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des Antipsychiatrieverlags
Diskussionspapier zur Gründung von
FAPI
Forum Anti-Psychiatrischer Initiativen, Berlin, 26. September
1989 /
PDF
/ Letzte Korrektur am 7.9.2024
Peter
Lehmann
Der Stand der bundesdeutschen Antipsychiatriebewegung
(unter Berücksichtigung ausländischer Erfahrungen und
ohne Anspruch auf Vollständigkeit)
Inhaltsverzeichnis
-
Die rechtliche Situation von Psychiatrie-Betroffenen
-
Allgemeines (Historisches, Schadenersatz, Akteneinsicht,
Ombudsmenschen)
-
Zwangsbehandlung und Psychiatrisches Testament
-
Behandlungsspezialitäten
-
Elektroschock
-
Neuroleptika
-
Beteiligung an politischen Entscheidungsprozessen
-
Öffentlichkeitsarbeit
-
Alternative Einrichtungen
-
Selbstorganisation
-
Alternative Hilfsformen
-
Kritik der Sozialpsychiatrie
1. Die rechtliche Situation von Psychiatriebetroffenen
a) Allgemeines
Historisches
Eine mehr oder weniger starke Opposition gegen den psychiatrischen
rechtsfreien Raum gibt es schon seit dem letztem Jahrhundert.
Dieter Storz berichtet über die bereits 1804 entstehende,
sogar vom König mitgetragene Kritik an der institutionellen
Psychiatrie (1). Die sogenannte Irrenrechtsreform wurde 1933 liquidiert:
mit der Übergabe der totalen Macht über Leben und Tod
an die SozialpsychiaterInnen.
Nach dem 2. Weltkrieg gab es in der BRD nur wenige Urteile,
die den Machtbereich der PsychiaterInnen relativierten, so das
Elektroschock-Urteil von 1954 (2) und das Urteil im Fall Weigand (3).
Ersteres Urteil sagte, dass die Elektroschock-Verabreichung ohne Aufklärung
über die Risiken widerrechtlich ist; letzteres sah grundsätzlich
einen Schadenersatzanspruch gegenüber PsychiaterInnen für
den Fall, dass das psychiatrische Gutachten, das zur Zwangsunterbringung
führte, nachweislich mangelhaft war. Psychiatriebeschwerdezentren,
die mit der Studentenbewegung anstanden, orientieren sich an den
wenigen bestehenden, mehr oder weniger formalen Rechten von Psychiatriebetroffenen,
die sie einklagen, und tragen infolgedessen wenig zur Änderung
der Rechtslage bei.
Schadenersatz
Schadenersatzklagen gab es gegen ungerechtfertigte Unterbringung
(Weigand), gegen ungerechtfertigte Diagnosen. Einige wichtige
Prozesse laufen derzeit in Berlin und München an. Schadenersatzprozesse,
wie sie in den USA üblich sind, mitunter mit Erfolg, wären
auch in der BRD wünschenswert. Beispiele: Marylin Rice (Arlington,
Virginia) klagt auf 150 Millionen $ Schadenersatz wegen Elektroschock-bedingter
Gedächtnisstörungen. Schadenersatzzahlungen wegen neuroleptikabedingter
tardiver Dyskinesie (irreversibler veitstanzartiger Muskelstörungen)
in Millionenhöhe gab es in den USA auch schon (4). Erst am
12.6.1989 wurde die 18. erfolgreiche Klage wegen tardiver Dyskinesie
entschieden, wonach James M. Angliss (Tacoma, Washington State)
600.000 $ und seine Mutter wegen der damit verbundenen emotionalen
Belastung 60.000 $ zugesprochen bekamen (5). Probleme der Übertragbarkeit
sind das unterschiedliche Rechtssystem, möglicherweise zu
wenige kompetente AnwältInnen, fehlende Unterstützung
von seiten kompetenter MedizinerInnen oder PsychiaterInnen, wie
in den USA beispielsweise von Peter Breggin, sowie die katastrophale
finanzielle Unterbewertung körperlicher Gesundheit von seiten
der Justiz.
Akteneinsicht
Zur Frage der Akteneinsicht entschieden die Gerichte kontrovers,
ein generelles Recht auf Akteneinsicht für Psychiatriebetroffene
gibt es noch nicht (6). Mit optimistischer Herangehensweise lässt
sich allerdings eine Tendenz ausmachen hin zur Stärkung von
Betroffenenrechten; diese schlug sich zuletzt nieder in einem
Urteil des Bundesverwaltungsgerichts (7), das einem ehemals zwangsuntergebrachten
Mann das Recht zugesteht, sich einen Rückfall zu holen, wenn
er durch die Akteneinsicht die Gründe für seine Zwangseinweisung
erfährt.
Ombuds-Frauen und -Männer
Ombuds-Frauen und -Männer sind ebenfalls ein immer wiederkehrendes
Thema in der Debatte. In Berlin tritt seine männliche Version
bereits im September 1983 im Rahmen der Debatte um die Reform
des sogenannten Psychisch-Kranken-Gesetzes in Erscheinung (8).
In den aktuellen erwähnten Berliner Koalitionsvereinbarungen
sind die Ombudsmenschen erneut angekündigt; die Frage, wer
sie einsetzt, wird nicht behandelt (9). Mit entsprechenden Rechten
und finanziellen Möglichkeiten ausgestattet, hat zum Beispiel
das Gremium der Ombudsfrauen und -männer von New York State
gute Möglichkeiten, psychiatrische Verbrechen öffentlich
zu machen (siehe deren Zeitschrift Quality of Care), zumindest
Sand im Getriebe des psychiatrischen Machtapparates zu sein
vorausgesetzt, dass weder PsychiaterInnen noch diejenigen Instanzen
für die personelle Besetzung der Stelle(n) zuständig
sind, die auf der gesetzgeberischen Seite für den Erhalt
des rechtsfreien Raums der Psychiatrie sorgen.
b) Zwangsbehandlung und Psychiatrisches Testament (10) Gesetzesreformversuche
gingen von der AL Berlin aus (11); der eigene PsychKG-Entwurf
von 1984, der von der CDU-FDP-Mehrheit abgelehnt wurde, sah u.a.
