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des Antipsychiatrieverlags
Aktualisierte Überarbeitung der beiden im Original fast textgleichen
Artikel »Gemeindepsychiatrische Wirklichkeit. Kritik der modernen
Sozialpsychiatrie«, original in: Störfaktor Zeitschrift
kritischer Psychologinnen und Psychologen (Wien), 3. Jg. (1989),
Heft 9/10, Nr. 1, S. 6-18 / PDF;
und »Demokratische Psychiatrie oder Antipsychiatrie? Zur Lösung
der Psychiatrie-Frage«, in: Widerspruch Beiträge
zur sozialistischen Politik (Zürich), 9. Jg. (1989), Nr. 18,
S. 81-99 / PDF
Peter
Lehmann
Demokratische Psychiatrie oder Antipsychiatrie? Zur Lösung
der Psychiatrie-Frage
Aufgrund der extrem schädlichen Wirkung moderner psychiatrischer
Maßnahmen (Elektroschock; Neuropsychopharmaka, speziell
Neuroleptika) muss die Diskussion über neue Wege der Psychiatrie-Entwicklung
eine kritische Bestandsaufnahme sozialpsychiatrischer Reformversuche
leisten. Die psychiatrische Behandlung finde sie hinter
oder vor Anstaltsmauern statt widerspricht den Interessen
der Betroffenen und enthält echte menschliche Hilfeleistung
vor. Es ist zynisch, die Anwendung von Neuroleptika gegen DissidentInnen
in totalitären Ländern als Folter anzuprangern und dieselbe
Behandlung hierzulande als therapeutische Hilfe praktizieren zu
wollen.
Menschliche Hilfeleistung in psychischen und sozialen Notlagen
kann nicht mit (sozial-)psychiatrisch-medizinischen Maßnahmen
auf Grundlage entrechtender Eingriffe geleistet werden, sondern
nur in Form von psychischem und sozialem Beistand, basierend auf
einem uneingeschränkten Recht auf Psychopharmaka-freie Hilfe.
Menschen in Krisensituationen müssen darin unterstützt
werden, sich zusammenzuschließen und unter Berücksichtigung
des Selbstbestimmungsrecht in antipsychiatrischer Ausrichtung
ihre Interessen zur Lösung der Psychiatrie-Frage in die eigenen
Hände zu nehmen.
1. Interessen von Psychiatrie-BetroffenenDas zentrale
Interesse von Psychiatrie-Betroffenen ist die körperliche Unversehrtheit.
Sind auch andere Rechte wie z.B. das Recht auf Freiheit, auf freie Entfaltung
der Persönlichkeit usw. während psychiatrischer Anstaltsunterbringung
(oder Aufenthalt in Pflegeheimen) außer Kraft gesetzt, so steht doch das
genannte Recht auf körperliche Unversehrtheit im Vordergrund: Die moderne
psychiatrische Behandlung (Elektroschock; Neuropsychopharmaka, speziell Neuroleptika,
aber auch Antidepressiva und Lithium) zeigt sich bei näherer Betrachtung
als eine mit schweren Risiken für Gesundheit und Leben behaftete Körperverletzung;
psychiatrische Maßnahmen können zu bleibenden, mitunter tödlichen
Schäden führen. Auch wenn diese Schäden oft als Neben-Wirkungen
abgetan werden, so stellen sie für Psychiatrie-Betroffene doch die zentrale
Rechtsbeschneidung und Demütigung dar. Darüber hinaus heißt Psychopharmaka-
oder Elektroschock-Behandlung im Regelfall Vorenthaltung menschlich-unterstützender
und therapeutischer Maßnahmen. Wie wichtig das Selbstbestimmungsrecht
für Psychiatrie-Betroffene ist, zeigen die in den Medien regelmäßig
wiederkehrenden Berichte über Rechtsverstöße von psychiatrisch
Tätigen (richtiger: Psychiatrischen TäterInnen) und dem zugrunde liegenden
Gehorsam gegenüber vermeintlichen Autoritäten. So mussten beispielsweise
in Westberlin zehn psychisch kranke Frauen fortgeschrittenen Alters (formal illegale)
Tests über sich ergehen lassen, ob spezielle Tiermedikamente, die das Hundefell
seidig machen sollen, möglicherweise auch das menschliche Kurzzeitgedächtnis
auffrischen (»Berliner« 1988). Wegen Mordverdacht ermittelt die Staatsanwaltschaft
Bayerns gegen die Betreiber eines Altenheims in Garmisch-Partenkirchen, da drei
Rentnerinnen, die als Zeuginnen über Missstände im Heim aussagen
sollten, überraschend und unter mysteriösen Umständen starben;
bei einer Hausdurchsuchung fand die Polizei zwölf Säcke voller Medikamente
und Psychopharmaka (Dix 1989). Degkwitz, ehemals Präsident der Deutschen
Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenheilkunde, zeigt in seiner Untersuchung
über die faktischen Gründe für die Einlieferung in Psychiatrische
Anstalten, dass BürgerInnen schon wegen kleiner Auffälligkeiten, an
denen Instanzen der Obrigkeit Anstoß nehmen, zur Zwangsunterbringung durch
PolizistInnen und PsychiaterInnen führen können. Als augenfällige
Beispiele nennt Degkwitz aus seinem Aktenmaterial eine junge Frau, die den plötzlichen
Wunsch entwickelt, ihren Mitmenschen als große Tänzerin und nicht,
wie von ihren Eltern gewünscht, als kleine Friseuse Freude zu bringen, sowie
einen Studenten, der eine Stunde lang still und unbeweglich, in Gedanken versunken,
an einem Bach den Forellen zuschaut und den aus der nahen Kneipe herbeigelaufenen
Gästen verdächtigerweise keine Antwort gibt (Degkwitz 1986). In ihrem
Erfahrungsbericht schildert die Betroffene Hannah Trieper aus Berlin, wie sie
nach Problemen mit der Trennung von ihrem prügelnden Ehemann auf der Suche
nach einem Raum zum Erholen und Ausschlafen in die Anstalt gelangt, wo sie erneut
der Gewalt eines Mannes ausgesetzt ist: Der zuständige Psychiater der Aufnahmestation
zwingt Frau Trieper, sich nackt auszuziehen, erklärt ihr, er könne sie
nun innerhalb von 24 Stunden (bis zur vorläufigen Unterbringung durch das
Amtsgericht) nach Belieben behandeln, was er per Neuroleptika-Spritze denn auch
ausführt mit dem Ergebnis, dass die Patientin unter Magenkrämpfen
und Ohnmachtsanfällen zu leiden hat (Trieper 1987).
