Homepage
des Antipsychiatrieverlags
In: Soziale
Psychiatrie, 47. Jg. (2023), Nr. 3, S. 27-30 / Und in: Schattenblick,
Ausgabe 177 (Sonderausgabe 20) vom 1. Oktober 2022, S. 40-47
/ Und in: Rundbrief
des Bayerischen Landesverbands Psychiatrie-Erfahrener e.V., 2022,
Nr. 4, S. 22-31 / Englische Übersetzung:
A concise guide to electroshock: Indications, mode of action,
risks, alternatives. In Journal of Critical Psychology, Counselling
and Psychotherapy, Vol. 22 (2022), No. 3, pp. 36-45 / Letzte Aktualisierung
am 4.8.2024
Peter Lehmann
Kompaktwissen Elektroschock
Indikationen, Wirkungsweise, Risiken, Alternativen
International verabreichen Psychiaterinnen und Psychiater zunehmend
Elektroschocks: in psychiatrischen Kliniken, insbesondere in Universitätskliniken,
gelegentlich auch ambulant in psychiatrischen Praxen. Niedergelassene
oder im Krankenhaus tätige »Zuweiser« kümmern
sich darum, dass Patientinnen und Patienten in Einrichtungen mit
einsatzbereiten Elektroschockapparaten überstellt werden. Dabei
ist der Elektroschock als psychiatrische Behandlungsmaßnahme
hoch umstritten.
Betroffene, Angehörige, medizinisches Fachpersonal, Journalistinnen
und Journalisten, Juristinnen und Juristen, die sich eine eigene
Meinung bilden wollen, sie alle sollten wissen:
Der Autor gibt knappe Antworten auf kurze Fragen.
Wie wirken Elektroschocks?
Der Elektroschock besteht aus der Auslösung eines epileptischen
Anfalls durch einen Stromstoß, dem der Kopf in der Regel zwischen
0,5 und 8 Sekunden, manchmal auch bis zu 30 Sekunden lang ausgesetzt
wird. Die Stromspannung beträgt ca. 450 Volt, die Stromstärke
ca. 0,9 Ampere. (Zum Vergleich: Bei der elektrischen Defibrillation
des Herzens nach einem Herzstillstand dauert der Stromstoß
4 Millisekunden.) Stellt sich der ausgebreitete epileptische Anfall
nicht wie gewünscht ein, erfolgt in einem Zeitabstand von 60
Sekunden ein erneuter Stromstoß mit einer bis zu 50%-igen
Steigerung der Stromdosis.
Der Strom breitet sich auf zwei Wegen aus: zum einen durch das
Gehirn, zum anderen entlang dem Gefäßbaum, der mit einem
elektrischen Leitungsnetz verglichen werden kann. Die Blutgefäße
werden von Krämpfen befallen, die Blut-Hirn-Schranke bricht
zusammen, es treten über das gesamte Gehirn verteilte Blutungen
auf, Hirnzellen können irreversibel zerstört werden. Das
ausgelöste hirnorganische Psychosyndrom geht mit Verwirrtheit,
Desorientierung, Verlust der Entscheidungsfähigkeit und von
Gedächtnispotenzialen einher, die behandelte Person steht ihren
ursprünglichen Problemen gleichgültiger gegenüber,
die »Therapie« gilt als erfolgreich. Tritt dieser Behandlungseffekt
nicht sofort und dauerhaft ein, verabreicht man Elektroschocks in
Serien, auch wiederholt oder regelmäßig; der ärztlich
verordnete Hirnschaden verfestigt sich. Für viele Psychiaterinnen
und Psychiater, unter anderem Klaus Dörner, sind diese hirnorganischen
Schäden beabsichtigt.
»Wir verwandeln den seelisch leidenden vorübergehend
in einen hirnorganisch kranken Menschen, bei der EKT nur globaler,
dafür kürzer als bei der Pharmakotherapie.« (Dörner
& Plog 1984, S. 537)
Andere, beispielsweise der US-Amerikaner Peter Breggin, kritisieren
die Schädigung:
»Was wir machen ist Folgendes: Wir fügen Menschen in
seelischen Krisen eine innere Kopfverletzung zu eine innere
Kopfverletzung. (...) Bereits die Frage Verursachen Elektroschocks
Hirnschädigungen? ist eine unlautere Frage, denn wir
wissen, dass Elektroschocks eine Hirnschädigung verursachen,
dass jeder einzelne Patient, jede einzelne Patientin nach einer
Elektroschockserie ein hirnorganisches Psychosyndrom aufweist,
mit Verwirrtheit, Desorientierung, Stimmungsschwankungen, Verlust
der Entscheidungsfähigkeit.« (Breggin 1993, S. 160f.)