ein Verbot von Zwangsbehandlung vor, von operativen Eingriffen
und von Elektroschocks; gemäß der sogenannten starken
Version von Szasz' Psychiatrischem Testament war an eine Zwangsbehandlung
nur noch gedacht für den Fall, dass die Betroffenen dies
vorher (d.h. vor der Psychiatrisierung) ausdrücklich gewünscht
hatten und akut zu einer Äußerung des natürlichen
Willens als unfähig galten (§ 28). Das stattdessen mit
den Stimmen von CDU, FDP und SPD beschlossene PsychKG (»Gesetz
für psychisch Kranke«, veröffentlicht im Gesetz-
und Verordnungsblatt Nr. 17, S. 586ff. vom 20.3.1985) lässt
eine Zwangsbehandlung dann zu, wenn 1. die PsychiaterInnen nicht
weiter warten wollen (»können«), 2. die (in der
Regel zwangsweise verpassten) Gebrechlichkeitspfleger einwilligen,
3. die Behandlung die Persönlichkeit nicht in ihrem Kernbereich
ändern würde (§ 30). Dass die Behandlung mit Elektroschocks
in einer künstlichen Auslösung von epileptischen Anfällen
besteht und dadurch zur Zerstörung von Hirnsubstanz und unter
anderem zu schweren Gedächtnisstörungen beiträgt,
somit wiederum zur fundamentalen Persönlichkeitsveränderung
führen kann, stört kaum eine/n machthabende/n RichterIn,
StaatsanwältIn oder PolitikerIn. Auch die unter Neuroleptikabehandlung
mögliche Persönlichkeitsveränderung, die PsychiaterInnen
mit dem Syndrom der gebrochenen Feder (Helmchen) oder mit tardiver
Demenz (im Laufe der Behandlung entstehenden Verblödung)
(Breggin) umschreiben, hat mitnichten die Beachtung von §
30 PsychKG zur Folge.
Auf dem letztjährigen Vormundschaftsgerichtstag stellte
sich heraus, dass das Berliner PsychKG im Vergleich zu den anderen
Landesunterbringungsgesetzen das relativ am wenigsten unerträgliche
ist. Gleichzeitig wurde für das neue Betreuungsgesetz
gefordert: Gültigkeit von Vorausverfügungen (sogenannte
schwache Version des Psychiatrischen Testaments); Psychiatrisch
Untergebrachte sollen rechtlich nicht mehr schlechter gestellt
sein als StraftäterInnen; Zwangsbehandlung nur für akut
lebensbedrohliche Krankheiten, die nichts mit der Unterbringung
zu tun haben; die Untergebrachten gelten so lange als gesund,
bis ihre behauptete psychische Krankheit nachgewiesen ist (Gesundheitsvermutung
analog der Unschuldsvermutung im Strafrecht); keine Zwangsbehandlung
vor dem Unterbringungstermin. Justizminister Engelhardt (Bonn,
FDP) hat aufgrund dieser Empfehlung tatsächlich eine
wenn auch propsychiatrische Formulierung ins Betreuungsgesetz
eingebaut, ungefähr so: »Vorausverfügungen werden
berücksichtigt, sofern sie dem Wohl der Betreuten dienen.«
Diese Version des Psychiatrischen Testaments ist als die läppische
Version zu bezeichnen: aufgrund der Tatsache, dass derzeit noch
die psychiatrischen ExpertInnen die Definitionsgewalt über
das »Wohl der Betroffenen« besitzen.
Interessant in diesem Zusammenhang ist ein aktuelles Urteil
aus den USA (12); das California Supreme Court entschied am 22.6.1989
in vierter und höchster Instanz, dass Menschen, die für
3 bis 14 Tage zwangsuntergebracht sind, in Nicht-Notfall-Situationen
ohne informierte Zustimmung nicht mit antipsychotischen Medikamenten
behandelt werden dürfen (13). Einen Notfall sah das Gericht
nur für den Fall als gegeben an, wenn eine plötzliche,
merkliche Veränderung in der Verfassung der Betroffenen einträte,
so dass sofort Handlungsbedarf bestehe für die Lebenserhaltung
sowie für die Verhütung schweren körperlichen Schadens
für die Betroffenen und für andere.
In den neuen Koalitionsvereinbarungen SPD/AL in Berlin wurde
nun der Wille festgehalten, das Psychiatrische Testament ins PsychKG
zu integrieren, wobei allerdings noch nicht einmal festgelegt
wurde, ob an die schwache oder starke Version gedacht wurde. Konkrete
Maßnahmen zu diesem Schritt wurden noch nicht eingeleitet.
Es zeichnet sich allerdings ab, dass das Psychiatrische Testament
ein erfolgversprechender Ansatz gegen Zwangsbehandlung ist; die
Berliner Erfahrungen, das heißt ca. acht Anwendungen des
Psychiatrischen Testaments in 2 Jahren hatten zur Folge: kein
Verstoß der PsychiaterInnen dagegen bei klarer Haltung der
Betroffenen und Unterstützung von Anwalt/AnwältIn; nachfolgende
rasche Entlassung aus der Anstalt selbst bei längerfristigen
Zwangsunterbringungs-Zeiträumen.
Es bestehen also vier Möglichkeiten, die Rechte der Betroffenen
zu stärken:
-
Absicherung des Psychiatrischen Testaments (ohne Wenn und
Aber), schwache oder starke Version
-
Sicherstellung der Akteneinsicht (ohne Wenn und Aber)
-
Schaffung von psychiatrieunabhängigen Ombudsmenschen
mit Recht auf Akteneinsicht, Publikationsmöglichkeiten
und finanzieller Absicherung
-
Zulassung von Zwangsbehandlung nur für den Fall nachzuweisender,
von der Notwendigkeit her überprüfbarer Lebensrettung
entsprechend der Forderung und Formulierung des Vormundschaftsgerichtstages.
Alle vier Punkte, rechtlich abgesichert, würden auch die
Ausgangsbedingungen für Schadenersatzklagen und ggf. Strafanträge
gegen PsychiaterInnen wesentlich verbessern, vermutlich der einzige
Weg zur Veränderung der jetzigen Situation.
2. Behandlungsspezialitäten
a) Elektroschock
Auf einer primär politischen Ebene fand am 2.11.1982 in
Berkeley / Kalifornien eine Volksabstimmung statt, auf der 61
% der Abstimmenden (= 26.000 Menschen) mit Ja dafür stimmten,
dass der Vollzug des Elektroschocks ein Straftatbestand, und zwar
ein Vergehen darstellen solle, das mit Gefängnis bis zu sechs
Monaten sowie 500 Dollar Geldstrafe zu ahnden sei. Dieser Abstimmung
in einer traditionell kritischen Universitätsstadt war eine
mustergültige Öffentlichkeitsarbeit vorausgegangen,
die in den Hearings mit Peter Breggin (Psychiater), John Friedberg
(Neurologe), Leonard Roy Frank (Elektroschock-Überlebender),
David Richman (Arzt), Ted Chabasinski (Jurist) und anderen gipfelten.