Je nach Vorliebe versuchen PsychiaterInnen immer wieder, ihren
KollegInnen Behandlungsformen schmackhaft zu machen, die von KritikerInnen
als barbarisch kritisiert werden. Da diese Methoden der sogenannten
klassischen Psychiatrie nie abgeschafft oder gar verboten wurden,
besteht permanent die Gefahr ihrer Wiederanwendung. So bemühen
sich derzeit Psychiater im baden-württembergischen Weinsberg
um ein Come-Back der Insulin-Schock-Behandlung (Heckel / Reimer
1986) einer Behandlung, die die Behandelten durch massive
Insulin-Zufuhr ins Koma führt, d.h. in den Zustand tiefster
Bewusstlosigkeit, was als ebenso therapeutisch gilt wie der
epileptische Anfall, der mit Elektroschocks, d.h. mit elektrischem
Strom ausgelöst wird. Der Sozialpsychiater Dörner beispielsweise
drohte am 5. Mai 1989 auf einer Tagung psychiatrischen Interessensverbandes
Mannheimer Kreis im München die verstärkte Anwendung
von Elektroschocks an für den Fall, dass politische Instanzen
seine Kollegenschaft beim Einsatz von Neuroleptika behindern würden
(Dörner 1989). Auch die Gefahr einer zwangsweisen operativen
Hirnverstümmelung (Leukotomie, Lobotomie) ist noch nicht
gebannt; so wird derzeit in Amsterdam (Niederlande) eine spezielle
Klein-Klinik für diese Form psychiatrischer Behandlung gebaut:
für sogenannte Therapie-resistente Schizophrene (Breggin
1988). Schließlich sind zwei psychiatrische Vorhaben zu
nennen, die schwere Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit
von Psychiatrie-Betroffenen darstellen, sollten sie Wirklichkeit
werden: Zum einen wollen Psychiater mit Implantaten (Einpflanzungen)
von Neuroleptika-Depots bei Männern in den Mastdarm,
bei Frauen in die Gebärmutter versuchen, die von ihnen
gewünschten Neuroleptika-Auswirkungen über den Zeitraum
von vielen Monaten unabhängig von dem Willen der Behandelten
zu garantieren (Lehmann 1986, S. 347f.). Zum anderen sollen mit
gentechnischen Methoden bestimmte messbare Komponenten, sogenannte
Marker, gefunden werden, die es PsychiaterInnen erlauben würde,
BürgerInnen mit »hohem Krankheitsrisiko zu identifizieren«
(und zu behandeln), sogar bevor die psychische Krankheit zum Vorschein
gekommen sei (Bondy u.a. 1988, S. 565). Nicht zuletzt das Milgram-Experiment
zeigt, wie leicht normale Menschen durch pseudo-wissenschaftliche
Autoritäten dazu gebracht werden können, in bedingungslosem
Gehorsam völlig unschuldige und wehrlose Menschen zu quälen
(Milgram 1974), wie fundamental also die Entwicklung eines Selbstbestimmungsrechts
für Psychiatrie-Betroffene zur Lösung der Psychiatrie-Frage
ist.
2. Gefährlichkeit psychiatrischer EingriffeÜber
die Gefährlichkeit psychiatrischer Maßnahmen wie Elektroschock und
sogenannter antipsychotischer Medikamente, der Neuroleptika, liegt mittlerweile
eine Reihe äußerst beunruhigender Literatur vor; MedizinerInnen, PsychiaterInnen
und Betroffene schreiben von schweren körperlichen, geistigen und psychischen
Folgeschäden sowohl des sogar in letzter Zeit vermehrt angewendeten
Elektroschocks als auch der Neuroleptika; mit diesen chemischen Mitteln
behandelt werden ca. 95 % der psychiatrisch Untergebrachten sowie in steigender
Zahl in Altenheimen Menschen mit störender und unbequemer Lebens- und Sinnesweise. Der
bereits erwähnte Dörner beschreibt die von ihm praktizierte moderne
psychiatrische Behandlung wie folgt: »Wir verwandeln den
seelisch leidenden vorübergehend in einen hirnorganisch kranken Menschen,
bei der EKT (Elektrokrampf-Therapie, P.L.) nur globaler, dafür kürzer
als bei der Pharmakotherapie.« (Dörner / Plog 1984, S. 537) Bei
der Kritik des Elektroschocks (wie auch bei der Kritik der Neuroleptika) ist in
Erinnerung zu behalten, dass die psychiatrische Diagnosen-Stellung sowohl von
Psychiatern selbst (Szasz 1982) als auch von Sozialwissenschaftlern (Rosenhan
1981; Sarbin / Mancuso 1982; Hill 1983) als willkürlich und unwissenschaftlich
kritisiert wird. Dörner, selbst den Elektroschock lehrend, gibt (unfreiwillig)
preis, dass sein Einsatz nicht von wissenschaftlich gesicherter Diagnosen-Stellung
abhängt, sondern von menschlich-therapeutischen Fähigkeiten und
somit auch Unfähigkeiten der AnwenderInnen; er bezeichnet eine mögliche
Indikation wie folgt: »bei sehr qualvoll erlebten akuten
schizophrenen oder depressiven Krisen, wenn ich als Therapeut unfähig zu
einer ausreichend wirksamen therapeutischen Beziehung und pharmakotherapeutischen
Hilfe bin.« (Dörner / Plog 1984, S. 538) Vor der hirnschädigenden
Wirkung des Elektroschocks warnen der amerikanische Neurologe John Friedberg (Friedberg
1976, 1977) und sein Landsmann, der Psychiater Peter r. Breggin (Breggin 1980).
Breggin stellt die Zerstörungen der Nervenzellen in den Mittelpunkt seiner
anschaulichen und leichtverständlichen Kritik; die Schäden kommen durch
die epileptischen (Grand mal-) Anfälle zustande, der Hauptwirkung der Stromstöße
gegen das Gehirn. Aber auch die psychischen und geistigen Folgeschäden bringt
Breggin eindrucksvoll in Erinnerung, wenn er etwa den (an die sogenannte Gehirnwäsche
erinnernden) therapeutischen Ansatz zweier Kollegen kritisiert, die im Kreise
ihrer Kollegenschaft das Prinzip eines erfolgreichen Elektroschocks exemplarisch
wie folgt offenbaren:
»Nach unserer Ansicht war die Regression des Patienten
ausreichend fortgeschritten, wenn er einnässte und einkotete
und sich wie ein vierjähriges Kind verhielt bzw. so sprach.
Diese Patienten waren verwirrt, konnten sich nicht um ihre persönlichen
Belange kümmern und nahmen ab, obwohl sie aßen
in einigen Fällen die übliche Menge. Häufig mussten
sie gefüttert werden ... Manchmal klingen die Verwirrtheitszustände
schnell wieder ab. Die Patienten verhalten sich dann, als wären
sie aus einem Traum erwacht. Ihr Gemüt wirkt wie ein unbeschriebenes
Blatt, auf dem wir nun schreiben können. Im allgemeinen sind
sie kooperativ und sehr leicht zu beeinflussen und damit offener
für Psychotherapie.« (zitiert nach Breggin 1980, S.
191)
Der Autor
dieses Artikels stellt in dem Buch »Der chemische Knebel Warum Psychiater
Neuroleptika verabreichen« psychiatrische Publikationen über die Neuroleptika-Behandlung
zusammen und sieht deren Wirkungsweise charakterisiert als (Lebensvorgänge
hemmende) Verringerung der Sauerstoffaufnahme des Hirngewebes, als künstliche
Herstellung einer Parkinsonkrankheit (aufgrund der Blockade des Dopamin-Stoffwechsels),
als Beeinträchtigung der Hirnanhangdrüse und somit des gesamten Hormonsystems
sowie als Schaffung eines hirnlokalen Psychosyndroms (Lehmann 1986, S. 83ff.).