Üblich sind acht bis zwölf Elektroschocks in einem Abstand
von meist zwei bis drei Tagen. Möglich sind auch 30 Elektroschocks
oder mehr.
1947 verlangte der Psychiater Anton von Braunmühl, im Faschismus
Oberarzt der bayerischen T4-Zwischenanstalt Eglfing-Haar, nicht
mehr vom »Schock« oder »Krampfschock« zu sprechen,
sondern vom »Heilkrampf« (von Braunmühl 1947, S.
185). Folgerichtig benutzen Anhängerinnen und Anhänger
des Elektroschocks heutzutage wohltuender klingende Begriffe wie
»Elektrokonvulsionstherapie (EKT)«,
»elektrische Durchflutungstherapie«, »elektrische
Stimulation« oder »Schlaftherapie«.
Auch der lange Zeit benutzte Begriff »Elektrokrampftherapie«
wird inzwischen vermieden, da er zu deutlich auf das Wirkprinzip
des Elektroschocks hinweist: die Auslösung eines ausgebreiteten
epileptischen Anfalls. Herstellerfirmen und Handelsunternehmen
benutzen nach wie vor auch den eingeführten Begriff »Elektroschock«.
Wann und wer wird elektrogeschockt?
Elektroschocks können bei einer Vielzahl psychiatrischer,
neurologischer und internistischer Indikationen angewandt werden
(Lehmann 2017, S. 133-139). Die häufigsten Indikationen sind
Depression, Schizophrenie, drogeninduzierte Psychose, Wochenbettpsychose,
Katatonie (»Spannungsirresein«, einhergehend mit Störung
der Motorik, die gelegentlich von extremer Erregung zu extremer
Passivität wechselt), Manie, Zwangsstörung, perniziöse
Katatonie (auch »akute tödliche Katatonie«, »febrile
Katatonie« oder »maligne Katatonie« genannt
mit Fieber, Verstummen und Bewegungsarmut bis hin zur Erstarrung
einhergehendes lebensbedrohliches Krankheitsbild) und malignes neuroleptisches
Syndrom (lebensbedrohlicher Symptomenkomplex aus Fieber, Muskelsteifheit
und Bewusstseinstrübung).
Von zunehmender Bedeutung für Psychiaterinnen und Psychiater
sind unbefriedigende Wirkungen und Behandlungsresistenzen gegenüber
Antidepressiva und Neuroleptika, »Versagen einer Behandlung
mit atypischen Neuroleptika«, »Nichtansprechen« auf
Clozapin (Neuroleptikum [»Antipsychotikum«], im Handel
auch als Clopin®, Lanolept®
und Leponex®) oder dessen Ablehnung
sowie Augmentation (Wirkungsverstärkung) von Psychopharmaka.
Absolute Kontraindikationen gibt es für Anhängerinnen
und Anhänger des Elektroschocks nicht.
Der Anteil elektrogeschockter Frauen liegt bei 70%. Auch Menschen
über 50 Jahre verabreicht man bevorzugt Elektroschocks.
Welche
Risiken und Schäden gestehen Hersteller ein?
