater Alkohol durch Psychopharmaka, ansonsten geschah laut dem Interview mit Tina Stöckle nichts.

Als sie nach drei Monaten erwischt wurde, wie sie wieder Alkohol kaufte und konsumierte, wurde sie von der Polizei an Händen und Füßen gefesselt in die Psychiatrie zurückgebracht, dort fixiert und wie zuvor weiterbehandelt. Was sie in ihrem Leben eigentlich wolle, habe sie niemand gefragt, und irgendwelche positiven, ihr Selbstwertgefühl festigenden Rückmeldungen habe es auch nicht gegeben. Irgendwann, nach mehreren Psychiatrieaufenthalten, wurde sie in eine Entzugsklinik nahe der Grenze zu Tschechien verlegt, wo man mit Verhaltenstherapie versuchte, sie von ihrer Alkoholabhängigkeit zu befreien.

Nach der Entlassung aus der Entzugsklinik und vergeblichen Versuchen, in Selbsthilfegruppen wie den Anonymen Alkoholikern und Emotions Anonymous weiterzukommen, zog Tina Stöckle als ›trockene‹ Alkoholikerin nach Berlin. Sie wollte nicht mehr als Lehrerin arbeiten und ihre Schüler manipulieren und darauf zurichten, in der Gesellschaft bloß zu funktionieren. Sie wollte lernen, ihre Kräfte nicht mehr gegen sich selbst zu richten, sondern gegen die kaputtmachenden Verhältnisse. All diese Informationen stammen aus dem Interview von 1981.

Wissenschaftliches Engagement für die humanistische Antipsychiatrie

In Berlin begann Tina Stöckle an der Technischen Universität Berlin ein Studium der Diplompädagogik, Fachrichtung Sozialpädagogik, das sie 1982 erfolgreich abschloss. Nachdem sie im Herbst 1980 von der gerade gegründeten Selbsthilfegruppe Irren-Offensive hörte, schloss sie sich umgehend dieser Gruppe in der von ihr im Interview geäußerten Erwartung an, endlich Leute zu finden, die nicht nur Ähnliches erfahren hatten, sondern auch bereit waren, sich damit auseinanderzusetzen und offensiv aufzutreten.

Als sie ein Thema für ihre anstehende Diplomarbeit finden musste, wählte sie als Titel »Die Bedeutung der Selbsthilfegruppen im psychosozialen (psychiatrischen) Bereich, aufgezeigt am Beispiel der Irren-Offensive« (Stöckle 1982). Für ihre Arbeit interviewte sie zwölf Mitglieder der Irren-Offensive und fragte sie nach ihren Erfahrungen, Interessen, Bedürfnissen und Erwartungen. Für ein zusätzliches Interview ließ sie sich selbst befragen. In ihrer Verweigerung des üblichen Expertenmonologs und der Absage an die Männerdominanz und die akademische Arroganz wollte sie nicht über die Betroffenen schreiben, sondern diese selbst zu Wort kommen lassen, ohne hinterher ihre Aussagen zu interpretieren. Gemeindepsychiatrie, Sozialpsychiatrie, alternative Psychiatrie usw. waren für sie Schlagworte sich fortschrittlich dünkender Psychiater, die alles anstellen, nur eines nicht: die Betroffenen selbst fragen, was diese eigentlich wollen.

Ihre Diplomarbeit, die ein Jahr später leicht gekürzt unter dem Titel »Die Irren-Offensive. Erfahrungen einer Selbsthilfe-Organisation von Psychiatrieopfern« (Stöckle 1983a) im Extrabuch-Verlag erschien, ist ein Dokument einer betroffenenkontrollierten sozialwissenschaftlichen Forschungsstudie aus einer Zeit, als es den Begriff der ›betroffenenkontrollierten Forschung‹ noch gar nicht gab. Aus den Interviews und der Perspektive ihrer eigenen Betroffenheit entwickelte Tina Stöckle Kriterien einer Alternative zur Psychiatrie, die sich an den Interessen von nach Freiheit und Selbstständigkeit strebenden Betroffenen orientiert. Gemessen an den Interessen der Interviewten sei die Sozialpsychiatrie, die die Langzeitverabreichung von Psychopharmaka favorisiert und abweichendes Verhalten früh erfassen will, ein reines Befriedungsverbrechen, so Tina Stöckle. Ins Verhältnis gesetzt zu den in den Interviews formulierten Bedürfnissen, zeigte die (damalige) Praxis der Irren-Offensive in ihren Möglichkeiten und Grenzen, worauf es in einer autonomen Selbsthilfegruppe von Psychiatriebetroffenen ankomme: Zusammenschluss; Kampf gegen die Psychiatrie und für Menschenrechte; kollektive Auseinandersetzung mit den Lebensbedingungen; Selbstorganisation und Selbsthilfe; Befreiung vom psychiatrischen Einfluss; Suche nach dem Sinn des Wahnsinns; Autonomie und persönliche Entfaltung; kritische Auseinandersetzung mit ›Experten‹; Abbau der Machtverhältnisse innerhalb der Gruppe und Widerstand gegen Fremdkontrolle.