Damit übereinstimmend, wenn auch mit anderer Bewertung, spricht der Schweizer
Psychiater Walther-Büel die Tatsache aus, dass Neuroleptika keine harmlosen,
glücklich und froh machenden Glückspillen sind, sondern Substanzen,
die eine erhebliche Beeinträchtigung des Zentralnervensystems mit sich bringen:
»Die neuroplegisch (neuroleptisch, P.L.) wirkenden Substanzen
an sich erzeugen ein Zustandsbild (Schlafsucht, Apathie, Stumpfheit, später
eventuell Rastlosigkeit ...), das als hirnlokales Psychosyndrom bzw. in der Regel
als Stammhirnsyndrom anzusprechen ist ... Dass die Erzeugung eines solchen (neben
der Schockwirkung) einen praktisch-therapeutischen Nutzen haben kann, haben wir
durch die Erfahrung mit der Leukotomie (operative Durchtrennung der Stirnhirn-Thalamus-Nervenbahnen,
P.L.) gelernt ... Nicht zu Unrecht sprechen französische Autoren von einer
pharmakologischen Lobotomie.« (Walther-Büel 1955, S. 292f.)
Manche Psychiater ziehen hierfür den nicht minder treffenden
Ausdruck »Einsteifung« vor (Dreher 1982, S. 132). In
einem neueren Aufsatz fasst der Autor seine anhand psychiatrischer
Veröffentlichungen und Herstellerinformationen gemachten
Angaben zu den schädlichen Auswirkungen (Neben-Wirkungen)
der Neuroleptika zusammen: 90 % aller Behandelten leiden unter
atrophischen, d.h. eine Schrumpfung des Gehirns beinhaltenden
Zuständen; 90 % Bewegungsstörungen, häufig irreversibler
Art; 30 % Fieberanfälle; bis zu 100 % krankhafte EKG-Veränderungen;
50 % Zahnfleischentzündungen, oft mit Zahnausfall verbunden;
(bei fortdauernder Behandlung) 80 % Lebererkrankungen; 40 % Diabetes;
43 % Fettleibigkeit; Sterilität, Ausbleiben der Menstruation,
Impotenz; Farbstoffablagerungen im Auge und im Herzmuskel; signifikant
erhöhte Zahl von Chromosomenbrüchen und -rissen, die
zu Mutationen führen; seelische Abstumpfung (»Zombie-Effekt«),
Willenlosigkeit, Verzweiflungszustände mit Selbstmordgefahr,
Verwirrtheit und Delir; Geschwulstbildungen in der Brust und Krebs.
Alle bekanntgewordenen Neuroleptika-Schäden incl. tödlicher
Komplikationen traten bei allen, auch den sogenannten schwachpotenten
Neuroleptika auf, auch schon nach kurzer Dauer, auch bei geringer
Dosis (Lehmann 1988a). Nach Berechnungen des englischen Psychologen
David Hill litten 1985 weltweit bereits 38,5 Millionen Menschen
irreversibel an Neuroleptika-bedingter tardiver Dyskinesie, einer
veitstanzförmigen, nicht behandelbaren Muskelstörung
(Hill 1985; Lehmann / Hill 1989). Nicht zuletzt der Berliner Psychiater
Helmchen warnt in einer internen Diskussion unter PsychiaterInnen
vor der gefährlichen Illusion, es gebe einen prinzipiellen
Unterschied zwischen gefährlichen und ungefährlichen
Verabreichungsmengen, wenn er folgenden lebensbedrohlichen Erstickungsanfall
beschreibt:
»In der Berliner Klinik trat bei einem Staatsexamenskandidaten
in der Prüfungssituation ein Zungenschlundsyndrom auf. Nach
genauem Befragen war herauszufinden, dass der Betreffende eine
Tablette Tonoquil (Misch-Psychopharmakon, das u.a. das Neuroleptikum
Thiopropazat enthält, P.L.) eingenommen hatte; hier scheint
die These, dass Minidosen völlig unschädlich seien,
doch widerlegt.« (Helmchen 1983, S. 187)
Verniedlichend wie Atomkraftwerk-BefürworterInnen
bemühen auch Psychiater anlässlich der von ihnen und ihren Neuroleptika
ausgehenden Gefahr das »noch nicht voll vermeidbare Restrisiko« (Tremblau
1982, S. 257). In den letzten Jahren werden nun vermehrt Stimmen von SozialwissenschaftlerInnen,
MedizinerInnen und PsychiaterInnen laut, die 1. die nonchalante Haltung ihrer
KollegInnen zu den unübersehbaren Schäden der Neuroleptika kritisieren
(Breggin 1984; Rufer 1988a; Rufer 1988b), 2. die Therapiefähigkeit unter
der Neuroleptika-bedingten emotionalen Vereisung (Stöckle 1983a; Martensson
1987) sowie 3. die Behauptung der frühzeitigeren Anstaltsentlassung aufgrund
der Neuroleptika-Behandlung (Scull 1980) als Mythos enthüllen, 4. die Überlegenheit
von Placebos über Neuroleptika hinsichtlich Rückfallvermeidung aufzeigen
(Perry 1977) sowie 5. ein Unterlassen der Zwangsbehandlung mit Neuroleptika (Benedetti
1988), ja gar 6. das Verbot der Neuroleptika-Anwendung überhaupt fordern
(vgl. Dukes 1986). Beim Jubiläumssymposium »10 Jahre Sozialpsychiatrische
Universitätsklinik« in Bern im September 1988 wies der Autor auf folgenden
Zynismus hin (Lehmann 1988b): Auf der einen Seite wird von Amnesty International
die Neuroleptika-Behandlung von DissidentInnen in totalitären Staaten als
Folter angeprangert; im veterinärmedizinischen Bereich finden Neuroleptika
ihren Einsatz zur Ruhigstellung aggressiver Schweine und Ziegen oder widersetzlicher
und unleidlicher Zootiere etwa beim Beschlagen, Scheren oder bei Ausstellungen
und zur Ausschaltung natürlicher Abwehrbewegungen bei diagnostischen und
therapeutischen Eingriffen an Pferden, Rindern und Hunden (Petrausch 1987). Auf
der anderen Seite werden in westlichen Anstalten, sozialpsychiatrischen Einrichtungen
und Altenheimen Menschen routinemäßig mit denselben Mitteln therapeutisch
behandelt. Es soll noch einmal betont sein, dass alle Wirkungen und Schäden
prinzipiell dosisunabhängig und auch schon nach kurzer Anwendungszeit unter
sämtlichen Neuroleptika auftreten können; eine Tatsache, die selbst
aus den etwas ehrlicheren amerikanischen Hersteller-Anzeigen zu entnehmen ist
(McNeil Pharmaceutical 1988). Zuletzt soll nicht unerwähnt bleiben, dass
die Neuroleptika den Behandelten eine bleibende Nervenerkrankung einbringen kann,
die sie erst richtig verrückt macht: Wie die Laborversuche der Forschergruppe
um Mackay vom Argyll and Bute Hospital in Lochgilphead (Argyll, Schottland) herausfand,
können Neuroleptika zu einer spezifischen Veränderung des Nervensystems
führen, nämlich zu einer unnatürlichen Erhöhung der Zahl der
Rezeptoren, d.h. der Empfangsstellen für die Nervenimpuls-Überträgerstoffe
an den Nervenspalten (Mackay u.a. 1982). Der schwedische Arzt Lars Martensson
setzt deshalb die Neuroleptika-Behandlung mit dem Einbau künstlich psychotisch
