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Online-Ressource vom 19. September 2010, zuletzt aktualisiert am 16. Juni 2024

Peter Lehmann

Über humanistische Antipsychiatrie

Humanistische Antipsychiatrie ist eine undogmatische und humanistische Philosophie und Bewegung. Das griechische »Anti« bedeutet mehr als ein simples »gegen« (wie zum Beispiel in »Antidepressiva« oder »Antipsychotika«). Es heißt auch »gegenüber« oder »alternativ«. Freundinnen und Freunde der Pharmaindustrie und der (von formeller und informeller Gewalt geprägten) Schulpsychiatrie stehen auch deshalb der modernen, nutzergetragenen und -definierten humanistischen Antipsychiatrie erbittert gegenüber.

Humanistische Antipsychiatrie ist von Widerspruchsgeist und der grundlegenden Erkenntnis erfüllt, dass

  1. die psychiatrische Diagnostik den Blick auf die wirklichen Probleme des einzelnen Menschen in der Gesellschaft verstellt,
  2. die Psychiatrie als medizinische (und naturwissenschaftliche) Disziplin dem Anspruch, psychische Probleme überwiegend sozialer Natur zu lösen, nicht gerecht werden kann und
  3. die psychiatrische Gewaltbereitschaft und -anwendung eine allgegenwärtige Bedrohung darstellt.

Deshalb bedeutet humanistische Antipsychiatrie, sich zu engagieren für

  1. die Sicherung der gesellschaftlichen Teilhabe von Menschen mit psychiatrischen Diagnosen und Problemen und ihre rechtliche Gleichstellung mit normalen Kranken (was die Gleichstellung psychiatrisch Tätiger vor dem Strafrecht beinhaltet),
  2. die Aufklärung über die Risiken und Gefahren psychiatrischer Psychopharmaka
  3. die Unterstützung beim selbstbestimmten Absetzen psychiatrischer Psychopharmaka und die Verwendung alternativer psychotroper, das heißt, die Psyche beeinflussender, und weniger giftiger Substanzen,
  4. die Ächtung des Elektroschocks bis hin zu seinem Verbot,
  5. den Aufbau angemessener und wirksamer Hilfe für Menschen in psychosozialer Not,
  6. die Organisierung von Menschen mit psychiatrischen Diagnosen und Problemen und die Zusammenarbeit mit anderen Menschenrechts- oder Selbsthilfegruppen sowie mit unterstützenden Expertinnen und Experten,
  7. neue Formen des Lebens mit Verrücktheit und Andersartigkeit sowie
  8. Toleranz, Respekt und Wertschätzung von Vielfalt auf allen Ebenen des Lebens.

Humanistische Antipsychiatrie unterscheidet sich von der alten, akademisch und patriarchalisch geprägten Antipsychiatrie durch die Wertschätzung des Erfahrungsschatzes Psychiatriebetroffener, die Überwindung einer männlich dominierten Perspektive und die Förderung psychosozialer Unterstützungsformen.

Ausgewählte Publikationen zur humanistischen Antipsychiatrie