Alles über diesen einmaligen Vorgang ist abgedruckt in der
Zeitschrift Madness Network News (14). Leider wurde dieser Volksentscheid,
wie Jenny Miller später (15) mitteilt, per Gericht aufgehoben,
und zwar gerüchteweise mit dem Argument, dass einem (zu Klagezwecken
von PsychiaterInnen vorgeschobenen) Patienten dieses bewährte
und von der Arzneimittelbehörde zugelassene Behandlungsmittel
nicht vorenthalten werden dürfe. Trotz massiven Drucks der
ElektroschockgegnerInnen Berkeleys verzichtete das Stadtparlament
darauf, gerichtlich für die Aufrechterhaltung des Volksentscheids
zu kämpfen.
Ein erneuter Versuch, den Elektroschock verbieten zu lassen, schlug
1985 in Toronto / Kanada fehl, nachdem es zuerst Elektroschock-GegnerInnen
im Umfeld der ortsansässigen antipsychiatrischen Zeitschrift
Phoenix Rising gelungen war, die Errichtung einer ExpertInnenkommission
durchzusetzen, die die Verbotsforderung prüfen solle. Ergebnis
war schließlich ein 200-seitiger Report, in dem die ExpertInnen,
hauptsächlich MedizinerInnen und PsychiaterInnen, dem Elektroschock
zubilligten, eine medizinische Behandlung darzustellen, von der
solche Menschen profitieren könnten, die unter bestimmten
psychischen Störungen litten und bei denen keine andere Behandlung
helfe. Voraussetzung für den Vollzug des Elektroschocks seien
ein high-tech-Standard, eine freie Zustimmung (hilfsweise die
Zustimmung eines unparteiischen Tribunals, gegen dessen Entscheidung
auch das Gericht anzurufen sei) und eine standardisierte Aufklärung
über das Elektroschock-Verfahren seitens der Anstalt (16).
Über den Widerstand gegen Elektroschocks in der BRD ist
wenig bekannt, wahrscheinlich gibt es auch wenig zu berichten.
Einer der wenigen standhaften GegnerInnen ist Erwin Pape. Seine
Aktion, die DDR-Neurologin Helma Sommer für die Verleihung
des Nobelpreises vorzuschlagen, fand keine Unterstützung,
nicht zuletzt wegen des Einspruchs der TierversuchsgegnerInnen.
Helma Sommer hatte Katzen elektrogeschockt, hinterher deren Gehirne
zerlegt und fachintern über die vorgefundenen, massiven Schäden
publiziert (17). Vor ca. 12 Jahren weigerten sich im Berliner
Westend-Krankenhaus eine Reihe von AnästhesistInnen, durch
ihre Mithilfe zum Vollzug des ihrer Meinung nach unethischen Elektroschocks
beizutragen. Sie wurden diszipliniert und verließen nach
und nach Westberlin bzw. verschwanden in der Versenkung. In der
BRD scheint einzig Hessen eine Sonderstellung einzunehmen: Die
im Anstaltsträger, dem Landeswohlfahrtsverband Hessen, organisierten
Anstaltsdirektoren besprachen ca. 1970 bis 1972 bei einer Zusammenkunft,
wegen der notwendigen komplizierten Anästhesiemaßnahmen
die Elektroschock-KandidatInnen zwecks Vollzug in Uni-Anstalten verlegen
zu lassen, was seitdem auch getan wird, jedoch eine wenigstens
minimale verwaltungstechnische Hürde für außerhalb
von Uni-Anstalten angestellte schockwütige PsychiaterInnen
darstellt. Dass verwaltungstechnische Maßnahmen sehr wohl
gegen Elektroschocks wirken können, zeigt die Praxis im US-Bundesstaat
Alabama: Ein Bundesgericht hatte 1973 im Fall Wyatt gegen Stickney
entschieden, dass der Elektroschock eine außergewöhnliche
und riskante Behandlungsmaßnahme darstelle, die nur vollzogen
werden dürfe, wenn zugestimmt hätten: 1. die aufgeklärten
PatientInnen, 2. der bzw. die (die Indikation stellende) PsychiaterIn,
3. ein/e weitere/r PsychiaterIn, 4. der (sogenannte) Medizinische
Direktor der Anstalt und ein Extraordinary Treatment Committee,
welches durch das Gericht eingesetzt wird. Dieses Komitee wird
gebildet durch 5. eine/n vierte/n PsychiaterIn, 6. eine/n NeurologIn
und 7. eine/n AnwältIn. Weiterhin ist 8. noch ein/e AnwältIn
beteiligt, die die Betroffenen vertritt. Bei angenommener Urteilsunfähigkeit
der Betroffenen, die nicht rechtsgültig der Behandlung zustimmen
könnten, ist der Elektroschock nur nach Gerichtsurteil möglich.
Die Schweizer Psychiaterin Cécile Ernst schreibt über
die Alabama-Praxis, dass »diese geradezu absurde Komplikation
der Behandlung« dazu geführt habe, dass vom Elektroschock
in Alabama seit dem Gerichtsentscheid kein Gebrauch mehr gemacht
worden sei (18).
Es müsste geklärt sein, wie derzeit bei einer
Renaissance des Elektroschocks ein Schutz am wirksamsten erfolgen
kann.
Offene Fragen:
-
Soll die Hauptargumentation gegen den Elektroschock als solchen
oder aber gegen dessen zwangsweise Verabreichung erfolgen?
(In New York City beispielsweise lassen sich viele Frauen
fortgeschrittenen Alters freiwillig ambulant schocken.)
-
Ist es ratsam, machbar, vertretbar, sich nicht mehr prinzipiell
gegen den Elektroschock auszusprechen, sondern ihn unter bestimmten
Bedingungen zuzulassen, zum Beispiel nur noch
-
bei nachgewiesener febriler (fiebriger) oder perniziöser
(gefährlicher) Katatonie? Diese ist allerdings differentialdiagnostisch
kaum unterscheidbar vom Neuroleptischen Malignen Syndrom
einem Symptomenkomplex, der als Folge der Neuroleptikabehandlung
in Erscheinung tritt mit starkem Fieberanfall, Muskelstarre,
Reglosigkeit, Stumpfsinn, Instabilität des vegetativen
Systems wie z.B. Blutdruckschwankungen, Herzjagen, Herzrhythmusstörungen
(19; 20) sowie
-
nach Zustimmung einer komplizierten Regelung nach dem
Alabama-Vorbild?