machender Substanzen gleich (Martensson 1987). Wir sehen, der erste Schritt zur
Lösung der Psychiatrie-Frage kann nicht alleine in der Absicherung vor psychiatrischen
Rechtsverstößen liegen, sondern vor allem in der Absicherung vor normaler
psychiatrischer Behandlung. 3. Reform-Irrwege
Verkleinerung von Anstalten gilt manchen wohlmeinenden Menschen als Mittel zur
Lösung der Psychiatrie-Frage. Italienische PsychiaterInnen verlagern gar
die Behandlung mit Neuroleptika bis hin in die Wohnungen (Lehmann 1986, S. 361f.),
ohne allerdings das Prinzip der Behandlung, die Anwendung von Neuroleptika, zu
verändern; im Gegenteil: Zumeist werden die befreiten PatientInnen gemeindenah
mit Langzeitpräparaten weiterbehandelt, wie der italienische Psychiater Benedetto
Valdesalici auf einer Tagung in Berlin berichtete (Valdesalici 1984). Bei einem
Besuch in Triest 1988, wo der Initiator der demokratischen Psychiatrie, Franco
Basaglia, wirkte, machte sich der Autor selbst ein Bild von der Situation und
fand Berichte der Schweizer Psychiaterin Ernst bestätigt, wonach die KlientInnen
der neuen gemeindenahen psychiatrischen Ambulatorien massiv mit Neuroleptika behandelt
werden (Ernst 1981). Der Psychiater Beine teilt gar mit, »dass
er nirgendwo gesehen habe, wie so sehr mit Haldol geaast würde
wie in Triest.« (Böttjer 1989, S. 9) 1986 veröffentlichte
das Psychiater-Ehepaar Ernst identische Beobachtungen in der wohlhabenden italienischen
Provinz Lombardei, wonach sich die Situation der Psychiatrie (die Art der Psychopharmaka-Behandlung,
die Dosierung und die hohe Wiedereinweisungsrate) in den neuen Ambulatorien nicht
unterscheidet von der Situation in der Schweiz mit einer Ausnahme:
»In einer Hinsicht sind die lombardischen Ambulatorien
aktiver als die schweizerischen: sie führen in weit höherem
Maß Hausbesuche durch. 1984 wurde in der Lombardei ein Viertel
der Behandelten zuhause aufgesucht, der einzelne Kranke im Mittel
neunmal. Vor allem Schwestern und Pfleger gehen in die Familien
der Patienten. Dabei handelt es sich am häufigsten um jüngere
chronische Schizophrene, welche mit einem Depotneuroleptikum behandelt
werden. Die Hausbesuche sichern eine kontinuierliche Medikation
...« (Ernst / Ernst 1986).
Wenn nun die demokratischen PsychiaterInnen Italiens, allen
voran der Pharmakologe Tognoni, ihr Fachwissen bis nach Nicaragua exportieren,
so dürfte von vornherein feststehen, was dabei herauskommt: Neuroleptika
in Gesundheitszentren, Neuroleptika in Tagesspitälern und Neuroleptika im
Wohnbereich (»Psychiatrie in Nicaragua« 1987). Mögliche revolutionäre
Änderungen nach dem Sturz des Somoza-Regimes werden im Psychiatrie-Bereich
auf diese Weise schnell der in Italien üblichen Depot-Neuroleptika-Behandlung
Platz machen, und wenn nichts Entscheidendes geschieht, wird man darauf warten
können, dass auch Nicaragua bald zu den Ländern der Dritten Welt gehört,
in denen bereits jetzt Hebammen Neuroleptika wie z.B. Thioridazin (Melleril, Sanabo,
Sonapax) gegen Kleinkinder einsetzen: bei psychischen Störungen wie Nervosität,
Unruhe, Gereiztheit, Verhaltensstörungen sowie emotionalem Ungleichgewicht
(»Kinder-Erziehung« 1988).
Andere Sektorisierungen der Psychiatrie wie z.B. das Modell Wien
haben ähnliche Erfolge: Der Hauptzweck dieser Reform ist
die nahezu 100 %ige Sicherstellung der Neuroleptika-Weiterbehandlung
nach der Anstaltsentlassung, was durch gutorganisierte Registrierung,
Beeinflussung und Hausbesuche auch gelingt (siehe Lehmann 1986,
S. 318f., 346). Psychiatrische Hausbesuche sind auch das Konzept
der Hannoveraner Reformbemühungen, und jüngste Veröffentlichungen
zeigen, dass 87,6 % der Hausbesuche nicht auf Veranlassung der
Betroffenen, sondern gegen deren Willen und oft genug auf Initiative
von Nachbarn, Polizei, Sozialamt, Vermieter, Hauswart und anderen
gerade in psychischen Ausnahmezuständen angsteinflößenden
Instanzen der Obrigkeit zustande kommen (Stoffels 1988). Eine
neuere Untersuchung über den Einfluss zahlenmäßig
ansteigender sozialpsychiatrischer Einrichtungen legt 1986 der
Bremer Psychiater und Soziologe Bruns vor, der für die drei
Musterbezirke Stadt Bremen, Land Hamburg und Landkreis Osterholz-Scharmbeck
folgenden alarmierenden Zusammenhang nachweist:
»Das unterschiedliche Niveau und
der Anstieg der ZE-raten (Zwangseinweisungs-Raten, P.L.) in den drei Regionen
korrelieren (bedingen sich einander wechselseitig, P.L.) gleichsinnig mit der
ambulanten psychiatrischen Versorgungsdichte.« (Bruns 1986, S. 121) Entwickelte
ambulante Maßnahmen, die verbesserte ambulante psychiatrische Versorgung,
die erhöhte Anzahl sozialpsychiatrischer Beratungs-Stellen und die angewachsene
Anzahl niedergelassener PsychiaterInnen führen allesamt zu einer höheren
Zwangseinweisungsrate. Durch eine zu geringe personelle Ausstattung Sozialpsychiatrischer
Dienste bestehe (für ihn und für seine nach Tätigkeit drängende
Kollegenschaft) die Gefahr, dass sich zwangseinweisungsbedürftge Zustände
innerhalb weniger Stunden entschärfen, ohne dass die BürgerInnen psychiatrisch
beobachtet, erfasst und behandelt werden. Verlagerung von Behandlung
in gemeindenahe Einrichtungen wie sogenannte Therapeutische Wohngemeinschaften
oder Übergangswohnheime sowie Gründung sogenannter Selbsthilfefirmen
sind andere vorgegebene Versuche zur Lösung der Psychiatrie-Frage. Internes
aus dem Modell »Auflösung der Bremer Anstalt Kloster Blankenburg«
geht aus einem jüngst veröffentlichten Interview mit einem Betreuer
einer Wohngemeinschaft hervor, in die ehemalige AnstaltsinsassInnen umgelagert
werden. Auf die Frage, wie er auf Absetz-Wünsche der BewohnerInnen reagiert,
antwortet Mitarbeiter Josef, dass wie in der Anstalt einmal mehr
der Wille der Betroffenen nicht entscheidend ist: »Wir
mussten überhaupt erst einmal herausfinden, was bei den einzelnen genau
anliegt. Da haben wir dann manchmal noch mehr abgesetzt, aber manchmal, wenn wir
gesehen haben, der ist zu depressiv, dem geht es so schlecht, wir können