Die Firma Somatics LLC nennt
im Anwendungshandbuch ihres Apparates Thymatron®
System IV Schäden, die ihre Apparate verursachen können,
unter anderem: »verheerende kognitive Folgen« (2021,
S. 1 Hervorhebung P.L.). Mit »kognitiv« bezeichnet
man »... Funktionen des Menschen, die mit Wahrnehmung, Lernen,
Erinnern, Denken und Wissen in Zusammenhang stehen. Zu den kognitiven
Fähigkeiten zählen unter anderem Aufmerksamkeit, Erinnerung,
Lernen, Kreativität, Planen, Orientierung, Vorstellungskraft
oder Wille.« (BMSGPK, undatiert)
Außerdem zählt Somatics eine ganze Reihe weiterer bekannt
gewordener Schäden auf, mit denen nach Elektroschocks gerechnet
werden müsse, unter anderem Gedächtnisstörungen und
Hirnschäden, Herzrhythmusstörungen und Herzinfarkt, Blutdruckstörungen,
Zahntraumata, allgemeine motorische Funktionsstörungen, manische
Symptome (zum Beispiel behandlungsbedingte Manie, posttraumatisches Delirium
oder Erregung), neurologische Symptome (zum Beispiel Parästhesien
[unangenehme, manchmal schmerzhafte Körperempfindungen mit
Kribbeln, Taubheit, Einschlafen der Glieder, Kälte- und Wärmewahrnehmungsstörungen],
Dyskinesien [Störungen des physiologischen Bewegungsablaufs
einer Körperregion oder eines Körperteils], Stürze,
spontane Anfälle mit zeitlichem Abstand, anhaltende Anfälle,
nicht-konvulsiver Status epilepticus [Abfolge von epileptischen
Anfällen, zwischen denen die Betroffenen nicht zum Vorzustand
zurückkehren und die ohne eindeutige tonische-klonische, das
heißt zwischen Steifheit und krampfartigen Zuckungen wechselnde
Entäußerungen einhergehen]), Komplikationen in der Lunge
(zum Beispiel Ansaugung von Mageninhalt, Lungenentzündung,
Mangelversorgung mit Sauerstoff, Atemwegsverschlüsse
wie Laryngospasmus [krampf- und reflexartige Kontraktionen der Kehlkopfmuskulatur],
Lungenembolie, längerer Atemstillstand), Koma, Sehstörungen,
Hörkomplikationen, Verschlechterung psychiatrischer Symptome,
Tötungsdelikte und Begünstigung suizidalen Verhaltens.
Wie kam der Elektroschock
in die Welt?
Die frühesten Elektroschocks sind aus dem Ägypten des
16. Jahrhunderts bekannt; mit Zitteraalen, deren Körper mit
Muskeln versehen sind, die hohe elektrische Spannungen freisetzen
können, wollte man Teufel austreiben. Im industriellen Zeitalter
wurden Zitteraale durch Apparate ersetzt erstmals 1917, als
deutsche Psychiater sogenannte Kriegszitterer mit elektrischen Stromschlägen
zur Räson bringen und wieder kriegstauglich machen wollten.
Nach einer Reihe von Todesfällen stoppte das Berliner Kriegsministerium
diese Behandlungsmethode noch im selben Jahr. Sie lebte aber 1936
wieder auf, als im faschistischen Italien der Psychiater und Mussolini-Anhänger
Ugo Cerletti die »heilsame Wirkung« von Elektroschocks
erkannte: in Hundeversuchen und nach Beobachtungen in einem römischen
Schlachthaus, wo man Schweine mittels Stromschlägen außer
Gefecht setzte, um sie ruhiger schlachten zu können. Ab 1938
wandte man diese Behandlungsmethode in der Psychiatrie an. Man begründete
dies mit dem Glauben, Menschen mit Epilepsie würden weniger
oft schizophren. Mit seinen Vorerfahrungen der Verabreichung
von Stromschlägen an Kriegszitterer im 1. Weltkrieg nahm der
deutsche Psychiater Lothar Kalinowsky, der 1936 in Rom den Aktionen
Cerlettis beigewohnt hatte, bei seiner Emigration in die USA sein
Know-how mit, wo es auf fruchtbaren Boden fiel. Dort war man mit
dem Gebrauch von Stromapparaten (»elektrischer Stuhl«)
bestens vertraut (Hedrich 2014).
Zur aktuellen Wiederkehr faschistischen Gedankenguts (Antisemitismus,
Homophobie, Rassismus, Fremdenhass etc.) passt der Hype um den während
der Zeit des Faschismus aufgekommenen Elektroschock. Mit zunehmendem
zeitlichen Abstand zu den psychiatrischen Massenmorden während
des deutschen Faschismus und der fortschreitenden Verrohung der
Gesellschaft lösen sich bei psychiatrisch Tätigen und
insbesondere schulpsychiatrisch orientierten Ärztinnen und
Ärzten Zivilcourage und Festhalten am Hippokratischen Eid (»Primum
nil nocere« »Zuerst einmal nicht schaden«)
immer mehr in nichts auf. Zudem stellt die Depressions-chronifizierende
Wirkung von Antidepressiva, die Psychosen-chronifizierende Wirkung
von Neuroleptika und Behandlungsresistenzen bei Antidepressiva und
Neuroleptika, das heißt, deren mit der Zeit immer geringer
werdende »therapeutische« Wirkung, psychiatrisch Tätige
vor ein Dilemma, das sie anders als mit Elektroschocks nicht mehr
lösen zu können glauben.