-
Gibt es die febrile (perniziöse) Katatonie überhaupt
(noch)? Gibt es andere Behandlungsmöglichkeiten? (Laut
psychiatrischer Literatur taucht sie durchaus noch auf, wenn
auch extrem selten. wird diese febrile Katatonie differentialdiagnostisch
richtig erkannt, gibt es offenbar ausreichende schulmedizinische
internistische Behandlungsmöglichkeiten (siehe die beiden
obengenannten Artikel), allen voran die Gabe des Spasmolytikums
(krampflösenden Mittels) Dantrolen, verbunden mit der
Zufuhr von Elektrolyten und evtl. einer minimalen Dosis eines
niederpotenten Neuroleptikums, vergleichbar deren Anwendung
im Bereich der Anästhesie.)
-
Ist eine Mitarbeit in Zustimmungskommissionen schändlich
(möglicherweise muss gelegentlich zugestimmt werden,
zum Beispiel wenn die Betroffenen es tatsächlich wollen,
zum Beispiel bei langanhaltenden unerträglichen Depressionen,
die durch das Tätigwerden von Psychiatern im allgemeinen
nicht gerade geringer werden)? Oder ist eine Mitarbeit erstrebenswert,
um Schlimmeres zu verhüten?
-
Wie lösen wir den Konflikt zwischen fundamentaler Ablehnung
des Elektroschocks und gegebenenfalls öffentlich zu vertretender
(Schein-) Zugeständnisse zur Definition (und damit
Einschränkung) der Vollzugsmöglichkeit?
-
Ist es sinnvoll, auf Einsetzung einer ExpertInnenkommission
zur Prüfung der Verbotsforderung plädieren, wenn
der ExpertInnenstatus von Psychiatern und von solchen PolitikerInnen
bestimmt wird, die bisher den rechtsfreien Raum der Psychiatrie
absichern helfen?
-
Wo kriegen wir die notwendige Menge an Leuten, Energie,
Fachwissen, Zeit und Geld her, um ein ähnliches massives
Engagement wie die Berkeley-Leute aufzubringen vorausgesetzt,
die Strategie ist juristisch sinnvoll, per Parlamentsbeschluss
ein Elektroschock-Verbot herbeizuführen?
-
Außerdem: Weder der Insulin-Schock ist passé
noch die Lobotomie; wie verfahren wir mit diesen Schändlichkeiten?
Wie reagieren wir auf die Versuche von Sozialpsychiatern,
biochemische Parameter für das Vorliegen einer psychischen
Abweichung von der Norm auszumachen und diese gentechnologisch
auch präventiv, bevor die psychische Krankheit
ausgebrochen ist auszumerzen?
b) Neuroleptika
Auf Einladung der Psychosozialen Arbeitsgemeinschaft Schöneberg
und des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbands trat im
Oktober 1988 der schwedische Mediziner Lars Martensson auf einem
Regionalkongress auf und sprach sich für das generelle Verbot
von Neuroleptika aus. Diese Forderung hatte er bereits 1985 in
Kopenhagen erhoben. Seit Ende letzten Jahres stellen Grüne
Bezirksverordnete in diversen Münchner Bezirken Anträge
auf Verbot von hochpotenten und von Depotneuroleptika. (Die Potenz
eines Neuroleptikums bezieht sich bekanntlich auf dessen relative
Stärke, den Muskelapparat zu schädigen. Von der neuroleptischen
Potenz unberührt haben auch die niederpotenten Neuroleptika
eine starke abhängig machende Wirkung sowie nicht minder
schädliche Auswirkungen auf das vegetative System.) Abgesehen
davon, dass die Verbotsanträge in den Bezirksparlamenten
abgelehnt wurden, so ist vor der Weiterführung dieser Praxis
ein Argument zu überprüfen, das häufig von (in
aller Regel in Sachen Recht und Gesetze nicht gerade kompetenten)
PsychiaterInnen kam, die ebenfalls nach ihrer Meinung gefragt
wurden: Diese Parlamente wären gar nicht befugt, ein von
Bundesgesundheitsamt zugelassenes Mittel zu verbieten. Da sich
der Verbotsantrag jedoch grundsätzlich eignet, das Thema
Neuroleptikaschäden überhaupt in die öffentliche
Diskussion zu bringen, schließen sich inzwischen andere
Grüne und Alternative Gruppen dieser Strategie an.
Aufgrund der (durch die behandlungsbedingten Rezeptorenveränderungen
vor allem körperlich) abhängig machenden Wirkung der
Neuroleptika ist vor einem Verbotsantrag auszudiskutieren, ob
es inzwischen von hochpotenten Neuroleptika abhängig
gemachte LangzeitpatientInnen gibt, die für den Rest ihres
Lebens auf eine Zufuhr ihrer speziellen neuroleptischen Gifte
angewiesen sind, da der Stoffwechsel auf einen Entzug mit andauerndem
Irrsinn (exogener Natur) reagieren könnte oder im einzelnen
Fall durchaus tut. Wenn ja, so hieße das, dass sich die
Hauptargumentation vor allem gegen die (erfahrungsgemäß
Weichen in Richtung Drehtürpsychiatrie stellende) Erstbehandlung
mit diesen Neuroleptika erfolgen müsste.
In den Berliner Koalitionsvereinbarungen ist von einer Expertenkommission
die Rede, die die Voraussetzungen überprüfen soll, ob
ein Verbot von Neuroleptika zu erlassen sei. Aufgrund der bei
Depotneuroleptika sicher eintretenden Langzeitschäden (Leberschäden,
tardive Dyskinesie) ist diese Forderung problemlos zu begründen.
Wie es möglich wird, dass in der Kommission tatsächliche
ExpertInnen sitzen, ist unklar. Es gibt GegnerInnen und BefürworterInnen
von Depotneuroleptika sowohl unter Betroffenen und MedizinerInnen
als auch unter PsychiaterInnen. Kritische VertreterInnen der beiden
letztgenannten Gruppen haben quantitativ selten den Mut, öffentlich
Stellung zu beziehen. Es stellt sich die Frage, welche Kriterien
an den ExpertInnenstatus zu stellen sind: Sprechen wir ausschließlich
Betroffenen der ExpertInnenstatus zu, so gibt es sicher einige
(unter dem Einfluss von Depotneuroleptika stehende), die sich
gerne aus was für Motiven auch immer für
die Weiterverabreichung von Depotneuroleptika aussprechen. Kommt
es zu einer ExpertInnenentscheidung, bei der sich die ExpertInnen
maßgeblich aus den Reihen der Anstalts- und Gemeindepsychiatrie
sowie deren MitläuferInnen rekrutieren, wird das Ergebnis
ähnlich wie bei der Elektroschock-Kommission in Toronto ausfallen.