das eigentlich nicht verantworten, haben wir uns auch entschieden, dem wieder
etwas mehr zu geben.« (Crone u.a. 1988, S. 74) Enthüllende
Einblicke über die Situation von Übergangs-Wohnheimen gibt Tanja Cierpka,
nachdem sie nach einem Selbstmordversuch unter Einfluss des Neuroleptikums
Flupentixol (Fluanxol) den Glauben an psychiatrisch-psychopharmakologische Hilfeleistung
verloren hat; sie schreibt über ihre gemeindepsychiatrischen Wahrnehmungen:
»Die Eindrücke, die ich in dieser Zeit gesammelt habe, verdichten
sich zu einem schaurigen Bild. Da gibt es Menschen, die man nur still auf einem
Stuhl sitzen sieht, und die über den ganzen Tag einen Haufen Zigarettenkippen
vor sich auftürmen und ansonsten keine Lebensregung zeigen. Auf Nachfrage
habe ich erfahren, dass diese Leute seit Jahren Neuroleptika verabreicht bekommen
und Dauerinsassen in der Psychiatrie sind. Oder der junge Mann, den ich in einem
der Wohnheime kennengelernt habe. Der saß den ganzen Tag in einem verdunkelten
Zimmer, seit Jahren, ohne auf die Straße zu gehen. Sicher, diese Leute sind
unauffällig und sie sind bequem zu betreuen.« (Cierpka 1988)
Um die vielen unter Langzeitpräparaten stehenden Neuroleptika-Betroffenen
von der Straße zu holen, unter Aufsicht zu bekommen und
an (ihrer Neuroleptika-bedingten Behinderung angemessenen) Arbeitsplätzen
halten zu können, erfanden SozialpsychiaterInnen das Konzept
der Selbsthilfefirmen: Unter Kontrolle ansonsten arbeitsloser,
von Skrupeln nicht behinderter AkademikerInnen machen sogenannte
Langzeitkranke einfache, niedere Arbeiten bei geringer Entlohnung
(Lehmann 1986, S. 367). Auch die Wiener PsychiaterInnen mit ihrem
Bestand an gemeindepsychiatrisch zwischengelagerten Menschenmaterial
denken nicht daran, auf deren ganzheitliche Verwertung zu verzichten,
nachdem die Körper der Betroffenen schon als lebendiger Absatzmarkt
für die Ware Neuroleptikum und zur Schaffung von Arbeitsplätzen
für psychiatrisch Tätige dienen müssen. So dürfen
sie, die Betroffenen des Wiener Modells, beispielsweise in der
Tagesklinik Karl-Wrba-Hof gemeinsam Kugelschreiber montieren,
und zwar orangefarbene, wie in einem Bericht in der bundesdeutschen
Zeit extra vermerkt wird, offenbar um die eminent
große Lebensfreude zu demonstrieren, die in dieser Institution
vermittelt wird (»Guss« 1985). Stolz weist der Psychiater
Rudas auf einen Anstieg der Zahl der extramural, d.h. in den Wohngebieten
der Menschen aktiven PsychiaterInnen hin: Gab es hier in Wien
1979 nur 150 NervenärztInnen, so stieg deren Inzidenz (Vorkommen)
bis 1985 bereits auf 203 (Rudas 1986). Die betreuten PatientInnen
werden, wie im Wiener Psychiatriebericht bestätigt, nicht
aus der Kontrolle entlassen:
»Patienten werden in Abständen immer wieder
im Spital aufgenommen und dort behandelt, die Medikation überprüft und
eventuell abgeändert und die Patienten wieder entlassen.« (»Wiener
Psychiatriebericht« 1988) Welche Gefahr in dem Wiener Modell
totaler Psychiatrisierung der Gesellschaft verborgen ist, lässt sich
daran ermessen, dass sogar schon (sich alternativ verstehende) Gruppierungen,
wie etwa die GAL (Grün-Alternative Liste) Hamburg, nach einem Import des
Wiener Modells rufen (Lehmann 1986, S. 365ff.). Wer mehr über die Ausbeutung
von Psychiatrie-Betroffenen in den sogenannten Arbeits-Therapien nachlesen will,
dem/der sei die Lektüre des hervorragenden Artikels »Ob Anstalt oder
Wissenschaft Die Psychiatrie gehört abgeschafft« empfohlen; hier
wird diese Therapie-Form, das derzeitige Steckenpferd des eminent fortschrittlichen
Dörner, einer kritischen Analyse unterzogen (»Anstalt« 1988). Ein
anderer, nicht minder fortschrittlicher Psychiater, Wulff (wie Dörner Elektroschock-
und Zwangsbehandlungs-Befürworter), gilt vielen sich als alternativ, progressiv,
links und gar revolutionär gebenden psychiatrisch Tätigen ebenfalls
als Leitfigur und Vordenker, speziell in seinem Bemühen, Psychiatrie-kritische
Tendenzen der neueren deutschen Antipsychiatrie-Bewegung im Keim zu ersticken
(Wulff 1986). Diese Haltung wird auch von den Pharma-Multis anerkannt; so machte
jüngst die in Zürich erscheinende Zeitschrift Banal öffentlich,
von welchen Bewunderern das vom Berliner Argument-Verlag herausgegebene Jubelheft
(Festschrift) zu Wulffens 60. Geburtstag finanziert wurde: den Firmen
Deladande Arzneimittel GmbH, Hoffmann-La Roche, Knoll AG, Sandoz AG, und Ciba-Geigy
(»Himbeersaft« 1988). Dem ist wohl nichts hinzuzufügen. Wie
schon aus anderen Berichten über das oben erwähnte Hannoveraner Modell
des psychiatrischen Krisendienstes bekannt (Lehmann 1986, S. 358), sind ambulante
Psychiatrie und ambulante Neuroleptika-Verabreichung nicht zu trennen. Die fortschrittliche
Psychiaterin Blümel aus Berlin-Kreuzberg mit seinem hohen Anteil sozial benachteiligter
Menschen beschäftigt in ihrer Praxis im Rahmen des Modellprogramms Psychiatrie
der Bundesregierung gar einen Sozialarbeiter, um über soziale Hilfeleistungen
zur Anwendung psychiatrischer Mittel zu gelangen; über ihre eigentlichen
Absichten informiert sie in einem psychiatrischen Fach-Buch, in dem sie schreibt:
»Das Hauptproblem, das sich nun stellt, besteht darin, den Patienten
zu einer hinreichenden medikamentösen Compliance (Unterwerfung, P.L.) und
zu einer kontinuierlichen Kooperation mit der Praxis zu bewegen.« (Blümel
1985, S. 123)
Was den mobilen psychiatrischen Krisendienst betrifft, so haben
vor allem die (oben bereits mitangesprochenen) Hamburger Erfahrungen
gezeigt, dass ein mobiler psychiatrischer Krisendienst einhergeht
mit einem Ansteigen der Unterbringungszahlen. Die Schwelle zur
Psychiatrisierung sinkt. Bedenken wir, dass im Ausland bereits
Gesetze diskutiert werden, die eine ambulante Zwangsbehandlung
erlauben wie derzeit in Großbritannien der Fall (Gliniecki
1988) so sollten es ehrlich an den Interessen von Betroffenen
orientierte Menschen unterlassen, eine Ausweitung der Psychiatrie,
Stellenvermehrung und Schaffung von gar möglicherweise
mit Zwangscharakter ausgestatteten Krisenapparaten zu fordern.
