Homepage
des Antipsychiatrieverlags
Original in: Wolfram Pfreundschuh (Hg.): Kulturkritisches
Lexikon. Internetveröffentlichung vom 31. Januar 2014 / Letzte
Aktualisierung am 4. Juli 2023
Peter
Lehmann
Antidepressiva
Antidepressiva, auch »Thymoleptika« genannt, sind Wirkstoffe,
die Depressionen lindern sollen oder das Empfindungsvermögen
dämpfen, eine niedergedrückte Stimmung, innere Erregung
oder Ängste wahrzunehmen. So gelten sie als aktivierende Stimmungsaufheller.
In der Medizin, Psychiatrie inklusive, setzt man seit Mitte der
1950er-Jahre synthetische Antidepressiva ein.
Standardkriterien für die Zuordnung einzelner Psychopharmaka
zu speziellen Wirkstoffgruppen gibt es nicht. In manchen Ländern
werden spezielle Wirkstoffe den Antidepressiva zugeordnet, in anderen
Ländern den Neuroleptika. Die Klassifikation kann sich auf
die pharmakologische Struktur der Substanz beziehen, ihren biochemischen
Wirkmechanismus, ihre Auswirkungen oder die subjektive Intention
des Verabreichers.
Entsprechend ihren chemischen Strukturgemeinsamkeiten teilt man
Antidepressiva in Gruppen auf, hierzu zählen unter anderem
trizyklische Antidepressiva (wie z. B. Amitryptylin, Saroten,
Aponal, Insidon), tetrazyklische Antidepressiva (wie z. B. Tolvin,
Ludiomil), MAO-Hemmer (wie z. B. Jatrosom, Parnate) oder Serotonin-Wiederaufnahmehemmer
(SRI wie z. B. Cipralex, Paroxetin, Prozac) oder Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer
(SNRI wie z. B. Cymbalta, Trevilor). Wenn auch »off-label«,
das heißt außerhalb des von Arzneimittelbehörden
genehmigten Zwecks, werden auch das Narkose- und Schmerzmittel Ketamin
und das chemisch verwandte Esketamin als Antidepressiva eingesetzt.
Lange Zeit hielten Mediziner den veränderten Spiegel der Botenstoffe
(Neurotransmitter) als ausschlaggebend für die Wirkung der
Antidepressiva. Mittlerweile gestehen sie ein, dass diese Annahme
unzureichend und der genaue Wirkmechanismus unbekannt ist. Dass
Antidepressiva primär auf den Hirnstoffwechsel wirken, ist
dagegen unstrittig. Ergebnis ist eine vorübergehende flache
Euphorie oder eine ungesteuerte Aufstachelung der Gefühlslage
(»Stimmungsaufhellung«). Leiden Menschen massiv unter
ihrer demoralisierenden Lebenssituation, können Antidepressiva
vorübergehend eine Erleichterung bewirken sofern die
Gefühlsveränderung nicht einen Placebo-Effekt darstellt. Möglich
ist auch, dass sich die Stimmung überhaupt nicht verbessert. Zur
Augmentation (Wirkungsverstärkung) werden dann gerne weitere
Psychopharmaka oder Elektroschockserien
verabreicht.
Antidepressiva werden eingesetzt bei Diagnosen wie reaktive, neurotische
oder hirnorganische Depression, Angst- oder Zwangssyndrom, Nachtangst,
Panikattacken, Phobien (z.B. Schulangst bei Kindern), chronischer
Schmerzzustand, Bettnässen, vorzeitige Ejakulation, Teilnahmslosigkeit,
Schlaflosigkeit, psychosomatische Störung, funktionelle Organbeschwerden,
Neurose, Schizophrenie, Entzugssymptom bei Medikamenten-, Alkohol-
und Drogenabhängigkeit, Manie.
Der Münchner Arzt und Psychotherapeut Josef Zehentbauer warnt:
Antidepressiva vermehren oft die innere Unruhe, was dann als sehr
quälend empfunden werde. Antriebssteigerung und Aktivierung
können einen depressiven Menschen zur Selbsttötung bringen
oder dazu treiben, in ihrer Verzweiflung gegen andere gewalttätig
zu werden.
Aufgrund von möglichen Absetz- und Entzugsproblemen sollte
nicht nur die Einnahme, sondern auch der Entschluss zum Absetzen
und dessen Prozess gut durchdacht sein. Hilfe beim selbstbestimmten
Absetzen von Antidepressiva wird in aller Regel nicht gewährt.