2012 rief die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie,
Psychosomatik und Nervenheilkunde e.V. (DGPPN) psychiatrische Einrichtungen
in Deutschland, Italien, Österreich und der Schweiz dazu auf,
flächendeckend Elektroschockapparate anzuschaffen und konsequent,
vorbeugend und kontinuierlich elektrozuschocken (DGPPN 2012). Zeitgleich
wurde vom deutschen Bundesministerium für Gesundheit ein Entgeltsystem
für psychiatrische Einrichtungen initiiert, mit dem Krankenhäuser
mit Elektroschocks und deren krankenhausindividuellen Abrechnung
als Zusatzleistung lukrative Mehreinnahmen erwirtschaften können.
Seit Januar 2018 erhält eine psychiatrische Klinik in Deutschland
für jeden Tag eines stationären Aufenthalts 300 €,
für den ersten Elektroschock kommen 297 € hinzu und für
jeden weiteren 220 €. Sollte eine durchgehende 1:1-Betreuung
nötig werden, können noch einmal 1000 € pro Tag
in Rechnung gestellt werden. Da der organisatorische und personelle
Aufwand für die Verabreichung von Elektroschocks hoch ist,
lohnt sich diese Maßnahme speziell für Einrichtungen,
die zentriert gleichsam am Fließband und in Serien
Elektroschocks verabreichen.
Im Falle einer Verweigerung der Zustimmung zu Elektroschocks droht
Betroffenen die zwangsweise Verabreichung, eventuell sogar gegen
den Wortlaut von Patientenverfügungen. Als ernstzunehmendes
Problem sehen die Anhängerinnen und Anhänger des Elektroschocks
nur die Nichtverabreichung von Elektroschocks:
»Als ernstliche Gesundheitsschädigung wird angesehen,
wenn durch die verspätete Ausführung bzw. Nichtvornahme
der EKT eine schwere Körperverletzung droht...« (Olzen
& Nickl-Jockschat 2013, S. 218)
Hier zeigt sich die Notwendigkeit, sich per Psychosozialer Patientenverfügung
präzise zu äußern, ob man im Fall des Falles Elektroschocks
egal welcher Variante verabreicht bekommen möchte oder ob man
dies für all seine Varianten untersagt (Lehmann 2015). Vorausverfügungen
sind insbesondere dann wichtig, sollten sich in Ihrer Wohnortnähe
psychiatrische Kliniken mit einsatzbereiten Elektroschockapparaten
(siehe unten) oder mit Psychiaterinnen und Psychiatern befinden,
die ihre Patientinnen und Patienten an Einrichtungen mit einsatzbereiten
Elektroschockapparaten überstellen.
Wie verabreicht man
den Elektroschock heute?
Seit ihrer Anwendung in den 1930er-Jahren modifiziert man Elektroschockapparate,
Pulssequenzen, Stärke und Spannung des verwendeten Stroms ständig.
Die beiden Elektroden werden mal »bilateral« (= bitemporal)
an beiden Schläfen platziert, mal »links-anterior-rechts-temporal«
(= »unilateral«, LART), das heißt links frontal
und an der rechten Schläfe; neuerdings auch »bifrontal«,
das heißt beidseits an der Stirn. Um Knochenbrüche zu
verhindern, die bei Krampfanfällen auftreten können, werden
die Behandelten vorher in der Regel anästhesiert; die Entäußerung
des Krampfanfalls wird mit Muskelrelaxanzien unterdrückt, der
Krampfanfall das Wirkprinzip des Elektroschocks findet
»nur noch« im Gehirn und in bewusstlosem Zustand statt.
So unterbleibt auch die erfahrungsgemäß auftretende »Wehr
und Gegenwehr« (von Braunmühl 1942, S. 605). Mittel zur
Lähmung des Zentralnervensystems, Betäubungsmittel und
Muskelrelaxanzien geben dem Elektroschock indirekt eine noch größere
Wirkung, da die Erhöhung der Krampfschwelle wiederum eine höhere
Dosis an elektrischem Strom zur Auslösung des Krampfanfalls
nötig macht.