Geradezu unmoralisch ist das Vorgehen vieler PsychiaterInnen zu
nennen, die auf die Kritik an der deutlich gegen die Interessen
der Betroffenen ausgerichteten psychiatrischen Behandlung mit
der Forderung nach noch mehr Stellen kontern; Neuroleptika würden
nur aus Gründen eines Pflegenotstandes eingesetzt, um Untergebrachte
zu dämpfen und auf überfüllten Stationen halten
zu können (»Ärzte« 1987; Reimer 1987). Dass
auf der anderen Seite in allen psychiatrischen Fach-Zeitschriften
Neuroleptika als angemessene Mittel der ersten Wahl bei psychischen
Ausnahmezuständen (Störungen), als segensreiche Medikamente,
als Erweiterung des Arzneimittelschatzes hochgelobt werden, dass
es oft genug dieselben PsychiaterInnen in Person sind wie z. B.
Reimer aus Weinsberg, die in der normalen Presse den Einsatz biologischer
Methoden verbal kritisieren und intern, den Verbandszeitschriften,
gar den verstärkten Vollzug von Insulin-Schocks fordern,
stört offenbar niemanden. Aus eigener Beratungstätigkeit
in einem Berliner (senatsgeförderten) Selbsthilfeprojekt,
die auch die Beratung frustrierter psychiatrisch Tätiger
einschließt, kennt der Autor zur Genüge Fälle,
in denen gutwillige psychiatrisch Tätige zum Teil mit disziplinarischen
Maßnahmen an ihren Versuchen gehindert wurden, auf einer
menschlichen Ebene d.h. mit Gesprächsangeboten
Kontakt zu den Behandelten aufzunehmen. Außerdem benötigen
die WärterInnen Psychiatrischer Anstalten schon zum gegenwärtigen
Zeitpunkt in der Regel pro Schicht nur zwei Stunden zur Verteilung
der Neuroleptika; die restliche Zeit sitzen sie kaffeetrinkend
und miteinander schwatzend in ihren Stuben und Wachkabinen (Fexer
1989).
Was von Bemühungen der Angehörigen-Gruppen zu halten
ist, die Situation für Psychiatrie-Betroffene zu verbessern, geht beispielhaft
auf dem Jahresbericht 1986/87 einer schweizerischen Vereinigung von Angehörigen
von Schizophreniekranken hervor; wenn sie wörtlich schreiben: »Wir
freuen uns, dass uns 4 Kollektivmitglieder (Firma Wander AG, Hilfsverein für
Psychischkranke, psychiatrische Klinik Waldau, Firma Janssen, Baar) und 15 Gönner
und Spende die Treue halten« (VASK 1987, S. 1),
dann braucht sich niemand mehr zu wundern, weshalb die organisierten
Angehörigen den von ihren gönnerhaften Pharmamultis
hergestellten Neuroleptika bisher so kritiklos gegenüberstehen.
Auch das Warten auf eine junge, kritische PsychiaterInnen-Generation
scheint wenig von Erfolg gekrönt zu sein. Wie der Münchner
Rudolf Winzen in einer beachtenswerten Studie nachweist, ist die
Inzidenz (das Vorkommen) von VertrteterInnen der sogenannten Biologischen
Psychiatrie, d.h. der reaktionären Psychiatrie, in den modernen
Universitäts-Anstalten, in denen der Nachwuchs der Psychiatrie
ausgebildet wird, weitaus höher als in den großen,
alten Anstalten (Winzen 1987). Auch die mancherorts noch als fortschrittlich
geltenden SozialpsychiaterInnen, die den AnstaltspsychiaterInnen
zuarbeiten bzw. die Weiterbehandlung nach der Anstaltsentlassung
sicherstellen, können schwerlich als Hoffnungsträger
für eine bessere Zukunft von Psychiatrie-Betroffenen angesehen
werden. So trägt einer der Führer der Deutschen Gesellschaft
für Sozialpsychiatrie (DGSP), Pörksen, im Mitglieder-Rundbrief
der DGSP vom April 1983 sinngemäß vor, dass es hauptsächlich
kosmetische Reparaturen seien, die die Psychiatrie menschenwürdig
machten was er möglicherweise sogar selbst glaubt:
»Vieles, was in der Psychiatrie-Enquête noch als menschenunwürdige
Zustände bezeichnet wurde, änderte sich nach und nach. Bauprogramme
und Renovierungsprogramme sorgten dafür, dass betonierte Krankenabteilungen
im Krankenhausstil auf dem noch freien Parkgelände gebaut wurden und alte
Bausubstanz erneuert wurde.« (zitiert nach Lehmann 1986, S. 38) Eine
Ausweitung von Finanzmitteln für eine Psychiatrie, die sich im Wesen (Zwangscharakter,
elektro- und chemotechnische Behandlung statt Verständnis, Geduld und Mitmenschlichkeit)
nicht ändern will, muss als kontraindiziert angesehen werden (Stöckle
/ Lehmann 1985). Thomas S. Szasz, selbst Psychiater, bringt die Kritik an der
Reformpsychiatrie auf den Punkt:
»Ich bin sehr pessimistisch. Ich bin nicht völlig
dagegen, denn verglichen mit der Anstalt, die ein Gefängnis,
ein Zuchthaus, ein KZ ist, ist es schon etwas netter, die Leute
herauszulassen. Aber es ist nicht viel netter, wenn der Gefängniswärter
nachkommt. Ich würde es vergleichen mit einem Gefangenen
hinter Gittern und einem, der Bewährung hat. Das Schlimmste
an der Gemeinde-Psychiatrie bezogen auf Amerika, wo ich
mich sehr gut auskenne ist, dass sie alle Charakteristika
der Psychiatrie wieder aufgreift, wie sie seit Menschengedenken
bestehen.« (Szasz 1980, S. 1438)
4. Lösung der Psychiatrie-FrageGerade
bei einer Reformdiskussion gibt es viele Gelegenheiten, ernsthaft an einer Verbesserung
der Situation (akut und eventueller zukünftiger) Psychiatrie-Betroffener
zu arbeiten. Verbesserung der Rechtsstellung, Aufklärung über Gefahren
moderner psychiatrischer Behandlungsmaßnahmen, Unterstützung individueller
sozialer Rehabilitationsmaßnahmen sowie finanzielle Förderung Psychiatrie-unabhängiger
Selbsthilfe- und Therapie-Projekte bei schrittweiser Reduzierung von Finanzmittel
von auf psychopharmakologischer und Elektro- und sonstiger Schock-Basis arbeitender
Anstalts- und gemeindenaher Psychiatrie sind hierbei die Schlüsselbegriffe
zu einer Humanisierung der Lage von Psychiatrie-Betroffenen und somit zur Lösung
der Psychiatrie-Frage.