Nicht zuletzt die Gemeindepsychiatrie ist ohne die Verwendung
von Depotneuroleptika undenkbar. Denkbar soweit finanzierbar
wäre allerdings ein Hearing mit VertreterInnen der
deutschen und europäischen Antipsychiatriebewegung, als öffentlichkeitswirksames
Mittel, ansatzweise ein kritisches Bewusstsein größerer
Teile der Bevölkerung herzustellen. Soweit jedoch
was vorhersehbar ist gegen ein Verbot von Depotneuroleptika
entschieden wird: was soll dann noch gefordert werden?
Aufgrund der massiven Vergabe von psychiatrische Psychopharmaka
(Tranquilizer, Antidepressiva, Lithium und Neuroleptika) durch
normale MedizinerInnen (Praktische ÄrztInnen, KinderärztInnen,
ÄrztInnen in Altenheimen usw.) tritt oft die Forderung auf,
nur noch FachärztInnen, womit PsychiaterInnen gemeint sind,
sollten diese Mittel verschreiben dürfen. Dem steht gegenüber,
dass deren Berufsausbildung und -ausübung grundsätzlich
in Frage zu stellen ist: Soziale und psychische Probleme sind
nun einmal nicht mit (pseudo-)medizinischen Mitteln zu lösen,
jedenfalls nicht im Sinne der Menschen, die sich Werten wie Selbständigkeit,
Selbstbestimmung, Kreativität, persönliches Wachstum,
Kritikfähigkeit, Einheit von Körper, Geist und Psyche
usw. verpflichtet fühlen (wollen). Außerdem ging der
inflationäre Gebrauch von psychiatrischen Psychopharmaka
gerade von PsychiaterInnen aus. Die entgegengesetzte Position
spricht nur noch echten, das heißt medizinischen FachärztInnen
das Recht auf Anwendung von (minimaldosierten schwachpotenten)
Neuroleptika zu, nämlich AnästhesistInnen und InternistInnen
zur Schmerzbetäubung sowie zur Stoffwechsel- und Körpertemperatur-Reduzierung
bei Operationen und lebensbedrohlichen Erkrankungen wie zum Beispiel
febriler Katatonie.
Offene Fragen:
-
Inwieweit ist es angemessen, sich in der Verbotsforderung
zu beschränken auf a) Depotneuroleptika, b) hochpotente
Neuroleptika, c) Erstbehandlung mit Neuroleptika?
-
Wie lässt sich die fundamentalistische Forderung nach
»Anwendung der Neuroleptika nur noch durch Nicht-PsychiaterInnen«
vereinbaren mit dem realpolitischen Wunsch, die Vergabe dieser
Mittel (und der anderen psychiatrischen Psychopharmaka) quantitativ
drastisch einzuschränken?
-
Inwieweit ist es einerseits moralisch gerechtfertigt, dass
die eigene Lebensmaxime, nämlich das Leben auch in Ausnahmesituationen
ohne psychiatrische Drogen gestalten zu wollen, Menschen mit
entgegengesetzter Meinung aufgezwungen wird? Gibt es andererseits
das uneingeschränkte Recht auf Selbstschädigung
(bezahlt von der Krankenkasse)? Wenn ja, wäre dann nicht
auch zu pochen auf das Recht auf Wiederzulassung von Contergan,
dessen Schwangerschaftsschäden sich im Prinzip nicht
unterscheiden von denen beispielsweise der Neuroleptika?
3. Beteiligung an politischen Entscheidungsprozessen
Immer wieder gab es bei der Frage, wer stellt die Basis dar,
die berechtigt ist, die Interessen der Psychiatriebetroffenen
zu artikulieren, eklatanten Streit. Zwar klingt die Formulierung
»Ich als Betroffene/r sage...« in einer Iatrokratie
(von ÄrztInnen beherrschten Gesellschaft) prinzipiell sympathischer
als das »Ich als Arzt...«, denn Erfahrung am eigenen
Leibe ist allemal glaubhafter als Multiple-Choice-Wissen. Andererseits
treiben selbst die schlimmsten Erfahrungen die absurdesten Blüten
der Verarbeitung hervor. Nur noch durch das Verständnis der
Funktionsweise von Gehirnwäsche oder durch die psychoanalytische
Sicht der Identifikation mit dem Aggressor lässt sich begreifen,
dass Menschen mit schlimmen psychiatrischen Erfahrungen (inkl.
Zwangsbehandlung, Elektroschock usw.) als Behandlung im wohlverstandenen
Interesse interpretieren. Ausnahmsweise sind im psychiatrischen
Apparat Beschäftigte aufzufinden, die sich in der individuellen
PsychiaterIn-PatientIn-Beziehung als (positive) Menschen erweisen.
Da es inzwischen auch noch eine Reihe von kritischen, zum Teil
sogar psychiatriebetroffenen MedizinerInnen und gar PsychiaterInnen
gibt, ist eine allgemeine Verwirrung entstanden, die vorhandene
Denkstereotypen ins Wanken gebracht und erstmals das Entstehen
einer offenen, kreativen Diskussionsbasis ermöglicht hat.
Schon in der Vergangenheit gab es Versuche antipsychiatrisch
orientierter Leute, die die Richtung der Antipsychiatriediskussion
programmatisch (mit) zu gestalten. Dies schlug sich u.a. nieder
1. in den beiden Antipsychiatrie-Abschnitten der Wahlprogramme
der Alternativen Liste (AL) Berlin von 1981 (21) und 1985 (22),
2. dem Kompromisspapier, das bei einem von Bundesgrünen und
AL veranstalteten Treffen zwischen anti- und sozialpsychiatrisch
orientierten Leuten im Dezember 1984 in Berlin zustande kam (23),
sowie 3. in der Mitwirkung bei der Diskussion zum Entwurf des
Betreuungsgesetzes (24).