Informieren Sie sich gründlich, bevor Sie sich zur Einnahme
überreden lassen oder entschließen. Insbesondere die
Gefahr der Chronifizierung von Depressionen sollte beachtet werden,
wenn man sich entschließt, Antidepressiva längerfristig
einzunehmen. Wer Klarheit über die Risiken will, muss sich
mit deren Wirkungsweise und Auswirkungen auseinandersetzen, erst
recht, wenn ärztlicherseits das Interesse an einer umfassenden
Aufklärung zu wünschen übrig lässt.
Antidepressiva können zu bleibenden Rezeptorenveränderungen
im Nervensystem führen, zur Toleranzbildung, Behandlungsresistenz
und körperlichen Abhängigkeit, über die allerdings
von den Herstellerfirmen nur ansatzweise aufgeklärt wird. Längerfristig
eingenommene Antidepressiva erhöhen das Abhängigkeitsrisiko,
da sich das Nervensystem an künstlich veränderte Transmitterspiegel
gewöhnt. Dies kann zu erheblichen Entzugserscheinungen führen,
unter anderem Erschöpfung, Panikattacken, Übellaunigkeit, Erregtheit,
Schlaflosigkeit, Sinnesstörungen wie Lichtblitze oder »elektrische
Schläge«, Übelkeit, Erbrechen, Muskel-, Magen- und Darmkrämpfe,
Schweißausbrüche, Schüttelfrost, Herzstolpern, Verschlechterung
der ursprünglichen Depression, schnellere und stärkere
Rückfälle. Dies kann eine Weiterverabreichung der Antidepressiva
nötig erscheinen lassen nicht wegen weiter bestehender
Depressionen, sondern wegen der Entzugssymptome. Diese können
zeitversetzt auftreten und gelegentlich monatelang anhalten. Entwickelt
sich eine Behandlungsresistenz, gilt diese Psychiatern als Indikation
für die Verabreichung von Elektroschockserien.
Reichen Selbsthilfemaßnahmen nicht aus, gibt es sinnvolle
Alternativen zu Antidepressiva: Psychotherapie (kognitive Verhaltenstherapie,
systemische Verfahren, tiefenpsychologische Verfahren, Gruppentherapie),
naturheilkundliche oder homöopathische Mittel (z. B. Johanniskraut,
Passionsblume), Aromatherapie, Akupunktur, Lichttherapie, Wachtherapie,
Sport (Joggen, Gymnastik, Schwimmen etc.), Physiotherapie, Biofeedback-Therapien,
Achtsamkeitstraining, Massagen, Spaziergänge, Yoga, Meditation,
autogenes Training, kreative Therapien und Ergotherapie (Tanz-,
Musik-, Kunst- oder Beschäftigungstherapie), spezielle Ernährungsmaßnahmen,
psychosoziale Hilfen und Sozialberatung (z. B. bei Problemen im
Bereich Arbeit, Wohnen, Finanzen).
Literaturempfehlungen zu Antidepressiva-Risiken, unerwünschten
Wirkungen, zum Absetzen und zu Alternativen:
Peter
Lehmann / Craig Newnes (Hg): Psychopharmaka reduzieren und absetzen
Praxiskonzepte für Fachkräfte, Betroffene, Angehörige
Giovanni
A. Fava: Antidepressiva absetzen Anleitung zum personalisierten
Begleiten von Absetzproblemen
Peter
& Sabine Ansari: Unglück auf Rezept Die Antidepressiva-Lüge
und ihre Folgen
Peter
Lehmann / Volkmar Aderhold / Marc Rufer / Josef Zehentbauer: Neue
Antidepressiva, atypische Neuroleptika Risiken, Placebo-Effekte,
Niedrigdosierung und Alternativen
Peter Lehmann:
Schöne neue Psychiatrie. Band 1: Wie Chemie und Strom auf Geist
und Psyche wirken. Band 2: Wie Psychopharmaka den Körper verändern
Peter
Lehmann (Hg.): Psychopharmaka absetzen Erfolgreiches Absetzen
von Neuroleptika, Antidepressiva, Phasenprophylaktika, Ritalin und
Tranquilizern
Peter
Lehmann: Antidepressiva absetzen Massive Entzugsprobleme,
keine professionellen Hilfen
Peter Lehmann
/ Peter Stastny (Hg.): Statt Psychiatrie 2
Peter
Lehmann: Gibt es eine Abhängigkeit von Antidepressiva und Neuroleptika?
Wem nützt welche Antwort? Und was folgt daraus für die
Praxis?
Josef
Zehentbauer: Chemie für die Seele Psyche, Psychopharmaka
und alternative Heilmethoden
Aufklärungsbögen
Antidepressiva
|