Die Verbesserung der Rechtsstellung darf die Anerkennung von
Menschenrechten (Selbstbestimmungsrecht, Recht auf körperliche
Unversehrtheit) nicht von psychiatrischen Diagnosen abhängig
machen. Gelten Menschenrechte als unteilbar, so sind sie auch
Psychiatrie-Betroffenen ohne Einschränkung zu gewähren,
die von Sachwalterschafts-, Betreuungs-, Pflegschafts- und Vormundschafts-
und sonstigen Gesetzen tangiert werden (Lehmann 1988d). Die Verbesserung
der Rechtsstellung schließt ein, dass die Gültigkeit
von Vorausverfügungen wie dem Patiententestament oder dem
neu entwickelten Psychiatrischen Testament (Szasz / Rolshoven
1987) sowie das Recht auf Einsicht in die (die eigene Person betreffenden)
psychiatrischen Akten (Lehmann 1988c) ausdrücklich anerkannt
werden und zwar als Rechtsgüter, die unabhängig
von medizinischen Theorien und psychiatrischen Glaubensrichtungen
bestehen. Grundsätzlich dürfen psychiatrisch Untergebrachte
rechtlich nicht mehr schlechter gestellt sein als StraftäterInnen
gleichgültig auf welcher Rechtsgrundlage die Unterbringung
erfolgt. Entsprechend der strafrechtlichen Unschuldsvermutung
könnte eine Gesundheitsvermutung einen Beitrag zur Einführung
bzw. Festigung eines Rechtsschutzes für psychiatrisch Untergebrachte
leisten. Ebenso sollte es eine Selbstverständlichkeit sein,
vor der richterlichen Feststellung über die Berechtigung
einer psychiatrischen Unterbringung die Behandlung mit den gefährlichen
und persönlichkeitsverändernden neurotoxischen Psychodrogen
zu unterlassen; ein juristisches Verbot muss Grundlage dieses
überfälligen Rechtsschutzes werden. Gefährliche
Behandlungsmaßnahmen wie Neuroleptika sowie Schockanwendungen
von der Art des Elektroschocks dürfen auf keinen Fall gegen
den Willen der Betroffenen vollzogen werden, stehen sie unter
Pflegschaft oder nicht (Mazenauer 1986, 1987). Wenn sich selbst
der Weltverband für Psychiatrie, dem die Deutsche Gesellschaft
für Psychiatrie und Nervenheilkunde angeschlossen ist, in
der Deklaration von Hawaii gegen eine Zwangsbehandlung von Personen
ausgesprochen hat, solange sie noch zu klaren Willensäußerungen
(und somit zur Ablehnung, P.L.) fähig sind (Weltverband für
Psychiatrie 1977, 1986), so sollte diese einschränkende Haltung
zur Zwangsbehandlung bei Gesetzesreformen nicht unberücksichtigt
bleiben. Es geht nicht an, bei gleicher psychischer Verfassung
der Behandlungs-KandidatInnen deren Zustimmung zu psychiatrischen
Anwendungen als wirksam zu begrüßen, jedoch die entsprechende
Ablehnung als psychotisch bedingt zu ignorieren. Wem es nun darum
geht, die Zwangsbehandlung zu verhindern, könnte angesichts
der beschriebenen psychiatrischen Bedrohung möglicherweise
eher pragmatisch als an Maximalforderungen ausgerichtet vorgehen.
Denkbar ist a) der Aufbau zu überspringender Verwaltungshürden
wie z.B. einzuholende Gremien-Entscheide wie in Alabama/U.S. A.
für den Fall des gegen den Willen vollzogenen Elektroschocks
(Ernst 1982), b) der Nachweis spezieller Vorausverfügungen
(gemacht im Zustand der Normalität), wie sie beispielsweise
in einem Gesetzentwurf der Alternativen Liste Berlin vorgesehen
sind (Schulz u.a. 1984) oder c) das vollständige Verbot der
Behandlung gegen den Willen.
Der ärztliche Behandlungsgrundsatz: Nil noscere! (Nicht
schaden!) muss wieder Gültigkeit erlangen. Neuroleptika-
und Elektroschock-Schäden dürfen nicht weiterhin vertuscht,
sondern müssen in den Mittelpunkt der Diskussion gestellt
werden. Möglicherweise ist der Einsatz von Neuroleptika aufgrund
ihrer sozialschädlichen und für den Körper verheerenden
Wirkung nur noch zu neuroleptanalgetischen Zwecken akzeptabel:
im Rahmen von schmerzbetäubenden und stoffwechselverlangsamenden
Maßnahmen bei Operationen; möglicherweise ist dies
auch der einzig akzeptable Einsatzbereich im tiermedizinischen
Bereich.
Gesetzliche Regelungen finden nicht im luftleeren Raum statt,
sondern haben im Regelfall den Einsatz von Neuroleptika und Elektroschocks
zur Folge, soweit die Behandlungsmaßnahmen im Bereich der
Psychiatrie stattfinden. Als ExpertInnen auf dem Gebiet der Aufklärung
über Schäden psychiatrischer Behandlung sind, was die
Erfahrung lehrt, vornehmlich Betroffene anzusehen, wenn auch zunehmend
wie ausgeführt Kritik aus den eigenen Reihen
der BehandlerInnen erfolgt. Dass es auch Psychiatrie-Betroffene
geben mag, die bei sich die Anwendung bestimmter psychiatrischer
Maßnahmen gutheißen, darf nicht davon abhalten, die
Position der Betroffenen insgesamt zu stärken; die Rechte
Behandlungswilliger sind ausreichend abgedeckt. Sofern es bereits
zur Selbstorganisation von Betroffenen juristischer, medizinischer
und psychiatrischer Eingriffe (Graue Panther, Irren-Offensive
e.V.) gekommen ist, muss diesen wertvollen, wenn auch sicher
(und hoffentlich) unbequemen Organisationen Gelegenheit gegeben
werden, bei Weiterbildungsmaßnahmen aller Art aktiv und
gestaltend mitzuwirken; nur so kann Verständnis für
die Probleme, Wünsche und Nöte von Betroffenen entstehen
(Lehmann u.a. 1987).