Zu 1.: Beide Programme, jeweils Kompromisse, traten ein für
den vollständigen bzw. weitgehenden Ausstieg aus der Psychiatrie
als solcher, für die diagnosenunabhängige Gültigkeit
der Menschenrechte für Psychiatriebetroffene, für die
Verhinderung der totalitären Gemeindepsychiatrie, für
die Übernahme psychiatrischer TäterInnen nur nach Zustimmung
der Betroffenen und für den Entwurf eines (bombastischen)
Systems menschlicher Hilfeleistung, angefangen von Kommunikationszentren
mit therapeutischen Angeboten (auf freiwilliger Basis, ähnlich
dem KommRum Berlin, allerdings die Möglichkeit der Selbstverwaltung
offenlassend) über Ver-rücktenhäuser (mit dem Recht
auf psychopharmakafreie Hilfe) bis hin zu Krisenstationen in Krankenhäusern,
wo allerdings weder Akten noch Stigmatisierung durch Krankheitsbegriffe
noch Zwangsmittel noch PsychiaterInnen drohen; alles eingebettet
in die allgemeine Demokratisierung und Verbesserung der Lebensverhältnisse.
Zu 2.: Das Kompromisspapier zwischen Anti- und Sozialpsychiatrie
war etwas weicher als die obengenannten AL-Wahlprogrammteile,
aber immer noch recht fortschrittlich. Die Forderungen: Abschaffung
der Anstalten ohne Wenn und Aber; sofortiger Aufnahmestopp; Verbot
von Zwangsbehandlung, Psychopharmakaversuchen, Lobotomie, Zwangssterilisation,
Fixierung, Cardiazol-, Insulin- und Elektroschock-Vollzug; jährliche
Reduzierung der Gelder für die Anstalten und Umleitung der
Ersparnisse an alternative Hilfeformen; Verhinderung der Gemeindepsychiatrie
im Sinne der Psychiatrie-Enquête, keine Verdoppelung der
Psychiatrie durch ambulante psychiatrische Institutionen; keine
Weiterführung des Psychiatrie-Modellprogramms; soziale Unterstützungsmaßnahmen
wie Mindesteinkommen, Arbeitskooperativen, Schaffung von Wohnformen
aller Art, jedoch ohne Therapiezwang; Stärkung der Selbstorganisation.
Da sich in der Vergangenheit immer wieder auch VertreterInnen
sich fortschrittlich verstehender Parteien gerade von Basisteilen
mit wenig Einflussmöglichkeiten (wie zum Beispiel Psychiatriebetroffene,
deren Worte oft nichts gelten) abheben, schlug Trude Unruh von
den Grauen Panthern bei diesem Treffen vor, nach dem Vorbild der
Grauen Panther mit den Bundesgrünen einen Sprechervertrag
öffentlich-moralischer Natur anzuschließen, in welchem
sich die Fraktion der Grünen verpflichtet, die im Dezember
1984 ausgehandelten Forderungen für die parlamentarische
Praxis zu übernehmen. Das Kompromisspapier wurde von Wolfram
Pfreundschuh vom Türspalt (München) zum Sprechervertragsentwurf
verarbeitet, die Kritik interessierter Gruppierungen floss in
die Überarbeitung des Sprechervertragsentwurfs ein, wie er
nun seit 1986 im Anhang des »Chemischen Knebels« veröffentlicht
wurde (25). Es stellt sich nun die Frage, wie weiter mit diesem
Projekt verfahren wird: Besteht breites Interesse in der antipsychiatrischen
Bewegung, den Vertrag durchzusetzen? Mit wem, wo Trude Unruh kürzlich
aus der Grünen-Fraktion ausgeschlossen wurde? Gibt es in
der Grünen-Fraktion ein durchsetzungsfähiges antipsychiatrisches
Potenzial? Bisher bestimmen vor allem der Elektroschocklehrer
und Gemeindepsychiatrieapostel Klaus Dörner und seine MitläuferInnen
die dortige Position. Ein anderer einflussreicher Psychiater bei
den Grünen ist der Zwangsbehandlungsbefürworter Erich
Wulff: Selbst die Tatsache, dass die Jubel-(»Fest«)Schrift
zu seinem 60. Geburtstag von Pharmamultis wie Hoffmann-La Roche,
Sandoz und Ciba-Geigy finanziert wurde, treibt niemand die Schamröte
ins Gesicht, wenn ausgerechnet dieser nicht minder schreckliche
Psychiater grüne Positionen erarbeiten soll.
Zu 3.: Die nur formale Beteiligung antipsychiatrischer VertreterInnen
bei der Diskussion zum Betreuungsgesetzentwurf der Grünen
stellte die Frage in den Vordergrund, ob es überhaupt sinnvoll
ist, sich a) auf parteipolitisches Geplänkel einzulassen,
sich b) auf eine Partei zu konzentrieren, sich c) gar auf die
Grünen zu verlassen, die mit ihrem Gesetzentwurf den Betreuten
alle Möglichkeiten nehmen wollten, selbst über ihre
medizinische oder psychiatrische Behandlung zu bestimmen (24),
und einem kritischen Pochen auf das verfassungsmäßige
Recht auf Selbstbestimmung und körperliche Unversehrtheit
völlig verschlossen blieben. Kritik wird auch gegen eine
allzu große Annäherung an die AL Berlin laut, etwa
wenn es dort möglich ist, dass eine psychiatriehörige
Krankenschwester wie Frau Schwarzenau Gesundheitsstadträtin
werden kann, dass die Irren-Offensive als starke, langjährig
tätige Selbsthilfe-Organsiation nicht zur Vorbereitung der
Koalitionsverhandlungen eingeladen wird, dass das Kurzwahlprogramm
zur Wahl 1989 nicht eine einzige Aussage zur Psychiatriepolitik
enthält.
Offene Fragen:
Können scheinprogressive SozialpsychiaterInnen erfolgreich
von ihren Machtpositionen in grün-alternativen Parteien verdrängt
werden? Ist es angesichts beschränkter Energievorräte
sinnvoll, sich nicht in parteipolitischem Kampf zu verschleißen?
Besteht die Gefahr, dass eine allzu starke parteipolitische Orientierung
die Antipsychiatriebewegung zersplittert? Ist es möglich,
durch evtl. handstreichartige Powerpolitik auf Dauer an Einfluss
zu gewinnen?
Welche anderen Gremien, Parteien, Organisationen bieten sich
als erfolgversprechende Einflussgebiete für die Antipsychiatriebewegung
an? Gibt es in irgendeiner Form eine Einflussmöglichkeit
auf die vollständig von SozialpsychiaterInnen dominierte
SPD? Lohnt es sich, über den Rest der Parteien nachzudenken?
Gibt es bündnispolitische Potenziale unter den im psychiatrischen
Machtapparat Tätigen, die das Treiben ihrer KollegInnenschaft
missbilligen und die öffentlich dagegen auftreten? Sind einzelne
Personen bekannt, die schon einmal bei Veranstaltungen das Kastendenken
durchbrochen und sich offen über die politische Seite des
verhängnisvollen psychiatrischen Machtanspruchs ausgesprochen
haben?