Bei unilateral verabreichten Elektroschocks werden die Elektroden
an der für die Sprachproduktion nichtdominanten (in der Regel)
rechten Hirnseite angesetzt. Anhänger des Elektroschocks bezeichnen
dieses Verfahren als »Goldstandard für eine möglichst
nebenwirkungsarme und effiziente Behandlung« und den betroffenen
Hirnbereich als »stumme Zone«, in der keine Funktionen
des Gedächtnisses beheimatet seien. Demzufolge sei mit ernsteren
Gedächtnisstörungen nicht zu rechnen. Der Schweizer Arzt
und Psychotherapeut Marc Rufer kritisierte diese Haltung mit den
Worten:
»Es ist unverantwortlich, von stummer Zone zu sprechen,
die geschockt wird bei dieser unilateralen, einseitigen Anwendung.
Es sind dort räumliche Wahrnehmungsfunktionen, visuelle Funktionen,
emotionale Funktionen. Akustisches, musikalisches Verständnis
und die ganzheitliche Wahrnehmung von Zusammenhängen finden
dort statt. Es ist ein Gebiet des Gehirns, das sehr wichtig ist
für das Menschsein als Ganzes. Und es ist entsetzlich, dass
das einfach hinuntergespielt wird.« (Rufer 1992)
Ist der Elektroschock
alternativlos?
In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg galten lange Zeit die fulminant
auftretende und lebensbedrohliche maligne (perniziöse, febrile)
Katatonie (Krankheitsbild mit motorisch-muskulärer bzw. mentaler
Anspannung) als wichtigste Indikation des Elektroschocks. Aufgrund
der bekannt gewordenen Verbrechen deutscher Psychiater in der Zeit
während des Faschismus standen hierzulande Anästhesistinnen
und Anästhesisten Psychiaterinnen und Psychiatern skeptisch
gegenüber, wenn diese sie zu Elektroschocks hinzuziehen wollten.
Insofern wurde im deutschsprachigen Raum im internationalen Vergleich
lange Zeit recht zurückhaltend elektrogeschockt. Zudem kamen
Patientinnen und Patienten mit maligner Katatonie in die internistische
Medizin, wo man sie meist mit Benzodiazepinen oder anderen krampflösenden
Medikamenten risikoarm behandelte. Intern gestehen Psychiater ein,
dass Elektroschocks auch bei schweren Depressionen mitnichten eine
Ultima ratio darstellen, das heißt das letzte Mittel bei Lebensgefahr.
Es bestünden immer Alternativen, zum Beispiel die Intensivierung
psychotherapeutischer Maßnahmen (Lehmann 2017, S. 154f.).
Wie informiert man Betroffene,
Angehörige und medizinisches Personal über Behandlungsrisiken?
Anhängerinnen und Anhänger des Elektroschocks erklären
den Elektroschock und insbesondere seine jeweils modernste
Variante für »sicherer als Aspirin«, er sei
»im Regelfall ausgesprochen gut verträglich«. Gedächtnisprobleme
kämen, wenn überhaupt, nur vorübergehend vor oder
seien Teil der behandelten psychischen »Krankheit« und
sowieso nicht objektiv messbar. Das Ȁrztliche Zentrum
für Qualität in der Medizin (ÄZQ)« im Auftrag von Bundesärztekammer
und Kassenärztlicher Bundesvereinigung stellt den Elektroschock
als insgesamt sicheres Verfahren und geradezu entspannende
Neurostimulation dar:
»Außerdem bekommen Sie Medikamente, die Ihre Muskeln
entspannen. Der Eingriff erfolgt in kurzer Narkose. Nachdem Sie
eingeschlafen sind, werden kleine Stromimpulse über die Elektroden
übertragen. Sie spüren davon nichts.« (ÄZQ
2022)
Als »Nebenwirkungen« könnten Gedächtnisprobleme
auftreten, die aber in den meisten Fällen rasch wieder verschwinden
würden. Die Deutsche Depressionsliga, die sich eine »Patientenvertretung
für an Depressionen erkrankte Menschen« nennt, schließt
sich durch ihre 1. Vorsitzende der Vorgehensweise an, behandlungsbedingte
Schäden grundsätzlich als bloß »vorübergehend«
darzustellen:
»Auftretende Nebenwirkungen wie vorübergehende Schmerzen
und ein vorübergehender Verlust von manchen Erinnerungen
im Kurzzeitbereich müssen im Vergleich zu den Qualen einer
schweren Depression bewertet werden.« (Rinke, undatiert)
Auch sich kritisch gebende Reformpsychiaterinnen und -psychiater
reden in dieser Weise. Anhängerinnen und Anhänger des
Elektroschocks erwähnen nicht die bleibenden Hirn- und Gedächtnisschäden,
die weltweit von Betroffenen (u.a. Frank 1996; Kempker 2000; Andre
2009; Lehmann & Schlimme 2018) und von Sozial- und Medizinwissenschaftlerinnen
und -schaftlern (u.a. Friedberg 1977; Breggin 1980; Rufer 1992a,
2007; Lehmann 2017, 2020; Newnes 2018; Robertson & Pryor 2018;
Zinkler et al. 2018) beklagt werden. Sie erwähnen auch nicht
die intern speziell in US-amerikanischen Bedienungsanleitungen der
Herstellerfirma Somatics eingestandenen traumatisierenden Langzeitwirkungen
und in Suizidalität endenden Verzweiflungszustände nach
Elektroschocks. Auch nicht die hohe Zahl von Früh- und Totgeburten
elektrogeschockter Schwangerer. Auch nicht die feingeweblichen,
massive Hirnzellverluste aufweisenden Befunde an Gehirnen zu Versuchszwecken
elektrogeschockter Katzen. Und schon gar nicht die Tatsache, dass
man im Gegensatz zur Psychiatrie in der Neurologie
in der Regel alles unternimmt, um epileptischen Anfällen vorzubeugen.