Praktisches Engagement für die humanistische Antipsychiatrie

1982 war Tina Stöckle Teil einer Reisegruppe, die zu einem Kongress über betroffenendefinierte alternative Psychiatrie in Amsterdam reiste, dort das in der Keizersgracht gelegene Weglaufhaus besuchte und nach der Rückkehr in Berlin ein eigenes Ver-rücktenhaus aufbauen wollte (Stöckle 1983b; Projekt Weglaufhaus 1987). Dies sollte selbstverwaltet sein, Wohnraum für Menschen bieten, die Tag und Nacht Zuwendung brauchen, als Anlauf-, Informations- und Kommunikationsstelle dienen und ein Café und einen Veranstaltungsort beherbergen – auch für Veranstaltungen gemeinsam mit anderen Gruppen Ausgegrenzter (Stöckle 1983c). Als notwendig betrachtete sie Geld und materielle Unterstützung durch Dritte, menschliche Wärme, Toleranz und Verständnis. Ähnlich wie in Loren Moshers Soteria-Projekt sah sie eher sogenannte Laien in der Lage, in einem Ver-rücktenhaus mitzuarbeiten. Auch an einer Zufluchtsstätte speziell für Frauen war sie interessiert (Die Irren-Offensive 1983a).

Tina Stöckle engagierte sich auch als Redaktionsmitglied der Irren-Offensive – Zeitschrift von Ver-rückten gegen Psychiatrie (Editorial 1981, 1983, 1987) und verfasste diverse Beiträge für die ersten drei Ausgaben dieser Zeitschrift (Stöckle 1981, 1983d; Hentschel et al. 1987). Gemeinsam mit anderen Mitgliedern der Irren-Offensive übersetzte sie die Artikel »Die Dame in der Schachtel« (Szasz 1983) und »Das Psychiatrische Testament – Ein neuer Gesetzesmechanismus, um Menschen vor ›Psychosen‹ und vor der Psychiatrie zu schützen« (Szasz 1987) aus dem US-Amerikanischen ins Deutsche. Der letztgenannte Artikel lieferte die inhaltliche Begründung für das 2009 in Deutschland in Kraft getretene Patientenverfügungsgesetz.

Ab 1983 leistete Tina Stöckle einen wesentlichen Anteil am Aufbau des mit Landesmitteln finanzierten Treffpunkts der Irren-Offensive, ab 1984 bekleidete sie eine Halbtagsstelle als Diplompädagogin und war neben Peter Lehmann, mit dem sie seinerzeit zusammenlebte, zuständig für die Organisation des Treffpunkts einschließlich seiner Finanzierung. 1989 war sie Gründungsmitglied des Vereins zum Schutz vor psychiatrischer Gewalt e.V., der 1996 – vier Jahre nach ihrem Tod – das Weglaufhaus eröffnete.

Tina Stöckle war zwar kein Mitglied bei der Alternativen Liste Berlin und den Grünen, versuchte jedoch, gemeinsam mit anderen psychiatriepolitisch engagierten Mitgliedern der Irren-Offensive diese beiden Parteien in der Weise zu beeinflussen, dass sie Maßnahmen gegen die Verletzung von Menschenrechten von Psychiatrisierten und Forderungen für Alternativen zur Psychiatrie in ihre Programme aufnehmen (Alternative Liste Berlin 1981; Die Irren-Offensive 1981; Opielka 1985; Irrenoffensive et al. 1986). Gleichzeit war sie äußerst misstrauisch gegenüber sozialpsychiatrischen Tendenzen der Verwässerung und Entschärfung psychiatriekritischen Gedankenguts (Die Irren-Offensive 1983b; Bruckmann et al. 1987; Stöckle & Lehmann 1987; Lehmann et al. 1988).