4. Öffentlichkeitsarbeit
Selbstbestimmte Öffentlichkeitsarbeit zur Psychiatriefrage
kann stattfinden durch Zeitschriften, Bücher, einzelne Artikel,
Vorträge auf Kongressen, aufsehenerregende politische Aktionen,
öffentlichkeitswirksame parlamentarische Aktivitäten
wie z.B. Anfragen und Anträge.
An antipsychiatrischen Zeitschriften gibt es im deutschen Sprachraum
derzeit nur noch die Irren-Offensive, nachdem der Türspalt
sein Erscheinen eingestellt und die Zeitschrift zur Antipsychiatrie
(als Beiblatt) sich nicht gehalten haben; die Unbequemen Nachrichten
der Beschwerdezentren sind schon lange nicht mehr gesichtet worden.
Der Versuch des schweizerischen sozialpsychiatrischen Blattes
Pro Mente Sana Aktuell, auch Gegenpositionen zu Wort kommen zu
lassen (26), wird derzeit erwartungsgemäß von den GeldgeberInnen,
nämlich Anstalts- und SozialpsychiaterInnen, abgewürgt.
Bei tatsächlich zeitweise offen verlaufenden Diskussionen
wie etwa zur Psychiatrie- und speziell Neuroleptika-Frage in der
Schweizer Wochenzeitung (27) oder nachfolgend zum Thema tardive
Dyskinesie in Dr. med. Mabuse (28) greifen immer nur wenige antipsychiatrisch
eingestellte Menschen ein, zudem meist dieselben. An antipsychiatrischen
Büchern, die im deutschsprachigen Raum erschienen sind und
sich kritisch mit der Behandlungspraxis auseinandersetzen, gibt
es derzeit gerade drei: »Chemie für die Seele«
(29), »Der chemische Knebel« (30) und »Irrsinn
Psychiatrie« (31). Als Übersetzung passt in diese Reihe
noch Breggins »Elektroschock ist keine Therapie« (32).
Einzelne Beiträge in normale Zeitschriften oder in andere
Medien hineinzubringen ist äußerst schwierig, da deren
Redaktionen durchsetzt sind von MitläuferInnen der biologisch
orientierten Sozialpsychiatrie. Gibt es Freiräume, wie dies
vor Jahren beispielsweise beim SFB der Fall war, treten sofort
MitläuferInnen der Sozialpsychiatrie auf den Plan wie z.B.
Heidrun Schmidt und setzen die weitgehende Gleichschaltung der
Berichterstattung durch. Manche Zeitungen wie beispielsweise die
Tageszeitung sind so fest in der Hand einzelner Sozialpsychiatrie-Anhänger
(hier: Hartung), dass kritische, fundamentalistische Berichte
von vornherein unmöglich oder nur mit Taktiererei (Warten
auf Krankheiten oder urlaubsbedingte Abwesenheit) denkbar sind.
Öffentlichkeitsarbeit durch Teilnahme auf Kongressen setzt
zumeist Verbindungen zu den Veranstaltenden voraus; nur selten
kommt es zu Einladungen von VertreterInnen der Antipsychiatrie.
Die etwas zunehmende Teilnahme an Kongressen der DGSP kann als
Erstarkung der eigenen Position gewertet werden, birgt allerdings
die Gefahr a) der Vereinnahmung oder b) zumindest der Aufwertung
dieser Interessenorganisation psychiatrischer TäterInnen,
sofern nicht eine klare öffentliche Abgrenzung erfolgt.
Aufsehende politische Aktionen lassen sich nicht beliebig aus
dem Ärmel schütteln, schon gar nicht ohne die
auch quantitativ notwendige personelle Unterstützung.
Kulturellen Aktionen, die antipsychiatrische Inhalte vermitteln,
mangelt es meist an tatkräftigen interessierten Menschen.
Denkbar wäre vieles: Ausstellungen von Kunstwerken ehemals
psychiatrisierter Menschen, Ausstellung Nie wieder Psychiatrie!
(ähnlich Nie wieder Krieg!, Laientheater, antipsychiatrische
Filmreihen (ist in Berlin geplant für den November 1989).
Nötig wäre eine zentrale Koordination, auch als Sammelstelle
für überall individuell vorhandene Potenziale.
Offene Fragen:
Wie kann es gelingen, gezielter, umfangreicher, mit mehr Absprache
und mit relativ geringem Aufwand mehr Einfluss in den Medien zu
erreichen? Ist möglicherweise die Irren-Offensive (als letztes
noch bestehendes Organ) geeignet für eine deutsche (oder
gar deutschsprachige) Antipsychiatriebewegung? Wie kann der Kommunikationsfluss
unter antipsychiatrischen Menschen und Gruppen verbessert werden?
Ist eine Institutionalisierung, d.h. vor allem mehr Koordination
wünschenswert und machbar?
5. Alternative Einrichtungen
a) Selbstorganisation
Psychiatriekritik zieht immer die Frage nach sich, welche Alternativen
möglich sind. Es gibt tatsächlich Menschen, die psychosoziale
Hilfe wollen, evtl. auch brauchen. Zur Selbstorganisation (wie
zum Beispiel die Sozialistische Selbsthilfe Köln oder die
Irren-Offensive) sind viele nicht willens / in der Lage. Alternativen
wurden in der Vergangenheit immer wieder erprobt oder gefordert
(siehe die Berichte von Judi Chamberlin (33). Leider liegt von
dem 247-seitigen Buch nur die Hälfte übersetzt vor,
wobei das Manuskript der Übersetzung stark überarbeitungsbedürftig
ist. Die Selbstorganisationsform der Irren-Offensive ist möglicherweise
zu sehr abhängig von Berlin als Großstadt mit seinen
vielen Nischen sowie vom ausreichenden Vorhandensein von Menschen,
die gruppenfähig sind und von der Psychiatrie noch nicht
zerbrochen wurden. Auch die fortschreitende sozialpsychiatrische
Indoktrinierung unterbindet jede potentielle Entwicklung vom anfänglichen
Patientenclub hin zur antipsychiatrischen Selbstorganisation;
Grund: das Sich-Ausliefern an Fachleute und ihre psychiatrischen
Psychopharmaka gerade in krisengefährdeten Entwicklungszuständen,
wo der einzelne Mensch ein funktionierendes Limbisches System
bräuchte sowie kritischen Beistand gegen die normale (zwanghaft
normierende) Umwelt, jedoch keine psychiatrische Abwertung als
psychisch krank.