In einem Zeitungsinterview brachte Annette Brühl, stellvertretende
Chefärztin an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich,
einer den Apparat Thymatron® System
IV der Herstellerfirma Somatics einsetzenden Elektroschockhochburg
in der Schweiz, die Argumentationsweise der Anhängerschaft
des Elektroschocks auf den Punkt. Eine sehr geringe Strommenge
löse einen generalisierten, das heißt großen epileptischen
Anfall aus, wodurch das Gehirn in Schwung gebracht werde:
»Wir kitzeln das Hirn« (zitiert nach: Badische Zeitung
2021),
erklärte sie der Leserschaft. Dadurch würden sehr viele
Neurotransmitter ausgeschüttet, Wachstumsprozesse im Gehirn
angestoßen, mit Depressionen verbundene (behauptete) Hirnschrumpfungen
und eine gewisse Starrheit im Gehirn rückgängig
und dieses flexibler für neue Prozesse gemacht. Nach einer
Serie von zwölf Elektroschocks gingen mögliche, zwei bis
drei Wochen anhaltende Gedächtnisprobleme innerhalb von zwei
bis sechs Wochen wieder komplett weg.
In der »Patientenaufklärung« der Thieme Compliance
GmbH teilt der Elektroschockfreund Here Folkerts den Behandlungskandidatinnen
und -kandidaten mit, bei (sogenannten) psychischen Erkrankungen
verändere sich das Nervengewebe in bestimmten Teilen des Gehirns.
Bei den elektroschockbedingten Hirnveränderungen würde
es sich vermutlich um eine Regeneration des Gehirns handeln
der Elektroschock wirke gleichsam als Jungbrunnen, und bei einer
Ablehnung von Elektroschocks würden sich die ursprünglichen
Probleme verschlimmern. Manche psychiatrische Kliniken schreiben
von günstiger Beeinflussung von Hormonen und Botenstoffen durch
Elektroschocks, Kontaktstellen der Nervenzellen würden dadurch
vermehrt (Folkerts 2018).
Einer der weltweit größten Befürworter des modernen
Elektroschocks ist Harold Sackeim, ehemaliger Leiter der Abteilung
für biologische Psychiatrie am New York State Psychiatric Institute.
In seinem Artikel »Modern electroconvulsive therapy: Vastly
improved yet greatly underused« (»Moderne Elektrokonvulsionstherapie:
erheblich verbessert, aber viel zu wenig eingesetzt«) sieht
er im Elektroschock einen universellen Jungbrunnen:
»Mehrere Langzeitnachfolgestudien legen nahe, dass Patienten,
die EKT erhalten, im Vergleich zu Kontrollpatienten ohne EKT eine
verringerte Sterblichkeit jedweder Ursache haben.« (Sackeim
2017, S. 779)
Sackeims Kenntnisse kommen nicht von ungefähr. Er erhielt
Honorare von den Firmen LivaNova (Vagusnervenstimulation), MECTA
Corporation (Elektrokrampftherapie) und Neuronetics (transkranielle
Magnetstimulation) für seine Beratertätigkeit. In der
Vergangenheit beriet er auch die einschlägigen Unternehmen
Brainsway, Cyberonics, Cervel Neurotech/NeoStim, Magstim, NeoSync
und NeuroPace sowie die Pharmaunternehmen Cambridge Neuroscience,
Eli Lilly & Co., Forest Laboratories, Hoffmann-La Roche, Interneuron
Pharmaceuticals, Novartis International, Pfizer, Warner-Lambert
und Wyeth-Ayerst oder erhielt Forschungsunterstützung von ihnen.