Dass
die Forderung nach noch mehr Geld, noch mehr Psychiatrisierung mit Reform im Sinne
von Verbesserung der Situation von Psychiatrie-Betroffenen nichts gemein hat,
geht aus allem hervor, was bisher gesagt wurde. Höhere Finanzmittel für
dieselbe unzureichende, ja schädliche psychopharmakologisch-biologisch orientierte
Psychiatrie bedeuten steigenden Finanzbedarf, vermehrte körperliche und soziale
Folgeschäden. Höhere Finanzmittel für die Psychiatrie bedeuten
auch Vorenthaltung finanzieller Mittel für sinnvolle alternative, innovative,
echte Reformmodelle und verstellen geradezu den Blick auf deren notwendige Förderung
(Lehmann 1986, S. 387ff.) Mit der stufenweisen Reduzierung von Finanzmitteln kann
der überfällige Ausstieg aus der psychopharmakologisch-biologisch orientierten
Psychiatrie begonnen werden. Die freiwerdenden Gelder werden dabei benötigt,
um einerseits den freikommenden AnstaltsinsassInnen befriedigende Lebensverhältnisse
(Wohnraum ohne therapeutischen Zwang, Arbeitsmöglichkeiten in selbstverwalteten
Kooperativen, Starthilfe und Schmerzensgeld für die erlittene Behandlung,
Entgiftungs- und Kurmaßnahmen) zu finanzieren, sowie andererseits unter
Kontrolle von Betroffenen und deren Vertrauenspersonen stehenden Institutionen
mit echter menschlicher Hilfeleistung zu schaffen; Weglaufhäuser, Krisenwohnraum,
Kommunikationszentren mit therapeutischen Angeboten, ohne Registration und ohne
Zwangsmaßnahmen; kurzum Institutionen der Unterstützung, in die Menschen
nicht mit Polizeigewalt hingeschleppt zu werden brauchen, sondern zu denen sie
auch in aufgewühlten oder verwirrten Zuständen vertrauensvoll und angstfrei
hingehen können. Mögen diese Forderungen nach einem Recht auf Psychopharmaka-freie
Hilfe und nach Schaffung und Finanzierung der entsprechenden Einrichtungen auf
den ersten Blick utopisch erscheinen: Möchten Sie als ausgerasteter oder
depressiver oder vielleicht später als alter, wehrloser, unbequemer Mensch
keine andere Wahl haben, als mit Elektroschocks oder Neuroleptika behandelt zu
werden? 5. Was tun ? Dass es ratsam ist, nicht auf Initiativen
von oben zu warten, sondern schon heute eine Gegenmacht zur Psychiatrie aufzubauen,
zeigen die mannigfachen, über viele Länder verstreuten mehr oder weniger
antipsychiatrischen Selbsthilfe-Organisationen. Über selbstverwaltete Initiativen
und Kommunikationszentren hat die Amerikanerin Judi Chamberlin mit ihrem »On
Our Own. Patient-Controlled Alternatives to the Mental Health System« einen
lesenswerten Bericht vorgelegt (Chamberlin 1979). Nicht minder spannend ist das
Buch »Die Irren-Offensive. Erfahrungen einer Selbsthilfe-Organisation von
Psychiatrieopfern« von Tina Stöckle, in dem sie anhand der Praxis einer
autonomen Selbsthilfe-Organisation von Psychiatrie-Überlebenden zeigt, worauf
es beim Zusammenschluss von Betroffenen ankommt: Kampf gegen die Psychiatrie
und für Menschenrechte; kollektive Auseinandersetzung mit den Lebensbedingungen;
Befreiung vom psychiatrischen Einfluss; Suche nach dem Sinn des Wahnsinns;
Autonomie und persönliche Entfaltung; kritische Auseinandersetzung mit den
ExpertInnen; Abbau jeglicher Machtverhältnisse innerhalb der Gruppe sowie
Widerstand gegen Fremdkontrolle (Stöckle 1983a). Ludger Bruckmann, neben
dem Autor dieses Beitrags noch aktives Gründungsmitglied der Irren-Offensive,
zeigt in einem neueren Artikel auf, welche Richtung sein Lebensweg nahm, nachdem
er sich von der psychiatrischen Versorgung abgewandt und der Selbstinitiative
und Selbsthilfe zugewandt hatte; »Sich Gutes antun« nennt er das Schlusskapitel
seiner Betrachtungen und meint (statt Psychopharmaka ob Alkohol oder Neuroleptika):
»Früh aufstehen, radfahren, jeden Tag schwimmen, das tun,
was Freude macht, malen, nähen usw. Schlimme Gedanken darfst Du haben, es
ist o.k.. Gib ihnen aber nicht große Bedeutung. Bleibe mit Deinen Gedanken
möglichst auf der Erde, in Deinem Leben, denn auch woanders kannst Du nicht
vor dem Leben davonlaufen. Auch wenns Dir ganz dreckig geht, gehe zu Menschen,
die Dich niemals ins Irrenhaus bringen ... Therapie bei Psychologen, die Psychodrogen
ablehnen, ist: Hilfe durch Reden, Hilfe von Menschen, Es ist so leichter, sich
über vieles bewusst zu werden.« Bruckmann am Ende
seiner Betrachtungen:
»Das Schlimme was passiert, ist: Ich
bin ein froher, lebensfähiger Mensch geworden, der sein Leben
immer mehr bereichert und der Dinge geschafft hat, die er noch
vor 10 Jahren nicht geglaubt hätte. Wir reißen dem
Psychiater den chemischen Knebel (damit meine ich die Spritze)
aus der Hand und übernehmen die Verantwortung für unser
Leben selbst.« (Bruckmann 1988)
Dass auch Profis, sogenannte ExpertInnen, einen Beitrag zur
Emanzipation von Psychiatrie-Betroffenen leisten können,
ist nicht auszuschließen sofern sie den Weg von der
»emotionalen Tyrannei« (Masson 1988) so der ehemalige
Psychoanalytiker Jeffrey M. Masson zu einer gleichberechtigten,
an den Interessen der Betroffenen orientierten Arbeit finden.
Ein Beispiel in diese Richtung stellt das kalifornische Projekt
Soteria dar, das weitgehend ohne Neuroleptika und unter der Hauptverantwortung,
Entscheidungsbefugnis und Autorität sogenannter LaiInnen
geführt wurde, d.h. von Nicht-PsychiaterInnen, (ehemaligen)
Betroffenen, SozialwissenschaftlerInnen und sonstigen BürgerInnen:
»Der Versuch, die Erfahrungen eines Psychotikers
zu verstehen und sie zu teilen, ohne sie gleich zu beurteilen,
zu etikettieren, in Frage zu stellen oder abzuwerten«, führte
allerdings zu derart guten Langzeit-Erfolgen, dass der sozialpsychiatrische
Geldgeber, das National Institute for Mental Health, das Projekt
liquidierte (Mosher / Menn 1985). Wie sich die Irren-Offensive
eine Zusammenarbeit mit Profis vorstellt, hat sie 1983 auf dem
Gesundheitstag in Hamburg ausgeführt: Profis müssen
vom hohen Ross ihres (eingebildeten) ExpertInnen-Daseins heruntersteigen;
den Wert der menschlichen Qualifikation (gegenüber der beruflichen)
erkennen lernen; akzeptieren, dass es Sache der Betroffenen ist
zu entscheiden, wer für sie arbeitet; die Selbstorganisation
der Betroffenen fördern und unterstützen; auf jegliche
Anwendung von Erpressung und Zwang verzichten; ständig die
jahrhundertealte Diffamierung der Ver-rückten als Entartete
oder als Psychisch-Kranke und Behinderte reflektieren, und sich
für die Abschaffung der Psychiatrie in jeder Form, speziell
der Gemeindepsychiatrie, entscheiden (Stöckle 1983b).
Erinnern
wir uns daran, was erstmals im Jahre 1971 das italienische Psychiater-Ehepaar
Franco Basaglia und Franca Basaglia-Ongaro in ihrem hervorragenden Aufsatz über
Befriedungsverbrechen schrieben, als sie die bereitwillige Mittäterschaft
von Intellektuellen bei psychiatrischer Präventivfolter anprangerten:
»Es ist grotesk und tragisch, dass Intellektuelle, indem sie
sich an die Institutionen der Macht anbinden, unter dem Schein der Hilfeleistung
die Opfer der Macht vollends entwaffnen: In der Pose des Samariters geben sie
ihnen den tödlichen Kuss.« (Basaglia / Basaglia-Ongaro 1975, S. 22).
Wen anders als die moderne fortschrittliche, demokratische, soziale
Psychiatrie mit ihren zerstörerischen Depot-Neuroleptika
würde Franco Basaglia heute als zeitgemäße Version
der tödlich küssenden SamariterInnen bloßstellen,
nach allem, was inzwischen über die tatsächliche Logik
der Reform-Psychiatrie bekannt ist?
Von allen Menschen, für die Menschenrechte nicht bloße
Worthülsen sind, erhoffe ich mir nicht nur, dass sie sich
abzeichnende Ansätze zur Selbstorganisierung der Psychiatrie-Überlebenden
(Lerch 1989) wohlwollend betrachten, sondern auch, dass sie nicht
länger sprach- und tatenlos zusehen, wie sich die totalitäre
und menschenfeindliche Sozialpsychiatrie seuchenartig ausbreitet.
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Copyright 1989 by Peter Lehmann, Berlin
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