Offene Fragen:
Nach nahezu 10 Jahren Irren-Offensive stellt sich die Frage,
ob das Warten auf eine Ausweitung von Selbstorganisation noch
berechtigt ist. Ist es nicht möglich oder gar erstrebenswert,
eine Organisationsform zu finden, die bereits bestehende Selbstorganisationen
vereinigt mit verstreuten EinzelkämpferInnen sowie mit antipsychiatrischen
Nicht-Betroffenen, bei Beibehaltung bestehender Selbstorganisationsformen
als notwendig vorhandene Fraktion in solch einem Verbund?
b) Alternative Hilfsformen
Als Alternativen wurden (jeweils nicht-psychiatrische) Ver-rücktenhäuser,
Weglaufhäuser, Krisenstationen, Kommunikations- und Therapiezentren
genannt. Von seiten der SozialwissenschaftlerInnen kommt hierbei
wenig Beistand, obwohl die genannten Alternativen doch mögliche
Arbeitsplätze bedeuteten. Vermutlich ist jedoch die Vorstellung,
nicht in führenden Positionen, sondern möglicherweise
als Dienstleistende für Betroffene arbeiten zu müssen,
für akademisch-autoritär geprägte Angehörige
dieser Berufsgruppen wenig attraktiv. Auf diese Tatsache wies
1986 Alf Trojan mit seinem Buch »Wissen ist Macht« (34)
hin; ein zutreffenderer Titel seines Buches wäre allerdings
gewesen: »Wir wollen uns weiter an den Krümeln der Machthaber
erfreuen«.
Offene Fragen:
Ist es denkbar, dass wir von antipsychiatrisch orientierten
Menschen und Gruppen angeführte Einrichtungen ähnlich
Soteria/Kalifornien (35) nicht Soteria/Bern! fordern,
in welchen von netten MedizinerInnen in Situationen, die für
das alternative Projekt oder das Leben einzelner Betroffener existenzbedrohend
sind, harmlosere psychiatrische Psychopharmaka wie zum Beispiel
Tranquilizer verabreicht werden können? Ist die Vorstellung
vom netten Mediziner und von der netten Medizinerin, die zur abhängigen
oder zumindest gleichberechtigten Mitarbeit fähig wären,
ein Trugschluss? Lässt sich die antipsychiatrische Ausrichtung
eines Projekts institutionalisieren, fördern, hin- oder gar
ausreichend absichern? An wem liegt es, die Initiative für
den Entwurf einer umfassenden Alternative zur Psychiatrie zu ergreifen?
Wer ist in der Lage, die realistischen Kosten für ein alternatives
Modell zu errechnen, in Abgrenzung zu den jetzigen Grundkosten
des psychiatrischen Apparates und den von diesem Apparat ausgehenden
verheerenden psychisch-sozialen und medizinischen Folgeschäden?
6. Kritik der Sozialpsychiatrie
Die Kritik an der Sozialpsychiatrie ist schon so alt, dass sie
hier nicht mehr als unbedingt notwendig nachvollzogen werden soll.
Der Hauptvorwurf besteht darin, dass ihr nicht an einer Befreiung
der Psychiatriebetroffenen gelegen ist, sondern an der umfassenden
präventiven und in gesellschaftlich großem Maßstab
vollzogenen Befriedung störender Elemente.
Diese Befriedung findet statt auf Grundlage der präventiven
bzw. dauerhaften Verabreichung von psychiatrischen Psychopharmaka,
wobei Dauerschäden wie Lebererkrankungen oder tardive Dyskinesien
billigend in Kauf genommen werden (4; 30; 36). Nicht von ungefähr,
allerdings die quälende Wirkung unterschätzend, glaubte
Aldous Huxley, im Neuroleptikaprototyp Chlorpromazin die Substanz
Soma zu erkennen, die die Menschen in seinem Zukunftsroman »Schöne
neue Welt« zur chemischen Befriedung aller starken Gefühle
und somit potentieller Störungen benutzt wird (37). Noch
nicht einmal die Tatsache, dass der Psychiater Dörner in
seinem Buch »Irren ist menschlich« den Vollzug des Elektroschocks
rechtfertigt und sogar noch lehrt, ist in irgendeiner Weise für
die Mitglieder der Deutschen Gesellschaft für Sozialpsychiatrie
(DGSP) störend, diesen Mann zu ihrem ideologischen Führer
zu machen (38).
Massenhaft werden störende und unbequeme BürgerInnen
sozialpsychiatrisch erfasst; im Berliner Bezirk Wilmersdorf sitzt
der Sozialpsychiatrische Dienst im Stichjahr 1989 beispielsweise
bereits auf einem Berg von 20.000 bis 30.000 Akten bei
einer Einwohnerzahl von 150.000 (39). Trotz verbaler An-Sprüche,
die Rechte und Interessen der Psychiatriebetroffenen zu unterstützen,
fallen SozialpsychiaterInnen immer dann Betroffenen in den Rücken,
wenn diese den Ausstieg aus der Psychiatrie betreiben wollen.
So bezeichnete der Berliner Sozialpsychiater Ferenc Jadi die in
der Irren-Offensive e.V. organisierten kritischen Psychiatriebetroffenen
deshalb öffentlich als inhuman, weil sie gemeinsam mit interessierten
Nicht-Betroffenen ein psychiaterfreies Weglaufhaus für Menschen
organisieren wollen, die vor der Behandlung mit Elektroschocks
und Neuroleptika davonlaufen (40).
Der Ausbau der reformpsychiatrischen gemeindenahen Ambulanzen
führt laut Nervenarzt, dem Organ der Deutschen Gesellschaft
für Psychiatrie und Nervenheilkunde (DGPN), zu einer höheren
Zwangseinweisungsrate (41). Dem ist nichts hinzuzufügen.
Offene Fragen:
Es gibt sicher Elemente unter der DGSP und der DGPN, die das
Treiben ihrer KollegInnenschaft auf das heftigste missbilligen,
ohne allerdings öffentlich dagegen aufzutreten. Oder gibt
es nicht doch einzelne Personen, die auf Psychiatrieveranstaltungen
das psychiatrische Kastengefühl durchbrochen und sich offen
über die politische Seite des psychiatrischen Machtanspruchs
und der prinzipiell menschenrechtsverletzenden Praxis der Anstalts-
und Gemeindepsychiatrie ausgesprochen haben? Können
wenn vorhanden solche kritischen Potenziale als BündnispartnerInnen
für eine Antipsychiatriebewegung gewonnen werden? Wie weit
können partielle Meinungsunterschiede ertragen werden?
Literatur