Gewarnt werden allerdings die Anwenderinnen und Anwender von Elektroschocks,
sich durch Berühren der geschockten Person ebenfalls einem
Stromschlag auszusetzen. Die FBI Medizintechnik Fred Berninger
Importe OHG aus Taufkirchen, Generalvertretung von Somatics, LLC
für Deutschland, Italien, Österreich, Schweiz, Benelux
und Osteuropa warnt entsprechend in ihrer Bedienungsanleitung
des marktführenden Elektroschockapparats Thymatron®
System IV:
»Während der Defibrillation dürfen der Patient,
das Gerät und das Bett nicht berührt werden.« (FBI
Medizintechnik 2005, S. 6)
Welche Verantwortung
für mögliche Schäden übernimmt der Hersteller?
Somatics stellt in seinem Anwendungshandbuch klar, welche Verantwortung
sie für den Einsatz ihres Thymatron®
System IV übernimmt:
»Somatics, LLC lehnt jede Verantwortung für medizinische
Komplikationen ab, die direkt oder indirekt aus der Verwendung
dieses Produkts resultieren.« (2021, S. 24)
Anmerkungen
Übersetzung der englischsprachigen Zitate: Peter Lehmann.
Soweit nicht anders angegeben, erfolgten die Internetzugriffe am
12. August 2022.
Erklärung des Autors zu möglichen Interessenkonflikten
Peter Lehmann hat keinerlei Verbindung zur pharmazeutischen Industrie
und zu Herstellerfirmen von Elektroschockapparaten sowie zu Organisationen,
die von ihnen gesponsert werden, ebenso wenig zu Scientology oder
anderen Sekten jeglicher Couleur.
Über den Autor
Dr. phil. h.c. Peter Lehmann, Dipl.-Pädagoge, arbeitet als
Autor, Verleger und Fortbildner in Berlin. Bis 2010 langjähriges
Vorstandsmitglied im Europäischen Netzwerk von Psychiatriebetroffenen.
Mitglied im Fachausschuss Psychopharmaka der Deutschen Gesellschaft
für Soziale Psychiatrie e.V. 2010 Verleihung der Ehrendoktorwürde
in Anerkennung des »außerordentlichen wissenschaftlichen
und humanitären Beitrags für die Durchsetzung der Rechte
Psychiatriebetroffener« durch die Aristoteles-Universität
Thessaloniki. 2011 Verleihung des Bundesverdienstkreuzes durch den
deutschen Bundespräsidenten. Mehr unter www.peter-lehmann.de.
Psychiatrische Einrichtungen
mit einsatzbereiten Elektroschockapparaten
Quellen
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ÄZQ Ärztliches Zentrum für Qualität
in der Medizin im Auftrag von Bundesärztekammer und Kassenärztliche
Bundesvereinigung (September 2022): »Depression
Was passiert bei einer Elektrokonvulsions-Therapie?«; Online-Ressource
www.patienten-information.de/patientenblaetter/depression-ekt,
Anhang zu: Bundesärztekammer / Kassenärztliche Bundesvereinigung
/ Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften
u.a. (Hg.): »Nationale VersorgungsLeitlinie Unipolare Depression.