Verarbeitung der Erfahrungen im antipsychiatrischen Selbsthilfebereich

Nachdem die erste Auflage ihres 1983 erschienenen Buches vergriffen war, widerstand Tina Stöckle lange Zeit allen Verlockungen eines Nachdrucks. Sie befürchtete, dass ihr Buch in einigen Passagen zur undifferenzierten Verherrlichung von Verrücktheit beitragen könnte. Ihre mit der Zeit zunehmende Skepsis basierte auf ihren persönlichen Erfahrungen, die sie im Lauf der Jahre in der Irren-Offensive Berlin gemacht hatte: bei Aktionen, in der Beratung im Treffpunkt und in dessen Organisation.

Neben Ludger Bruckmann war sie das letzte verbliebene aktive Mitglied derjenigen Fraktion, die mit ihrer radikalen Einstellung den antipsychiatrischen Ruf der Irren-Offensive begründet hatte. Vor ihr hatten andere langjährig antipsychiatrisch Aktive nach und nach die Gruppe verlassen, nachdem sie der Erfahrung hatten Tribut zollen müssen, dass auch das Lager der Psychiatriebetroffenen nicht frei von Niedertracht, Mobbing, Macht- und Geldgier sowie Gewaltausübung ist. In dieser Situation – es war Anfang der 1990er-Jahre – entschloss sich Tina Stöckle zur Wiederveröffentlichung ihres Buches – als historisches Dokument. Die in der real-existierenden Irren-Offensive seit 1989 neu aufgekommenen Strukturen sollten die früheren Ideale nicht dem Vergessen preisgeben.

Villa Stöckle

Tina Stöckle starb am 8. April 1992, im Jahr der Kündigung ihres Arbeitsvertrags seitens des neuen Vorstands der Irren-Offensive e.V., an Nierenversagen. Sie wurde nur 43 Jahre alt.

Es dauerte noch acht Jahre, bis die erste Neuausgabe ihres Buches im Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag erscheinen sollte (Stöckle 2000), und weitere fünf Jahre, bis in der Folgeauflage das im Untertitel enthaltene Wort ›Psychiatrieopfer‹ durch ›Psychiatrieüberlebende‹ ersetzt wurde (Stöckle 2005). Mit dem geänderten Untertitel wollte sie darauf hinweisen, dass nach der Psychiatrisierung, so schrecklich diese auch sein mag, das Leben mit all seinen prinzipiell vorhandenen Möglichkeiten weitergeht. Zudem sah sie es als Problem an, sämtliche Verantwortung für den Verlauf der eigenen Lebensgeschichte Dritten zuzuweisen und das eigene Subjekt zum bloßen Objekt der äußeren Lebensumstände zu degradieren.

Jener Ausgabe fügte Peter Lehmann im Anhang ein Nachwort hinzu, in welchem er weitergab, was Tina Stöckle in ihren Notizen in ihrer Diplomarbeit vermerkt bzw. was sie ihm noch zu Lebzeiten mündlich mitgeteilt hatte. Die Frage, inwieweit sie heute noch die Zweiteilung der Menschheit in ›Zwanghaft-Normale‹ und ›Verrückte‹ in dieser Abstraktion vornehmen würde, lässt sich allerdings nicht beantworten. Die beiden Pole sah sie eher als Tendenzen und weniger als ausreichende Charakteristik des jeweils einzelnen Menschen an. Das entgrenzte ›Jenseits von Normalität und Verrücktheit‹ wollte sie nicht beschreiben (und damit wiederum fixieren), sondern leben (Lehmann 2025a). 2022 erschien Tina Stöckles Buch als E-Book, zuletzt in einer Neuausgabe 2025..

Tina Stöckle zu Ehren trägt das Weglaufhaus in Berlin seit seiner Eröffnung 1996 den Beinamen »Villa Stöckle« (Lehmann 2025b).

Literatur