Langfassung Version 3.0«; Online-Ressource www.leitlinien.de/themen/depression/pdf/depression-vers3-0-lang.pdf
(Zugriffe am 5. Oktober 2022)
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Andre,
Linda (2009): »Doctors of deception What they don't
want you to know about shock treatment«, Piscataway,
NJ: Rutgers University Press
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Brühl therapiert in Basel Depressionen mit elektrischen
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Badische Zeitung, S. 21
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BMSGPK Bundesministerium für Soziales, Gesundheit,
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Rechtzeitiger und adäquater Einsatz empfohlen«;
Online-Ressource www.deprilibri.fx7.de/doku.php?id=elektrokonvulsionstherapie:rechtzeitiger_und_adaequater_einsatz_empfohlen
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Dörner, Klaus / Plog, Ursula (1984): »Irren ist menschlich
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völlig neubearbeitete Ausgabe, Rehburg-Loccum: Psychiatrieverlag
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(S. 125-151), in: Peter
Lehmann / Volkmar Aderhold / Marc Rufer / Josef Zehentbauer:
»Neue Antidepressiva, atypische Neuroleptika Risiken,
Placebo-Effekte, Niedrigdosierung und Alternativen. Mit einem
Exkurs zur Wiederkehr des Elektroschocks«, Berlin /
Shrewsbury (UK): Peter Lehmann Publishing (E-Book
2024)
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Lehmann, Peter
(2017b): »Alternativen zu Elektroschocks« (S. 154-155),
in: Peter
Lehmann / Volkmar Aderhold / Marc Rufer / Josef Zehentbauer:
»Neue Antidepressiva, atypische Neuroleptika Risiken,
Placebo-Effekte, Niedrigdosierung und Alternativen. Mit einem
Exkurs zur Wiederkehr des Elektroschocks«, Berlin /
Shrewsbury (UK): Peter Lehmann Publishing (E-Book
2024)
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Lehmann,
Peter (2020): »Zur Wiederkehr des Elektroschocks
Therapie oder Schädigung?«, Saarburg: Selbsthilfe
SeelenWorte-RLP
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Lehmann, Peter / Schlimme, Jann E. (15. November 2018): »Die
Wiederkehr des Elektroschocks: Legitime Therapie oder verantwortungslose
Schädigung?«, Symposium mit den Diskutantinnen &
Diskutanten Prof. Dr. med. Asmus Finzen (»Die Renaissance
des Elektroschocks«), Dr. med. Eva Heim (»Neurologische
Schäden und Wesensveränderungen durch Elektroschocks«),
Dr. jur. Marina Langfeldt (»Notwendige zivil- und strafrechtliche
Regelungen rund um den Elektroschock«), Dr. phil. h.c.
Dipl.-Päd. Peter Lehmann (»Für ein Verbot des
Elektroschocks?«), Michael Proctor & Astrid Krause
(»Eine Angehörige und ein Betroffener berichten«),
Priv.-Doz. Dr. med., Dr. phil., M.A. Jann E. Schlimme (»Argumente
gegen EKT nach klinischer Studienlage«), Vorveranstaltung
zur Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Soziale
Psychiatrie e.V., Magdeburg; gefilmte Vorträge, Teil 1:
vimeo.com/323741155,
Teil 2: vimeo.com/323745443
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Newnes,
Craig (2018): »A critical A-Z of electroshock«,
Steyning (UK): The Real Press
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Olzen, Dirk / Nickl-Jockschat, Thomas (2013): »Rechtliche
Aspekte der EKT in Deutschland, Österreich und der Schweiz«
(S. 201-228), in: Michael Grözinger / Andreas Conca / Thomas
Nickl-Jockschat / Jan Di Pauli (Hg.): »Elektrokonvulsionstherapie
kompakt«, Berlin / Heidelberg: Springer Verlag
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Rinke, Waltraud: »Alle Behandlungsmöglichkeiten in
Erwägung ziehen« (S. 5), in: Michael Grözinger
/ Christiane Först / Andreas Conca / Petra Waschk-Schleich
unter Mitarbeit des DGPPN-Referats »Klinisch angewandte
Stimulationsverfahren in der Psychiatrie«, Sektion »Elektrokonvulsionstherapie«
(undatiert): »Elektrokonvulsionstherapie (EKT) EKT
in 24 Fragen. Ein DGPPN-Ratgeber für Patienten und Angehörige«,
Berlin: DGPPN; Online-Ressource www.dgppn.de/_Resources/Persistent/e06f9f009532ab7ec4e098a5cec77a74e5ebcd72/EKT
(Zugriff am 4. August 2024)
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Rufer, Marc (3. August 1992b): Interviewaussage, in: Jürgen
Bevers / Pietro Nuvoloni: »Elektroschocks«, Redaktion
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Rufer, Marc (2007): »Wie steht es um den Elektroschock?«
(S. 413-415), in: Marc Rufer: »Psychiatrie ihre
Diagnostik, ihre Therapien, ihre Macht« (S. 400-418), in:
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Lehmann / Peter Stastny (Hg.): »Statt Psychiatrie 2«,
Berlin / Eugene, OR / Shrewsbury (UK): Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag
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